Die Demos des demos – Kommentar zu Tim Wihls ZPTh-Artikel „Die Demo als Revolte?“

Die neue Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie ist erschienen. Unter dem Themenschwerpunkt „Die Auflösung des liberalen Konsenses“ haben die beiden Herausgeber des Heftes, Karsten Schubert und Kolja Möller, eine Reihe spannender Beiträge versammelt. Maximilian Pichl analysiert in seinem Aufsatz Kämpfe um den Rechtsstaat aus einer historisch-materialistischen Perspektive, Daniel Keil widmet sich den Entwicklungen europäischer Staatlichkeit in der posthegemonialen Konstellation und Alexander Stulpe skizziert unter Rekurs auf den Resilienzbegriff ‚Elemente einer Politischen Theorie der Lebensfähigkeit liberaler Demokratien‘. Der Beitrag von Tim Wihl, den wir im Rahmen unserer bewährten Zusammenarbeit mit der Zeitschrift für Politische Theorie als Gegenstand für die Debatte auf dem Theorieblog ausgewählt haben und der damit hier open access verfügbar ist, beleuchtet das Phänomen der Demonstration in ihrem Verhältnis zur Revolte und stellt davon ausgehend ‚vorläufige Überlegungen zu einer politisch-juristischen Theorie der Demonstration in der liberalen Demokratie‘ an. Neben diesen Abhandlungen zum Themenschwerpunkt diskutiert Tamara Jugov in ihrem Beitrag die Frage, wann eine Utopie als hinreichend realistisch ausgezeichnet werden kann. Schließlich findet sich unter der Rubrik ,Ideengeschichtliche Fundstücke‘ ein Wiederabdruck einer ,in Vergessenheit geratenen‘ und ,erst vor kurzem in der Forschung wiederentdeckt[en]‘ Vortragsfassung des Textes „Der Beamte im sozialen Volksstaat“ von Hermann Heller, wie Marcus Llanque in seiner Einleitung zu diesem Wiederabdruck herausstellt.

Wir freuen uns sehr, dass Rieke Trimçev von der Universität Erlangen-Nürnberg mit einem Kommentar zum Beitrag von Tim Wihl die ZPTh-Debatte im Folgenden eröffnen wird, worauf wiederum eine Replik des Autors folgt. Wie immer sind alle herzlich eingeladen, in den Kommentarspalten mitzudiskutieren! Wir wünschen eine gute Lektüre und übergeben nun das Wort an Rieke Trimçev.

 

Der Umgang mit Demonstrationen, die nicht ins Bild einer friedlich, nach allen Geboten der Zivilität auf der Straße ausgetragenen Meinungsäußerung passen, wurde in den vergangenen Monaten aus Anlass von pro-palästinensischen Protesten und jüngst den Bauernprotesten wieder kontrovers diskutiert. Sie werfen die grundsätzliche Frage auf, welche Inhalte, Symbole und Praktiken in einer liberalen Demokratie aus welchen Gründen ausgehalten werden müssen.

In dieser Situation kommen „Überlegungen zu einer politisch-juristischen Theorie der Demonstration in der liberalen Demokratie“ zur rechten Zeit. Ihr Autor, Tim Wihl, schlägt in der neuen Ausgabe der ZPTh vor, dass viel gewonnen wäre, wenn wir in dieser Frage nicht zuvorderst liberale Prinzipien wie etwa Meinungsfreiheit und Toleranz in Anschlag brächten, sondern demokratietheoretisch argumentierten. Dann ließen sich nicht nur gute Gründe für das Aushalten auch mancher „unbändiger“ oder „wilder“ Demonstration finden; vor allem ließen sich sinnvolle Distinktionskriterien in unübersichtlichem Gelände definieren.

