Den zweiten Beitrag zu unserem Schwerpunkt „Politische Theorie und Politische Bildung“ steuert Waltraud Meints-Stender bei. Den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit sollten politische Theorie und politische Bildung einen pluralitätsbejahenden Politikbegriff entgegensetzen – und dabei die Reflexion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aus den Augen verlieren.
Krieg in der Ukraine, Corona-Epidemie, Klimakrise, Migrationsbewegungen, wachsende soziale Ungleichheit im globalen Maßstab und die darauf reagierende Renaissance völkisch-nationalistischer Politikprojekte sowie Antisemitismus, Rassismus und Sexismus stellen die politische Theorie und politische Bildung vor enorme Herausforderungen. Sie nötigen zur Kritik. Sowohl die politische Theorie als auch die politische Bildung bedürfen heute mehr denn je einer Hinwendung zur Wirklichkeit. Sie müssen den autoritären Versuchungen in der Gegenwart ein nicht identitäres, nicht homogenisierendes Verständnis von Politik entgegensetzen, das diese nicht an Gemeinschafts- und Zugehörigkeitspostulate bindet, sondern das Faktum der Pluralität ins Zentrum rückt. Und sie bedürfen gesellschaftstheoretischer Analysen, die es ermöglichen, die sozialen Voraussetzungen der Demokratie in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden drei Thesen formuliert.
1. Keine politische Bildung ohne einen Begriff der Politik
Politische Bildung ohne einen Begriff von Politik ist nicht möglich, aber alles hängt davon ab, welcher Begriff der Politik der politischen Bildung zugrunde liegt und wie dies begründet wird. Zu klären ist also, welche Politikbegriffe welche Folgen für die politische Bildung haben. Orientiert man sich etwa an einem Verständnis in der Tradition Carl Schmitts, der das Politische bekanntlich in der (souveränen) Unterscheidung von Freund und Feind lokalisierte, die auf einer Homogenisierung des Gemeinwesens aufbaut, so ergeben sich daraus völlig andere Schlussfolgerungen für das, was politische Bildung zu leisten hätte, als bei einer Orientierung an dem dazu geradezu antipodischen, freiheitsorientierten Verständnis von Politik, wie es Hannah Arendt formuliert hat.
Ausgangspunkt für Arendt ist nämlich die Zurückweisung zweier Annahmen, die im politischen Denken eine lange Tradition haben: die Annahme, dass der Mensch ein politisches Wesen sei – „als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre“ (11) –, und die Idee vom Menschen überhaupt, die die Vielheit der Menschen als Vervielfältigung begreift, als „unendlich variierbare Reproduktion eines Urmodells“. Beiden Grundannahmen hält sie entgegen, dass ‚der Mensch’ apolitisch ist. Politik entsteht vielmehr erst zwischen den Menschen. Es gibt „daher keine eigentlich politische Substanz“. Politik etabliert sich im Bezug der Verschiedenen aufeinander, ihr liegt das Faktum der Pluralität zugrunde (11).
Diese Argumentation weist sowohl jede identitäre Bestimmung von Politik als auch Vorstellungen eines „Wesens“ oder einer Naturbestimmung des Menschen zurück. Denn auch Arendts Hervorhebung der Menschen als handelnde Wesen darf nicht mit einer anthropologischen Bestimmung verwechselt werden. Unabhängig von einer ‚Natur des Menschen‘ geht sie vielmehr von den geschichtlichen Konstellationen ihres Denkens und Handelns aus und begreift die anthropologisch unterschiedlichen Bestimmungen des Menschen als geschichtliche Selbstinterpretationen von Epochen. Für Arendt sind Menschen bedingte Wesen, sie werden bedingt von dem, was nicht geändert werden kann, sich also unabhängig von ihrem Eingreifen vollzieht, und sie sind bedingt durch die Resultate ihres eigenen Handelns, Herstellens und Arbeitens. Zugleich umfasst ihr Begriff der Politik nicht nur die Ebene des politischen Handelns, sondern auch – durch die Unterscheidung einer lebendigen und materialisierten Macht – die institutionelle Ebene, deren Vermittlung und Legitimierung durch die Praxis der politischen Urteilskraft ermöglicht werden soll.
2. Keine politische Bildung ohne Reflexion auf gesellschaftliche Verhältnisse, Begriffsarbeit und das eigene Gewordensein
In der politischen Bildung gelten Begriffe wie „Mündigkeit“, „Selbstdenken“, „politische Urteils- und Handlungsfähigkeit“ weithin als unhinterfragte Ziele. Dabei wird nicht nur ignoriert, dass diese Begriffe seit ihrer Formulierung in der Epoche der Aufklärung umstritten waren, sondern auch, dass sie einen Zeitkern haben und immer wieder neu bestimmt werden müssen.
So forderte etwa Adorno in seinen vielzitierten Aufsätzen zur Erziehung zur Mündigkeit und zur Erziehung nach Auschwitz, dass zwar an dem Begriff der Mündigkeit festzuhalten sei, dieser aber nach der Erfahrung der Dialektik der Aufklärung im 20. Jahrhundert neu formuliert werden müsse. Keineswegs sei – wie Kant annahm – der Mangel an Mut, eigenständig zu urteilen, „selbstverschuldet“. Es seien vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse, die wesentlich zu dem negativen Zustand der Unmündigkeit beitragen. Gegenüber diesen gelte es, die „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (3) zu fördern. Ein „aufklärendes Potential“ hingegen bestehe in der Frage, „wie man so wurde“, da es „zu dem unheilvollen Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand [gehört], dass man sein So-sein – dass man so und nicht anders ist – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes. Ich nannte den Begriff des verdinglichten Bewußtseins. Das ist aber vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt. Würde dieser Zwangsmechanismus einmal durchbrochen, wäre – so dächte ich – doch einiges gewonnen“ (6).
