Zum Start unseres Schwerpunktes „Politische Theorie und Politische Bildung“ plädiert Katharina Liesenberg dafür, das Verhältnis von Demokratie(theorie) und Bildung (wieder) enger zu denken. Um den Herausforderungen einer zeitgenössischen Erziehung zur Mündigkeit zu begegnen, erinnert sie an John Dewey.
Die Krisenhaftigkeit von Demokratie ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz des demokratietheoretischen Diskurses geworden. Weil die Ursachen dieser Krisen komplex sind, sind mögliche Lösungsvorschläge umstritten. Auffällig häufig ist es aber ein Mehr an politischer Bildung, auf das sich Politiker:innen, aber auch Politikwissenschaftler:innen, zur Rettung der Demokratie problemlos einigen können. Im Folgenden soll es daher kritisch um das Verhältnis von politischer Bildung und Demokratie(theorie) gehen. Mit John Dewey plädiere ich für eine stärkere Auseinandersetzung der Demokratietheorie mit bildungspolitischen Fragen sowie einer Orientierung beider Disziplinen an den konkreten Erfahrungen ihrer Adressat:innen.
„Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll“ ist notwendig auf mündige Menschen angewiesen, wie Adorno feststellte: „Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen“. Demokratie und Bildung verweisen also insofern aufeinander, hat politische Bildung doch die Aufgabe diese Mündigkeit zu fördern. Der Demokratietheorie kommt umgekehrt die Rolle zu, so die These dieses Beitrags, kritisch zu reflektieren, welche Maßstäbe für eine solche Bildung gelten und in welchem Verhältnis Herrschaftsaffirmation und -kritik stehen. Aktuell gelinge es der Demokratietheorie jedoch immer weniger, so beklagte beispielsweise Axel Honneth jüngst, relevante Beiträge zur Politischen Bildung zu leisten, sich mit „der angemessenen Organisation und Methode einer demokratischen Bildung“ zu befassen und diese normative Funktion zu erfüllen. Vergleichbare Argumente finden sich bei Paul Sörensen, der etwa auch der Theorieschule der Radikaldemokrat:innen eine „erziehungstheoretische Leerstelle“ attestiert. Als Gründe für diese Leerstelle lassen sich einerseits der Fokus auf das staatliche Neutralitätsgebot, andererseits auch die disziplinäre Internationalisierung und Spezialisierung anführen. Diese mangelnde Auseinandersetzung steht jedoch im Kontrast zur Hoffnung auf die Transformationskraft politischer Bildung, die nicht zuletzt im aktuellen Krisendiskurs über den Zustand westlicher Demokratien immer wieder beschworen wird. Um das Potenzial politischer Bildung zu nutzen, aber auch nicht zu überschätzen, ist eine eingehendere Beschäftigung mit den Herausforderungen und Chancen einer zeitgenössischen Erziehung zur Mündigkeit also dringend geboten. Den Anstoß hierzu könnte eine Rückbesinnung auf John Dewey leisten, wie ich im Folgenden zeigen werde.
Das Ideal einer lernenden Gesellschaft
Wie Dewey in Demokratie und Erziehung darlegt, begreift er die Schule als einen spezifischen, geschützten Ort des Lernens zur Vorbereitung auf die Gesellschaft. Keinesfalls aber sind Lernen und Erziehung nach Beendigung der Schule abgeschlossen, sondern bleiben „im weitesten Sinne das Werkzeug [der] sozialen Fortdauer des Lebens“. Gesellschaft ist also auch über die Schule hinaus permanent im Lernen begriffen und bedarf daher einer offenen, wandelbaren Struktur:
Man kann daher mit Recht sagen, daß irgendeine soziale Ordnung, wenn sie im wahren Sinne sozial bleibt, diejenigen bildet, die daran beteiligt sind. Nur wenn sie in fester Form, in Routine erstarrt, verliert sie ihre bildende Kraft. (ebd.: 21)
Die Qualität eines Lernprozesses ist für Dewey also abhängig von dem Umfeld, in dem sich Schüler:innen, ebenso wie Erwachsene, bilden können. Je demokratischer die Umgebung eines Menschen, desto vielfältiger die Möglichkeiten persönlichen Wachstums.