Lob des Konflikts

Mit diesem Anliegen stimmt Tim Wihl auch in das radikaldemokratische Lob des Konfliktes ein. Spannend und erwähnenswert ist, dass sein Beitrag verspricht, an einem klar umgrenzten Gegenstand – der Demonstration – auch eine Antwort auf eine Herausforderung der radikaldemokratischen Debatte zu geben. Diese Herausforderung hat kurz gesagt mit dem Unbehagen zu tun, dass radikaldemokratische Ansätze mit ihrem Ausspielen demokratischer gegenüber liberalen Prinzipien nicht (wie intendiert) nur tatsächlich emanzipatorische Politiken rechtfertigen, sondern sich (ungewollt) auch falsche Freunde einheimsen können, etwa Populist:innen von zweifelhaftem emanzipatorischem Kaliber. Tim Wihl, so mein Eindruck, verspricht hier Abhilfe durch die Unterscheidung von „plebejischen“ und „populistischen“ Demonstrationen – beide weit weniger friedlich und gesittet als der als zahme Kontrastfolie dienende „letzte DGB-Maiaufzug“ (S. 5), aber die einen begrüßenswert, die anderen problematisch.

Eine fraglose Stärke des Beitrags liegt darin, beinahe im Vorbeigehen noch ein weiteres Desideratum zu bearbeiten, nämlich das Projekt der radikalen Demokratie institutionentheoretisch auszubuchstabieren. Tim Wihl macht überzeugend deutlich, dass es sich bei den von ihm verteidigten plebejischen Demonstrationen um eine Konfliktpraxis handelt, die im bundesrepublikanischen politischen System ihren anerkannten Platz haben kann, und konkrete Repräsentationsdefizite zu bearbeiten vermag.

Von kleinen Schwestern und großen Brüdern

Das Herzstück von Tim Wihls Überlegungen besteht in einer Typologie, die uns einlädt, Demonstrationen in ein anderes Begriffsnetz zu stellen als die meisten von uns es wohl üblicherweise tun. Der erste Vorschlag lautet, die (friedliche) Demonstration nicht als Gegensatz zur (unfriedlichen) Revolte zu verstehen, sondern als eine ihrer Unterformen. Damit bereitet Wihl noch eine ganz andere semantische Allianz vor. Denn als Revolte kann die Demonstration zur „kleinen Schwester“ der Revolution werden (S. 4). Sie gehört dann zur Familie der kleinen und großen Neugründungen der Freiheit, deren Mitglieder allesamt nur denjenigen Regeln folgen wollen, die sie selbst gesetzt haben; zugleich bleibt sie aber harmloser als die Revolution, da die Demonstration als Revolte Freiheit innerhalb und nicht jenseits des bestehenden politischen Systems gründen will.

Die Pointe: Demonstrationen, die diesen revolutionären Horizont verkörpern, können das nur und dürfen es insofern auch auf unfriedlichem Wege tun. Die Demonstration als Revolte wird von Tim Wihl aber durchaus als ein ambivalentes Phänomen beschrieben. Denn solche Demonstrationen, die das hehre Ziel der demokratischen Selbstrepräsentation verfehlen, vielleicht gar Regeln für andere setzen wollen statt für sich selbst, entpuppen sich als in ganz anderen Verwandtschaftsverhältnissen gefangen: Ihr großes Geschwister ist die nach Befreiung schreiende aber die Freiheit letztendlich nicht gründende Rebellion – sie ist gewissermaßen der allseits gefürchtete „große Bruder“ in Wihls Typologie, dessen Herbeirufen die Sache bekanntermaßen für keine der an einem Konflikt Beteiligten besser macht. Revoltenhafte Demonstrationen des revolutionären Typs nennt Tim Wihl auch „plebejisch“, jene des nur rebellischen Typs „populistisch“ (S. 3).

 Too good to be true?

Schauen wir uns die plebejische Demonstration genauer an, die wir dem Autor zufolge an der „ausdrücklichen Haltung der Demonstrierenden zur Demokratie selbst“ erkennen (S. 3). Die Freiheit, die in ihnen zurückzugewinnen versucht wird, so Tim Wihl, darf nicht die Unfreiheit Dritter zur Bedingung haben, sondern muss sich als offen erweisen: Sie darf grundsätzlich nicht hinter historisch erreichte Inklusionsstandards zurückfallen, und muss zudem ein „Universalisierungsprinzip“ in sich tragen (S. 8).

