Dies ist der dritte und damit letzte Beitrag unserer kleinen Reihe rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch veröffentlichen. Den Auftakt machte ein Beitrag von Tine Stein über “Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart”, es folgte ein Beitrag von Oliver Hidalgo zum Thema „Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?“.
Universitäten sind in Demokratien nicht nur Orte für akademische, sondern ebenso für politische Debatten und Diskurse. Mit der wachsenden Verbreitung populistischer Meinungen und dem zunehmenden Erfolg populistischer Parteien wird über den Umgang mit diesen zunehmend gestritten. Was soll ich tun, wenn ich verschiedene Parteien an meine Universität zu einer Podiumsdiskussion einladen will, damit diese ihre Positionen zu einem politischen Thema vorstellen? Soll ich auch Populisten beteiligen? Und was soll ich tun, wenn an der eigenen Universität eine populistische Hochschulgruppe zu einer politischen Veranstaltung einlädt? Soll ich das tolerieren? Darüber müssen wir nicht nur sprechen, sondern wir müssen vor allem genauer hinschauen.
Herausforderungen des Populismus an Universitäten
Häufig werden populistische Parteien zu solchen Podiumsdiskussionen eingeladen, um damit die politische Neutralität dieser Veranstaltung zu gewährleisten. Auf dem Podium sind dann zumeist Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Parteien. Selten kommen dabei alle gleichermaßen zu Wort. Stattdessen argumentieren alle gegen den Populisten. Der Populist – zumeist sind es Männer, weshalb ich hier beim „Populisten“ der sprachlichen Einfachheit wegen beim generischen Maskulinum bleibe, auch wenn das folgende Argument gleichermaßen für jedes andere Geschlecht gilt – lässt sich auch durch Fakten nicht von seiner Meinung abbringen. Er wirft den anderen vor, dass sie seine Meinungsfreiheit beschränken wollen. Aber er lässt sich nicht den Mund verbieten. Seine Anhängerinnen und Anhänger im Publikum jubeln.
Findet an einer Universität eine politische Veranstaltung einer populistischen Hochschulgruppe statt, dann kann man daran mit kritischen Fragen teilnehmen, um die populistischen Positionen mit den besseren Argumenten zu widerlegen. Aber dazu kommt es meist nicht. Es läuft eher wie auf der Podiumsdiskussion. Der Populist lässt sich auch hier durch Fakten nicht von seiner Meinung abbringen. Jenen, die ihn kritisieren, wirft er vor, dass sie seine Meinungsfreiheit beschränken wollen. Aber das lasse er sich nicht gefallen. Und seine Anhängerinnen und Anhänger im Publikum jubeln.
Manche entscheiden sich deshalb, solche Veranstaltungen zu stören, damit diese für sie offensichtlich unvernünftigen Positionen erst gar nicht in der politischen Debatte salonfähig werden. Was passiert? Wieder kommt es zu einem ähnlichen Muster: Der Populist sagt seinem Publikum, dass man an der Störung sehe, dass seine Meinung verboten werden soll. Umso wichtiger sei es, dass er für seine Meinung eintritt. Und hier sind seine Anhängerinnen und Anhänger im Publikum begeistert.
Was man auch tut, das Ergebnis erscheint unbefriedigend. Der Populist lässt sich nicht überzeugen und seine Anhängerschaft rechnet ihm genau dieses Festhalten, durchaus auch wider besseres Wissen, sogar als Stärke an. So bleibt nach solchen Verläufen zumeist der Eindruck zurück, dass es nicht gelungen ist, den Populisten erfolgreich zu entzaubern. Stattdessen hat er die Situation sogar genutzt, durch seinen Widerstand gegen den „Zwang“ des besseren Arguments seine Anhängerschaft zu verzaubern.
Zwei Modi politischen Handelns: Sprechen und Zuschauen
Wie kann so etwas passieren? Solche Verläufe erscheinen vor allem dann irritierend, wenn das Sprechen und das Argumentieren als genuiner, gar als einziger Modus der Politik betrachtet werden. Wie Jeffrey Edward Green in The Eyes of the People gezeigt hat, ist es aber nur ein Modus. Ein anderer Modus ist das Zuschauen (Green 2009).
Insbesondere vor Wahlen ist das Sprechen sehr präsent. Wahlprogramme werden vertextet, setzen sich mit den Positionen der gegnerischen Parteien auseinander. Am Wahltag kulminiert dies schließlich in der Stimmabgabe. Für viele ist dies zugleich die Übertragung der eigenen Stimme auf die gewählte Partei und deren Abgeordnete.
Wahlen sind jedoch nicht der politische Alltag. Nach Wahlen, genauer: für die lange Zeit bis zur nächsten Wahl, wechseln die meisten von uns in den Modus des Zuschauens. Dieser bestimmt zum großen Teil den politischen Alltag. Am Ende machen die meisten von uns ihre politischen Erfahrungen als Zuschauende. Wir schauen den Wenigen zu, die sich politisch engagieren und die die Politik im Modus des Sprechens austragen.