Doch wie gelingt ein solches Lernen? Zunächst müsse Lernen kontextgebunden und auf Basis konkreter Erfahrung stattfinden (Dewey LW9: 151). Zweitens müsse didaktisch berücksichtigt werden, dass jedes Individuum unterschiedliche Kapazitäten und Kompetenzen mitbringe und damit je unterschiedliche Angebote notwendig sind. Daran schließt an, dass Lernen nur erfolgreich sei, wenn ein genuines Interesse am Gegenstand vorhanden ist, sodass die Schüler:innen sich Mühe geben, die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen (ebd.). Dewey plädierte außerdem für eine heterogene Zusammensetzung von Schulklassen, um von Beginn an Perspektivwechsel und Austausch unterschiedlicher Erfahrungen sicherzustellen. Ziel ist es, experimentelles und problemlösungsorientiertes Denken beizubringen und mittels Erziehung Erfahrungen kritisch einordnen zu lernen, ohne dabei eine abschließende, festgelegte Vorstellung eines Sachverhalts zu entwickeln. „[Erziehung] ist diejenige Rekonstruktion und Reorganisation der Erfahrung, die die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit, den Lauf der folgenden Erfahrung zu leiten, vermehrt“ (Dewey 2011: 108).
Politische Bildung vom Begriff der Erfahrung beginnend zu denken, bedeutet also, einen direkten Zugang zur Lebenswelt von Schüler:innen sicherzustellen, Politik und soziale Situation zusammenzudenken und damit über die bloße Vermittlung von Wissensinhalten hinauszugehen. Erprobt hat Dewey das seinerzeit mit der Laboratory Schoolin Chicago. Aktuelle Anwendungsbeispiele wären etwa neben Goethe und Schiller im Deutschunterricht solche Formate zu besprechen, die die Schüler:innen tatsächlich in ihrem Alltag erleben, etwa Songtexte oder Beiträge aus den sozialen Medien. Und nicht nur die Inhalte, auch die Kompetenzen gelte es lebensnaher zu gestalten: In der Schulwoche muss Zeit dafür sein zu lernen, wie man eine Steuerklärung macht, wie digitale Medienkompetenz ausgebildet wird und wie man sich politisch beteiligen kann. Deweys Vorstellungen sind dabei nicht frei von Konfliktpotenzial: Heterogene Perspektiven und das Zusammentreffen unterschiedlicher Lebenswelten bedeuten auch eine Herausforderung des jeweils motivierenden Interesses der Schüler:innen – die Förderung je spezifischer Interessen steht also immer in einem Spannungsfeld zum gleichzeitigen Kennenlernen verschiedener Lebensrealitäten.
Eine lebensweltliche Orientierung habe nach Dewey auch für die Politische Theorie zu gelten: Hier empfahl er ebenfalls eine Orientierung an den problems of men (Dewey 1946), um sicherzustellen, dass Philosophie einen Beitrag zu den alltäglichen Sorgen und Herausforderungen der Menschen leistet. Dewey hat dabei etwa die passivierten Tätigkeiten von Industriearbeiter:innen im Kopf. Wenn solche monotonen Erfahrungen den Alltag dominieren, sei Wachstum an Erfahrungen unmöglich. Gleiches gelte für Erfahrungen von Unterdrückung etwa in der Familie oder in Kirchen und Vereinen. Dewey plädierte damit für nichts weniger als die Demokratisierung aller Lebensbereiche, um das Ideal einer lernenden Gesellschaft zu ermöglichen.
Gelingendes Wachstum unter der Bedingung relativer sozialer Gleichheit
Für die schulischen Curricula und die zeitgenössische philosophische Theorie und Praxis hat das weitreichende Folgen: Es geht nun weniger um die Reproduktion eines bestimmten Kanons oder vorab definierten Wissenskatalogs, sondern vielmehr um die Aneignung von Wissensbeständen, die für die jeweilige soziale Perspektive und die Herausbildung kritischen Denkens relevant sind. Zentral ist für Dewey, dass es praktische Erfahrungen und Probleme sind, die den Ausgangspunkt aller schulischen und philosophischen – ebenso wie jeder politischen – Tätigkeit bilden sollten. Historisch gewachsene gesellschaftliche Praktiken sowie individuelle und kollektive Gewohnheiten lassen sich dabei nicht vollständig und auf einmal überwinden. Sie dienen der Stabilisierung von Handlungsweisen, machen Kontingenz handhabbar und ermöglichen ein Leben in relativer Sicherheit. Daher es ist erforderlich, die konkreten Erfahrungen historisch zu situieren und in bestehenden gesellschaftlichen Praktiken zu kontextualisieren (Dewey 1995). Die Einbeziehung vieler, unterschiedlicher Erfahrungen soll daher gewährleisten, neue kollektive Praktiken möglichst inklusiv zu gestalten. Dass es bei einem solchen Austausch von Perspektiven aber auch zu Konflikten kommen kann, war Dewey bewusst und für ihn notwendiger Bestandteil gesellschaftlichen Lernens (Dewey 2019). Demokratie ist also nicht nur Ziel, sondern auch Methode eines inklusiven und zugleich konfliktiven Lernprozesses: „Democracy is itself an educational principle, an educational measure and policy.“ (Dewey LW13: 294)