Wo, das heißt in welchen Dimensionen des Protestgeschehens wären diese Merkmale einer plebejischen Demonstration überhaupt zuverlässig zu beobachten? Der Beitrag deutet hier unterschiedliche Optionen an. Zunächst wäre da a) der Erfolg, also die gesellschaftspolitische Durchsetzung der artikulierten Anliegen; weil sie ihre Ziele nicht hätten durchsetzen können, ordnet Tim Wihl die Demonstrationen der gilets jaunes etwa als populistisch ein (S. 9). An anderer Stelle scheinen b) Inhalt und Reichweite der kritischen Forderungen von Demonstrant:innen ausschlaggebend; aufgrund ihrer weitreichenden und universalisierbaren gesellschaftlichen Forderungen erfüllten etwa die LGTBIQ+- und die Black-Lives-Matter-Bewegungen die Anforderungen an plebejische Demonstrationen (S. 7f.). Schließlich scheint auch c) das Verhältnis von Inhalten und Handlungsformen eine Rolle zu spielen, etwa wenn Tim Wihl die Bedeutung von physischer Präsenz betont; dieser Punkt wird aber nicht an konkreten Exempeln entfaltet.

Das ist durchaus schade, denn mir scheint gerade diese letzte Option für eine politische Theorie der Demonstration am überzeugendsten. Denn am ersten Kriterium – dem des Erfolges – würden letztlich auch viele der von Tim Wihl positiv-plebejisch eingeordneten Demonstrationen scheitern. Auch die zweite rein inhaltliche Beurteilung von Forderungen scheint ein zu schwaches Kriterium. Man kann die von Tim Wihl mit rhetorischer Verve beworbenen Prinzipien teilen, und dennoch eingestehen, dass auch gegen Ausschlüsse gerichtete Demonstrationen ausschließend sein können. Manchmal erweckt die Lektüre den Eindruck, dass sich der Autor durch seine Begriffsbestimmungen von dieser Art gesellschaftlicher Komplexität abschottet. Wenn er etwa schreibt, dass eine Revolution ohne „Universalisierungsprinzip“ und damit „Selbstreflexion“ „begrifflich unmöglich“ ist (S. 8), dann mag das dem theoretischen Geist ein beruhigendes Triumphgefühl vermitteln, lässt die Leser:in aber mit dem unguten Gefühl zurück, dass begriffliche und historisch-wirkliche Möglichkeiten doch mitunter sehr unterschiedlich verteilt sind.

Vielleicht hat der Autor also Lust, hier auf dem Theorieblog nachzulegen und zu erläutern, wie in seinem Sinne plebejische Forderungen mit plebejischen Handlungsformen zusammenhängen, und wie man diesen performativen Zusammenhang an konkreten, auf Demonstrationen eingesetzten Praktiken „ablesen“ könnte.

Dass der Anspruch auf ein Überwinden aller Exklusionsdynamiken möglicherweise schwerer einzulösen ist als im Beitrag suggeriert, wird auch an einer zentralen Stelle seiner argumentativen Architektur deutlich – nämlich dort, wo Tim Wihl zur Charakterisierung der plebejischen Demonstration den Rousseauschen Begriff des Gemeinwillens einführt. Die nie auf ihre Zahl festlegbaren Menge der Demonstrant:innen, deren Stimmen nicht einzeln gezählt werden können und deswegen im Chor gehört werden müssen, verkörperten die volonté générale (S. 12f.).

Das mag eine passende Beschreibung des Anspruchs sein, der auf Demonstrationen manchmal erhoben wird – wenn dem aber so ist, dann verstehe ich nicht, wie in diesem Anspruch keine Ausschlüsse produziert werden sollen. Eine gewisse Unentschiedenheit mit Blick auf die Frage nach Gewalt als Mittel von Demonstrationen – der Autor will lieber von einer Gegenmacht der Demonstrant:innen sprechen, kann sich aber nicht durchringen, den Gewaltbegriff für Demonstrationen konsequenterweise fallen zu lassen – unterstreicht das hier zu Tage tretende Spannungsverhältnis.