In den Reflexionen zur „Kritik“ hebt Adorno überdies den inneren Zusammenhang von Demokratie, Mündigkeit und Kritik hervor. Dort heißt es emphatisch: „Kritik ist aller Demokratie wesentlich. Nicht nur verlangt Demokratie Freiheit zur Kritik und bedarf kritischer Impulse. Sie wird durch Kritik geradezu definiert“ (785). In diesem Sinne bedarf es in der politischen Bildung, die Kritik-, Urteils- und Handlungsfähigkeit ermöglichen will, einer Reflexionsfähigkeit, die nicht nur das eigene „Gewordensein“ durch gesellschaftliche Strukturen erkennt, sondern das „Wie-das-Subjekt-geworden-ist“ zum Ausgangspunkt für Bildungsprozesse nimmt. Zugleich gilt es zu erkennen, dass diese – die die Subjekte bedingenden Strukturen – durch die sozialen Praktiken, an denen die Subjekte partizipieren, im Alltag reproduziert werden.
3. Keine politische Bildung ohne eine Praxis der politischen Urteilskraft
Worauf es aber vor allem in der politischen Bildung ankommt, ist in Form und Inhalt die Kraft politischer Urteilskraft zu stärken. Gegen die Übermacht gesellschaftspolitischer Verhältnisse fokussierte Arendt bekanntlich auf die „erweiterte Denkungsart“, die Kant in seiner dritten Kritik formuliert: „Anstelle des Wortes Geschmack kann man bei Kant überall Urteilskraft einsetzen. Dann ist sofort offenbar, dass es sich in der Kritik der Urteilskraft um eine versteckte Kritik der politischen Vernunft handelt“ (577). Der Gemeinsinn, der „sensus communis“ ist „die Legitimation des Urteilens“, „er enthält die Bedingung der Möglichkeit des Miteinanders“ (578). Diese Form des Denkens verlangt es den Einzelnen nicht nur ab, über ihre privaten, egoistischen Impulse hinauszugehen, sondern sich auch tatsächlich vorzustellen, was es heißt, an der Stelle jedes anderen zu denken.
Kant definiert den sensus communis als die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens […], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden, könnten auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben“ (225, B 157). Im Fokus steht dabei die „Operation der Reflexion“ (226, B 158), die es ermöglicht, andere Perspektiven auf einen Sachverhalt, andere Wahrnehmungen von Dingen und Ereignissen im eigenen Denkprozess zu berücksichtigen. Die Praxis des sensus communis soll ermöglichen, dass die Perspektiven Anderer in der eigenen Urteilsbildung mitreflektiert werden. Soziale Wirklichkeit soll durch die Pluralität der Perspektiven auf die Realität wahrgenommen und reflektiert werden, um subjektive Sinnwelten aufzuheben. Dies nennt Kant die Fähigkeit, „an der Stelle jedes anderen [zu] denken“ (226, B 158).
Verknüpft man nun die Idee und Praxis des sensus communis von Kant mit Arendts Begriff der Politik als dem „Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“ (9f.), eröffnet die „Operation der Reflexion“ die Möglichkeit, nicht nur andere Perspektiven auf einen Sachverhalt für das eigene Urteil zu berücksichtigen, sondern auch sich selbst und andere als gesellschaftlich bedingt zu begreifen. Dazu ist es nötig, Arendts Kant-Lektüre vom Kopf auf die Füße zu stellen, um die Praxis des „an die Stelle jedes anderen [zu] denken“ (226, B 158) als Reflexion auf gesellschaftspolitische Bedingungen zu interpretieren, um Fragen sozialer Gerechtigkeit zu thematisieren.
Ein so materialistisch gelesener sensus communis, wie er hier vorgeschlagen wird, könnte eine Form von Gegenmacht zu dehumanisierenden und fremdbestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglichen. Zugleich erfordern globale Gesellschaftsverhältnisse heute auch eine zeitlich und räumlich erweiterte Denkungsart, dazu gehört auch, zu erkennen und zu berücksichtigen, dass etwa kapitalistische Produktionsweisen, die einen bedingen, selbst noch einmal Voraussetzungen haben, die andernorts extreme Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse verursachen. Und dazu ist es auch nötig, sich in gesellschaftlichen Kontexten der eigenen Lebensbedingungen gegen „gesellschaftliche Verhinderungsstrukturen von Partizipation“ zu wenden, „um „Normierungs-, Schließungs-, Segregations- und Hierarchisierungsprozesse“ (111) zu identifizieren und zu reduzieren. Vor dem Hintergrund dieser komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen ist eine bloße Forderung nach Partizipation für die politische Bildung nicht hinreichend. Die Voraussetzungen und Bedingungen von Partizipation selbst müssen zum Thema gemacht werden. Erst dann ermöglicht politische Partizipation als Praxis der erweiterten Denkungsart in ihrem Vollzug Kritik.
Waltraud Meints-Stender ist Professorin für Politik und Bildung an der Hochschule Niederrhein. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Politischer Theorie und politischer Bildung.
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