Aus diesem Plädoyer folgt bei Dewey zugleich auch ein epistemisches Argument für den Abbau von Ungleichheit, weil nur auf dieser Basis Wachstum für alle gesichert werden könne. Zu starke Divergenzen zwischen sozialen Gruppen und Klassen führen zu mangelnder Verständigung, der Unfähigkeit die unterschiedlichen Erfahrungen nachvollziehen zu können und damit zu mangelndem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nicht nur muss Demokratie gelernt werden, auch Demokratie selbst befindet sich in einem ständigen Prozess des Lernens und der Weiterentwicklung. Strukturen, die für bestimmte Gruppen einschränkend wirken und ihnen kein Wachstum ermöglichen, müssen überwunden werden. Zu stark divergierende Erfahrungshorizonte und Lebensrealitäten tragen nämlich dazu bei, dass politische Einigungen erschwert würden – Justin Pottle beschreibt das prägnant als die „epistemic costs of social hierarchies“.
Konsequenzen für die hiesige Bildungslandschaft
Wie steht es um das Dewey‘sche Ideal heute? Empirisch lässt sich feststellen, dass das deutsche Bildungssystem derzeit gar nicht dazu in der Lage wäre, den Dewey‘schen Anspruch umzusetzen. Sowohl die Ungleichheit des Bildungssystems als auch die Unterfinanzierung von außerschulischen Bildungsakteuren tragen dazu bei, dass sich politische Bildung zumeist auf die Reproduktion festgelegter Wissensinhalte beschränken muss. Aus Dewey‘scher Perspektive ist das ein Problem, weil Wissensvermittlung allein keine mündigen Bürger:innen macht. Die massive Ungleichheit des Bildungssystems trägt außerdem dazu bei, dass ein Austausch unterschiedlicher Perspektiven und verschiedener Lebensrealitäten kaum stattfindet. Vor allem die frühe Trennung von Schüler:innen mit und ohne Abiturziel tragen zu gesellschaftlicher Segregation bei. Demokratische Erziehung nach Dewey hieße stattdessen, durch politische Bildung zu gewährleisten, dass kritikfähige und selbstständig denkende Bürger:innen gemeinsam zur Verwirklichung einer Demokratie als Lebensform beitragen und nicht in der Affirmation des Status Quo verharren müssen.
Daraus ergeben sich einige Handlungsempfehlungen. Eine wesentliche Herausforderung ist es, solche politischen Strukturen und Institutionen zu modellieren, die gesamtgesellschaftliches Lernen und Kritikfähigkeit ermöglichen. Zugleich ist es notwendig, sowohl schulisches als auch gesellschaftliches Lernen und Verständigung stärker an den konkreten Erfahrungen ihrer Adressat:innen zu auszurichten, soll eine Erziehung zur Mündigkeit tatsächlich gelingen. Konkret bedeutet dies, Curricula zu diversifizieren und Zeit für die Durchführung eigener Projekte der Schüler:innen in den Stundenplan zu integrieren. Zugleich bedarf es einer Verkleinerung der Schulklassen, um sicherzustellen, dass Lernerfolg und individuelle Entfaltung möglich sind. Eine heterogene Zusammensetzung der Schüler:innen sichert dabei zugleich, unterschiedliche Lebensrealitäten einander zugänglich zu machen. Übersetzen lassen sich diese Forderungen auch über die Schule hinaus: Mitbestimmung am Arbeitsplatz, in der Familie oder in nachbarschaftlichen Strukturen garantieren nach Dewey egalitäres Wachstum für alle Menschen. Dass diese Forderungen im Kontext kapitalistischer Leistungsgesellschaften kaum umsetzbar erscheinen, war Dewey sehr wohl bewusst: insbesondere in seinem Spätwerk trat er daher für einen demokratischen Sozialismus ein.
Katharina Liesenberg, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Politische Theorie und Ideengeschichte der Technischen Universität Darmstadt. Sie forscht zu Demokratietheorie, Ungleichheit und Partizipation und promoviert zu John Dewey und dem Verhältnis von Theorie und Praxis in Demokratietheorien.
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