Unterscheidungen und ihre Kosten

Ich möchte noch eine Rückfrage an den Autor stellen, nämlich die nach den möglichen Kosten der Unterscheidung von plebejischen und populistischen Demonstrationen. Zunächst: Welche Arten von Demonstrationen kommen hier nicht mehr in den Blick? Die pro-palästinensischen Demonstrationen etwa, die die Öffentlichkeit erhitzen, müssen die plebejischen Qualitätsstandards offensichtlich verfehlen – aber sind sie im Umkehrschluss dann wirklich treffend als „populistisch“ zu kennzeichnen? Sind die Etiketten ‚plebejisch‘ vs. populistisch also möglicherweise doch zu eng? Braucht der Autor sie wirklich, da sie doch bei genauerem Hinsehen in der etwas weiter gefassten Unterscheidung ‚potentiell revolutionär‘ und ‚nur rebellisch‘ aufgehen?

Egal, ob bestimmte Demonstrationen nun auf die negative Seite der von Tim Wihl vorgeschlagenen Unterscheidung fallen, oder gar nicht von ihr erfasst werden, stellt sich eine weitere Frage. Wenn es stimmt, dass Demonstrationen auf spezifische Repräsentationsdefizite des politischen Systems antworten, was ist dann mit den in populistischen Demonstrationen artikulierten Repräsentationsdefiziten, wie etwa im Falle der gilets jaunes? Sind sie weniger problematisch? Kosten einer Unterscheidung wären es auch, wenn diese nur deswegen aus dem Aufmerksamkeitsraster von politischen Theoretiker:innen fallen, weil sie auf der negativen Seite einer normativen Begriffsbestimmung liegen.

 Quod erat demonstrandum?

Schaut man sich die im Aufsatz von Tim Wihl behandelten Beispiele und ihre Aufteilung in „gute“ plebejische und „regressive“ populistische Demonstrationen an, so fällt auf, dass der Beitrag für durchschnittliche Linksliberale (hier schließe ich mich gern ein) ein happy end bereithält: Die Bösen werden die Bösen bleiben – in diesem Falle übernehmen diese Rolle Pegida, die bereits benannten Gelbwesten oder die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen – und die Guten obsiegen. Happy endings sind bekanntlich nicht jedermanns Sache, und so erscheint mir der Beitrag besonders an solchen Stellen stark, wo er abseits dieser Schubladenlogik auch Unterscheidungen innerhalb zusammenhängender Demonstrationen vorschlägt. Dies ist etwa in der Auseinandersetzung mit den Klimaprotesten der Fall, denen der Autor nur teilweise ein plebejisches Moment zusprechen will (S. 9). Gerade in solchen Differenzierungsmöglichkeiten scheint mir eines der Potentiale einer politischen Theorie der Demonstration und ihres Mutes zur kleinen Form zu liegen.

Vielleicht verleiten die hohen Anforderungen, die Tim Wihl an die plebejische Demonstration stellt, dazu, gar nicht Demonstrationen, sondern bestimmte Bewegungen in den Blick zu nehmen. Tatsächlich beziehen sich die exemplarischen Erläuterungen im Beitrag fast nie auf einzelne Demonstrationen, sondern immer schon auf Aggregate, wie etwa die Gelbwesten-Bewegung, oder die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Wenn diese kritische Beobachtung nicht ganz gegenstandlos ist, sehe ich zwei Möglichkeiten, ihr zu begegnen: Eine Aufgabe der Demonstration als tatsächliche Bezugsgröße der Unterscheidung von plebejischem und populistischem Protest, oder eine Nachjustierung der Kriterien. Das oben gesagte dürfte deutlich werden lassen, dass zumindest diese Leserin für die letztere Option plädieren würde – auch weil sie der Autor von den Potentialen einer politischen Theorie der Demonstration überzeugt hat.

 

Rieke Trimçev ist akademische Rätin auf Zeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören agonale Demokratietheorien, der Liberalismus der Furcht, Erinnerungspolitik und politische Metaphern. Sie ist Sprecherin des Netzwerks Concepta – International Research School in Conceptual History and Political Thought.

 

2 Kommentare zu “Die Demos des demos – Kommentar zu Tim Wihls ZPTh-Artikel „Die Demo als Revolte?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert