Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart

Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von insgesamt drei Beiträgen rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch in den nächsten Wochen immer donnerstags veröffentlichen. Am 7.12. folgt ein Beitrag von Oliver Hidalgo zum Thema „Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?“ und am 14.12. gibt André Brodocz Antworten auf die Frage „Müssen in einer Demokratie immer alle mit allen reden? Über die Herausforderungen des Populismus an Universitäten„. 

(1) Die Gegenwart ist von einer Polykrise, von zeitgleich stattfindenden, existentiellen Krisen gezeichnet, die sich in ihrer Wirkung verstärken (Tooze 2022): Die Klimakrise wirft mit Extremwetterereignissen ihre Schatten auf eine Welt voraus, die nur mit großen Beeinträchtigungen bewohnbar sein wird; die Corona-Pandemie hat eine tiefgehende Verletzlichkeit selbst von Gesellschaften mit hoch entwickeltem Gesundheitssystem vor Augen geführt; und die Rückkehr des Eroberungskrieges in Europa durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und nun die terroristische Attacke der Hamas auf Israel mit jeweils gravierenden weltpolitischen Folgen stellen für die westlichen, liberalen Demokratien einen unvergleichlichen Schock dar.

Zwar kam es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch hier zu Phasen politischer Instabilität durch ökonomische Krisen, Katastrophen und Gewaltausbrüche, aber die vergleichsweise hohen Problembearbeitungsfähigkeiten, die Demokratien eigen sind, hielten diese Krisen, wenn auch nicht immer ursächlich gelöst, aber doch gewissermaßen in Schach. Dieses Grundvertrauen in die Demokratie als funktional relativ beste und normativ aus universalistischer Perspektive bestmögliche Ordnungsform schwindet. Dass die Demokratie ein Leben in Sicherheit und Freiheit ermöglicht, dass im Rahmen dieser Ordnung alle als in ihrer Würde Gleiche angesehen werden und dass auf zwar demokratisch kompetitive aber friedliche Weise Konflikte in einer pluralen Gesellschaft kooperativ beigelegt werden können, wird von einem größer werdenden Teil in der Bürgerschaft in Abrede gestellt und der notwendige Konsens über die demokratischen Grundwerte wird von vielen nicht mehr geteilt. Dies umfasst in der Praxis sowohl die in alarmierender Weise wachsende Zahl derer, die für autoritäre Parteien stimmen, als auch eine sinkende Bereitschaft gegenüber einigen der ungeschriebenen Pflichten, die mit der Mitgliedschaft in einer Bürgerschaft einhergehen, etwa die Bereitschaft in der repräsentativen Demokratie Ämter zu übernehmen. Die hier zum Ausdruck kommende erodierende Wertschätzung für die Demokratie in Teilen der Bürgerschaft mag damit zusammenhängen, dass das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der politischen Ordnung geschwunden ist. 

Es scheint sich in der Polykrise der Gegenwart aber mehr noch das Weltverhältnis generell zu ändern. Wenn die Aussicht auf eine friedvolle und gedeihliche Zukunft schwindet, die dem Einzelnen ein Leben in Freiheit und Sicherheit und die Verfolgung persönlicher Interessen unbehelligt vom Weltenlauf ermöglicht, dann wird das Zukunftsvertrauen ganz grundlegend erschüttert. Der für die Moderne spezifische Fortschrittsoptimismus und das Gefühl des „the best has yet to come“, verbunden mit der Erwartung, dass es der nächsten Generation besser gehen wird, zumindest nicht schlechter, wird durch ein gesellschaftliches Gefühl des Verlusts abgelöst (Reckwitz 2021), für das auch die Vielzahl von Rhetoriken und Praktiken stehen, die sich auf apokalyptische Figuren zurückführen lassen. Wie kann in einer solchen Situation das Zutrauen, dass schwierige Entwicklungen in Demokratien politisch produktiv bearbeitet werden können, gestärkt und damit dem Vertrauensverlust entgegengewirkt werden; und wie kann für die normativen Grundwerte erfolgreich geworben, wie kann die Ordnung gegen ihre alten und neuen Gegner, gegen die Anfechtungen von innen und die Angriffe von außen verteidigt und für die Zukunft behauptet werden? 