Beim Zuschauen sind aber andere Kriterien wichtig als beim Sprechen. Statt der „Wahrheit“ des Arguments beweist hier die „Wahrhaftigkeit“ der Person die Richtigkeit der politischen Positionen, die sie vertritt. Beim Sprechen erwarten wir voneinander die Bereitschaft, unsere Positionen zu verändern, wenn der andere ein besseres Argument als das eigene vorbringen kann. Beim Zuschauen erwarten wir den Einblick in die wahre Identität oder wie es heute oft heißt: in die „Haltung“ derjenigen, die wir betrachten. Die zeigt sich aber nicht darin, eigene Positionen angesichts besserer Argumente zu revidieren, sondern – genau umgekehrt – am Festhalten an diesen Positionen – komme, was wolle.
Einblicke in die wahre Persönlichkeit werden im Modus des Zuschauens deshalb von weiten Teilen des Publikums honoriert. Wenn einer sagt, was er wirklich denkt, was man eigentlich „nicht sagen darf“, dann „beweist“ dies dem Publikum, dass er dazu steht, gerade weil er mit viel Widerspruch rechnen muss. Gerade die Kritik an ihm „beweist“ dem Publikum, dass er diese in Kauf nimmt, weil er seine Meinung „wirklich“ ernst meint. Gerade das Festhalten an der eigenen Meinung trotz widersprechender Fakten „beweist“ also dem Publikum, dass er sich auch davon nicht beirren lässt und auch in schwierigen Situationen „standhaft“ bei seiner Meinung bleibt. Der Populist zeigt „Haltung“.
Die Verstrickung des Sprechens und Zuschauens
Als Orte für politische Debatten besteht die Herausforderung für Universitäten im Umgang mit dem Populismus vor allem darin, die Verstrickung der beiden Modi politischen Handelns – das Sprechen und das Zuschauen – sehr genau abzuschätzen und abzuwägen. Damit rückt die kommunikative Dimension des Populismus, auf die ich mich hier ausschnitthaft konzentriere, in den Fokus (vgl. dazu und den weiteren Dimensionen Diehl 2011).
Podiumsdiskussionen mit Mitgliedern aus allen Parteien sind nicht nur der Rahmen für politische Debatten, in dem verschiedene Positionen zur Sprache gebracht und besprochen werden. Podiumsdiskussionen sind immer auch eine Bühne für die dort Auftretenden, ihre wahre Persönlichkeit zu beweisen. Und zwar gerade auch durch die Verletzung der Regeln, die im Modus des Sprechens gelten.
Das gleiche gilt für Veranstaltungen populistischer Hochschulgruppen. Auch sie sind immer auch – vielleicht sogar in erster Hinsicht – eine Bühne für die dort auftretenden Personen, eine Bühne vor dem zuschauenden Publikum. Der Protest, gar die Störung oder Verhinderung dieser Veranstaltungen wertet für das dem Populismus zugeneigte Publikum all jene auf, die sich dennoch auf diese Bühne wagen. Der Protest beweist dem Publikum das Wagnis, das deren Redner eingehen, um für ihre Positionen, ihre Haltung einzustehen.
Es gibt zwar kaum Möglichkeiten die Verstrickung der beiden Modi politischen Handelns – das Sprechen und das Zuschauen – gänzlich aufzulösen. Man kann sie aber lockern, indem man zwei Fallen vermeidet. Bei Podiumsdiskussionen etwa darf man nicht in die Falle der Neutralität tappen. Zum einen ist ein mit Repräsentanten aus allen im Bundestag vertretenen Parteien besetztes Podium allein wegen seiner Repräsentanz noch nicht neutral. Schon die daran „Anteilslosen“ sind, wie Jacques Rancière gezeigt hat, immer außen vor (Rancière 2002). Darum können auf keinem Podium alle politischen Gruppen repräsentiert werden. Zum anderen dürfen in einer Demokratie alle – im Rahmen der Gesetze – sagen, was sie wollen. Aber es müssen deswegen niemals alle mit allen sprechen. Statt nicht einlösbare Neutralität zu beanspruchen, ist es womöglich ratsam, sehr offensiv nur diejenigen einzuladen, die man – aus einem eigenen, auch öffentlich gemachten Interesse – ins Gespräch bringen will.
Beim Umgang mit Veranstaltungen populistischer Hochschulgruppen lässt sich wiederum die Falle der Gleichzeitigkeit vermeiden. Wenn am selben Ort und zur selben Zeit eine solche Veranstaltung gestört wird oder gegen sie demonstriert wird, dann wird aus dieser Veranstaltung immer auch eine Gelegenheit, an dem der Populist vor seinem Publikum seine Wahrhaftigkeit und Standhaftigkeit „beweisen“ kann. Hier erscheint es ratsam, eigene Veranstaltungen erst danach und nicht gleichzeitig oder davor stattfinden zu lassen. So bekommt die populistische Veranstaltung auch im Vorfeld keine Gelegenheit, die dann auf der Veranstaltung zum Beweis ihrer Wahrhaftigkeit und Standhaftigkeit ausgenutzt werden kann.