Die Antworten auf diese Fragen sollen hier in der Qualität der Resilienz gebündelt werden, die Demokratien heute aufweisen müssen. Resilienz im Sinne von Widerstandsfähigkeit ist mehr als ein Modewort (Weiß, Hartmann & Högl 2018). Resilienz heißt, den Bogen straffer spannen zu müssen und mehr und unterschiedliche Pfeile im Köcher zu haben, als mit dem Konzept der Wehrhaften oder Streitbaren Demokratie angesprochen. Karl Loewenstein hat die Idee einer „militant democracy“ im Lichte des Scheiterns der Weimarer Republik entwickelt (Loewenstein 1937). Es richtet sich auf die Abwehr der politischen Feinde der Demokratie im Inneren, die mit den Mitteln der Demokratie die Demokratie abzuschaffen suchen. In der Verfassungsordnung des Grundgesetzes hat sich diese Idee insbesondere im Instrument des Parteienverbots, in der Verwirkung von Grundrechten, des Verbots verfassungswidriger Vereinigungen und in der inhaltlichen Begrenzung des verfassungsändernden Gesetzgebers („Ewigkeitsgarantie“ für die grundlegenden Prinzipien der gleichen Menschenwürde, der Demokratie und des Rechtsstaats) niedergeschlagen. In dem Urteil zur Frage der Verfassungswidrigkeit und des Verbots der NPD hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass eine wehrhafte Demokratie gewährleisten soll, dass „Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören“ (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017, 2 BvB 1/13 -, Rn. 1-1010 (hier Rn 418). Eine solche für die Demokratie begrifflich notwendige und auch praktisch durchzusetzende Begrenzung politischer Freiheit – welche in der Demokratietheorie aus normativen wie strategischen Gründen durchaus umstritten ist – sollte in dem Konzept resilienter Demokratie einbegriffen werden; die Begrenzung ist angesichts der heutigen Anfechtungen durch autoritäre Bewegungen zentral. Aber die Widerstandsfähigkeit der Demokratie muss noch wesentlich umfassender gedacht werden. Es geht generell um die Fähigkeit eines Systems, durch Krisen hervorgerufenen Stress und Störungen in demokratischer und rechtsstaatlicher Weise produktiv zu verarbeiten und sich dynamisch anzupassen. Das haben in jüngerer Zeit vor allem Tobias Schottdorf und in allerjüngster Zeit Wolfgang Merkel herausgearbeitet. Schottdorf grenzt zurecht Resilienz von Resistenz, verstanden als Nicht-Reaktion auf Störung, und von Robustheit, verstanden als Widerherstellung eines früheren Zustands nach Belastung, ab; es gehe vielmehr um Bewältigung, Anpassung und Transformation unter Stressbedingungen (Schottdorf 2022, S. 168f.). Und Merkel hebt hervor, dass es bei Resilienz in der Demokratie auf die Fähigkeit ankommt, „externe Herausforderungen und interne Stressoren zu absorbieren und sich den wandelnden funktionalen Bedingungen demokratischen Regierens dynamisch anzupassen, ohne in einen Regimewechsel zu geraten und seine definierenden Prinzipien, Funktionen und Normen aufzugeben oder zu beschädigen“ (Merkel 2023, S. 345). Die adäquate Reaktion und dynamische Anpassung verlangt auch, antizipierten zukünftigen Krisen durch vorsorgliches Handeln zu begegnen. Resilienz erfordert damit in zeitdiagnostischer Hinsicht einen analytischen Blick, der erkennen lässt, dass die Bedrohung der Stabilität der Demokratie heute sowohl endogene wie exogene Ursachen hat und sich virulente Feinde der Freiheit im Inneren wie im Äußeren finden (2). Zugleich richtet Resilienz in praxeologischer Hinsicht die Aufmerksamkeit über politisch-institutionelle Strategien hinausgehend auch auf die Verantwortung der Einzelnen als Mitglieder einer Bürgerschaft. Was sind die entsprechenden Haltungen und Praktiken einer demokratischen Bürgerschaft, die sich gegenüber diesen unterschiedlichen Krisen, die sich auch zu Bedrohungen der Demokratie selbst auswachsen, als resilient zeigen können? Diese Frage richtet sich sowohl an die Repräsentanten als auch die Repräsentierten (3).

(2) Die Herausforderungen, denen sich freiheitliche Demokratien heute ausgesetzt sehen, sind mannigfaltig, zwei erweisen sich als besonders existentiell.  