Populismus in Lehrveranstaltungen
Universitäten sind in Demokratien aber nicht allein Orte für politische Debatten, sondern zuerst auch Orte für akademische Diskussionen. Auch in dieser Hinsicht sind Universitäten nicht frei vom Populismus. Auch in Vorlesungen und Seminaren können von Studierenden oder Dozentinnen und Dozenten populistische Positionen vertreten werden. Auch daraus resultieren Herausforderungen, ob diesen Positionen widersprochen werden soll oder ob man sich dafür einsetzen soll, dass solche Positionen überhaupt nicht geäußert werden.
In der Wissenschaft ist das Sprechen, das Argumentieren ebenfalls nur ein Modus. Ein anderer Modus ist auch hier das Zuschauen. Bei Gastvorträgen oder auf Konferenzen tritt dieser hervor, insbesondere wenn eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler als Person mit einer akademischen, insbesondere einer normativen Position identifiziert wird, sie gleichsam verkörpert. Ihr Vortrag wird im Modus des Zuschauens auch hier zu einer Situation, in der diese Person ihre Identität „beweisen“ muss. Wir haben gerade in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Kolleginnen und Kollegen, die diese Gelegenheiten gern mit sehr zugespitzten Thesen zur Provokation nutzen und „Haltung“ vor ihrem Publikum zeigen.
Im Unterschied zur Politik bestimmen in der Wissenschaft jedoch das Sprechen und Argumentieren den Alltag. Und dieser Modus ist durch eine Reihe von Regeln und Praktiken über die Bedingungen der Wahrheitsproduktion immer auch vorrangig (Rorty 2020), falls beide Modi sich in Widersprüche verstricken. Dazu gehört zum einen, dass für jede Aussage ein Geltungsanspruch auf Wahrheit erhoben werden darf, aber auch dass für jeden Geltungsanspruch eine Begründungspflicht besteht. Zum anderen darf jeder Geltungsanspruch auf Wahrheit nur so lange aufrechterhalten werden, wie keine besseren Argumente vorgebracht werden können (Habermas 2022). Widersprüche sind im Seminar also immer geboten. Sprechverbote sind es nicht.
An Universitäten kommt es zudem zu Situationen, dass an einer Lehrveranstaltung Dozentinnen und Dozenten oder Studierende beteiligt sind, die in politischen Debatten populistische Positionen vertreten oder früher vertreten haben. Einige setzen sich dafür ein, dass diese Personen am Universitätsbetrieb nicht teilnehmen sollten. Manche sehen eine Lösung darin, Lehrveranstaltungen zu verhindern, an denen diese Personen teilnehmen. Auch das erscheint wenig ratsam. Denn zunächst verstößt diese Orientierung an der bloßen Person gegen die gerade genannte akademische Grundregel, dass die Aussagen dieser Person im Hinblick auf ihre Begründungen für die erhobenen Geltungsansprüche auf Wahrheit kritisch überprüft werden sollen.
Wer diese Grundregel nicht teilt, lässt sich vielleicht strategisch überzeugen: Durch die Blockade oder Verbotsforderung erhält die wissenschaftliche Veranstaltung einen politischen Charakter, der diese dann dominiert. Dadurch verliert aber auch der Modus des Sprechens seinen Vorrang gegenüber dem Modus des Zuschauens. Und genau dies macht diese Veranstaltung dann zu einer Gelegenheit, die eine Person mit populistischen Positionen nutzen kann, um vor ihrem zuschauenden Publikum die eigene Wahrhaftigkeit und Standhaftigkeit zu beweisen.
Mehr Frustrationstoleranz wagen
Ratsamer ist es deshalb, an der Veranstaltung teilzunehmen und auf die Einhaltung der Regeln des wissenschaftlichen Diskurses zu achten. Werden diese verletzt, dann kann man diese Verletzung in der Veranstaltung thematisieren. Werden sie wiederholt trotz Gegenreden verletzt, dann muss man sich beschweren, bei den Leitungen der Fakultät und der Universität. Das wird nicht immer zum Erfolg führen, zumindest nicht zu einem schnellen. Aber „Frustrationstoleranz“ ist eine wissenschaftliche Tugend. Eine Tugend, die auch in unseren gegenwärtigen politischen Debatten leider viel zu knapp geworden ist und für deren Einübung Universitäten auch da sind.
André Brodocz ist Professor für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Politische Theorie (ZPTh). Zusammen mit Vincent August (HU Berlin) leitet er derzeit das von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderte Projekt „Ökologische Konflikte: Repräsentationsansprüche und Strategien im Streit um die kommende Gesellschaft“.