(a) Die ökologische Krise verschlechtert die Lebensbedingungen erheblich. Seit vielen Jahrzehnten sind die zugrundeliegenden Zusammenhänge wissenschaftlich erforscht und öffentlich bekannt. Aber die epistemische Autorität der Wissenschaft mit ihrem Votum für eine ökologische Transformation dringt nicht in die politisch verbindlichen Entscheidungssphären der repräsentativen Demokratie durch, die ökologische Option wird unter konkurrierenden Regelungsvorschlägen nicht ausgewählt oder wenn, dann bislang nur in einer abgeschwächten, dem sachlichen Problem nicht angemessenen Form. Und seit vielen Jahrzehnten kann die Politikwissenschaft als Erklärungsfaktor für die Schere zwischen Erkenntnis und Handeln die Funktionsbedingungen der Wettbewerbsdemo­kratie anführen: Unter der Annahme einer in der Bürgerschaft überwiegenden Gegenwartspräferenz in der Nutzenfunktion, wonach gegenwärtige Gewinne (Beibehaltung des Status quo) höher gewichtet werden als zukünftige (weniger ausgeprägter Klimawandel) und gegenwärtige Verluste (befürchtete Verhaltensänderungen und Wohlstandseinbußen) stärker als zukünftige (dramatischer Klimawandel), bilden Politiker einen demokratischen Grenzwert, der die Schwelle zwischen Zu- und Ablehnung zu einer bestimmten Politik darstellt (Stein 1998 , S. 129ff) 

In Bezug auf ökologische Fragen wird dieser eher vorsichtig gebildet, da die Opposition – auch die Opposition innerhalb einer Regierungs­koalition – damit werben kann, dass es mit ihr keine oder nur schwächere Veränderungs­zumu­tungen geben wird. Wie an der Auseinander­setzung über das Gebäude-Energie-Gesetz ersichtlich, wird Politikern und den mit ihnen verbundenen Parteien, die den demokratischen Grenzwert riskant bilden, Zustimmung entzogen. Eine der wesent­lichen Schlussfolgerungen, die bislang in der wissenschaftlichen und interessierten öffentlichen Debatte hieraus gezogen wurden, um diesen Mechanismus zu lindern, ist eine institutionelle Reform. Ein Ökologischer Rat oder Zukunftsrat als eine unechte Dritte Kammer mit suspensivem Veto-Recht soll ökologischen Sand in die Debatte streuen und die Zeit des Aufschubs nutzen, um mit der dem Gremium zugeschriebenen (auf epistemischer Kompetenz, Seniorität oder Persönlichkeit basierender) Autorität für die ökologischere Variante eines Gesetzesvorhabens zu werben. Die institutionelle Unabhängigkeit des Gremiums auf deren Basis (partei)politische Zwänge ausgehebelt werden sollen, liegt in dem analog zu Verfassungsgerichten gestalteten Bestellungsmodus. Die Räte würden zwar demokratisch legitimiert (durch Wahl), aber sollen nicht wiederwählbar sein (Stein 1998 , S. 252ff.) 

Nach dem dieser Vorschlag in Variationen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder einmal diskutiert worden ist, muss heute aber festgehalten werden, dass das Erreichen der nötigen verfassungsändern­den Mehrheiten entfernter denn je erscheint, ein ökologischer „constitutional moment“ ist nicht in Sicht. Auch jenseits realpolitisch begründeter Skepsis in Bezug auf die Durchsetzungschancen hat der Vorschlag durch den Lauf der Zeit an Überzeugungskraft verloren. Denn die Kontroverse über die ökologische Transformation wird ja derzeit mit Macht in den Kerninstitutionen des Regierungssystems, inklusive der Verfassungsgerichtsbarkeit, ausgetragen, und es gilt hier demokratische Mehrheiten zu erarbeiten. Diese Aufgabe stellt sich für alle Beteiligten, und damit ist eine Anforderung an die Qualität der politischen Debatte wie auch an die ethischen Qualitäten, also die politischen Tugenden der Bürgerschaft, formuliert.  

(b) Seit dem 24. Februar 2022 und dem 7. Oktober 2023 ist in unvorstellbarer Brutalität deutlich geworden, dass der universelle Geltungsanspruch der freiheitlichen Demokratie, der Menschenrechte und auch die Idee einer friedlichen Koexistenz der Völker von mächtigen Akteuren mit Krieg und Terror befehdet wird. Weltgeschichtlich befinden wir uns in einer Zäsur. Vor 75 Jahren, nach dem Horror der Shoah und den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, fand der universelle Geltungsanspruch von Würde, Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einen global geteilten politischen Ausdruck. Der Konsens über diese Idee liegt heute in Trümmern. Die Vereinten Nationen sind in ihrem zentralen Handlungsgremium, dem Weltsicherheitsrat, dadurch blockiert, dass der russische Staat sein Vetorecht behalten kann, obwohl Russland einen menschenverachtenden Vernichtungskrieg führt und Mord und brutale Unterdrückung im Inneren als Mittel einer imperialen und diktatorischen Politik einsetzt. Und die Generalversammlung, das eigentliche Deliberationsgremium der Welt, die einst die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor nunmehr 75 Jahren verabschiedet hat, hat mit überwältigender Mehrheit eine Resolution verabschiedet, die die Terrorangriffe der Hamas nicht klar beim Namen nennt und damit auch darauf verzichtet, dieses erste Pogrom, das seit dem Holocaust stattgefunden hat, als solches überhaupt nur zu benennen.  

Die Feinde von Demokratie und gleichen Rechten sind von unterschiedlichen Motiven und Zielen bewegt. Die Hamas und die sie ideell und finanziell tragenden Unterstützer in der islamistischen Bewegung kämpfen fanatisch für die Durchsetzung einer theokratisch-patriarchalen, letztlich totalitären Ordnungsidee, wobei der imaginierte Hauptfeind nicht nur der Westen im Allgemeinen, sondern das jüdische Volk im Besonderen ist. Die Unterstützung, die sie hierfür nicht nur von vielen muslimischen Migranten, sondern auch von Teilen der westlichen Linken im globalen digitalen Raum, auf den Straßen der Metropolen und den Campi der Elite-Universitäten erhalten, ist beispiellos. Man kommt kaum umhin festzuhalten, dass hier eines der wesentlichen Kennzeichen des europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts, der Antisemitismus, zu einem diese Bewegungen integrierenden Merkmal wird. Im Putinismus wiederum soll mit dem Mittel des territorialen Vernichtungskriegs das imperiale Russland wieder auferstehen, das sich über die scharfe Ablehnung westlich-liberaler Werte definiert und mit Propaganda und Terror nach innen die eigene Herrschaftsbasis stabilisiert. Ob Putin und die ihn umgebende Elite dabei von den Inhalten selbst überzeugt sind oder ob sie dieses Programm strategisch einsetzen, um ihre Machtstellung und ihren Reichtum zu schützen, folglich eher als mafiotisch funktionierende Kleptokratie einzuordnen wären, ist nur insofern von Belang, weil westliche Regierungen, insbesondere die deutsche Bundesregierung mit dem Kauf russischen Öls und Gases, diesen Reichtum wesentlich finanziert und zentrale politische Entscheidungen darauf ausgerichtet haben (Bingener & Wehner 2023). Auch die langen Jahre der Verhinderung einer Energiewende hin zu regenerativen Energien ist in diesem Lichte zu sehen. 

Nichts bedroht den Putinismus im Inneren so sehr, wie das Bild von geordneten, wohlhabenden und sicheren Demokratien, die als kritische Folie von der eigenen Bevölkerung den Verhältnissen in Russland gegenübergestellt werden können. Deswegen gehört zu den Herrschaftstechniken auch der massive Versuch der Destabilisierung westlicher Demokratien mit den Mitteln hybrider Kriegsführung. Diese reichen von dem Einsatz von Social Media, wie für die US-amerikanischen Präsidentschaftswahl­kämpfe 2016 und 2020 belegt, über Hacker-Angriffe auf die interne Kommunikation von Regierungsbehörden und Infrastruktureinrichtungen bis hin zu einer auch geopolitisch motivierten Kriegspolitik, wie es für die russische Beteiligung an dem Vernichtungsfeldzug des syrischen Machthabers Assad gegen das eigene Volk anzunehmen ist, die zu massenhaften Flüchtlingsströmen in die europäischen Länder geführt hat.

Schließlich ist auch die finanzielle Unterstützung und Infiltration von autoritären Parteien, die Putin gegenüber loyal sind, wie etwa die AfD oder die Rassemblement National (früher: Front National), in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Feinde von außen gehen hier eine Koalition mit den Feinden im Inneren ein. Der rechtsautoritäre Populismus setzt mit seinen Strategien politischer Mobilisierung ohnehin auf eine Destabilisierung der Demokratie durch das gezielte Schüren von Unsicherheit in der Bürgerschaft. Es wird die epistemische Autorität von Wissenschaft und die Qualitätsstandards eines öffentlich-rechtlichen Mediensystems sowie der Qualitätspresse in Frage gestellt und mit den digitalen Propagandamöglichkeiten überhaupt die Ausrichtung der Politik an Rationalität und Wahrheit untergraben, zu schweigen von normativen Formen sozialen Miteinanders wie Fairness, Anstand und Freundlichkeit. 

All diese Anfechtungen treffen auf eine Bürgerschaft, die in weiten Teilen weder in ausreichendem Maß über die notwendige Haltung noch über die Fähigkeiten verfügt, die demokratische Ordnung nach innen wie außen vor ihren Feinden zu verteidigen und mit Blick auf die ökologische Herausforderung zu stabilisieren.

(3) Eine resiliente Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich durch vorsorgende Handlungen gegenüber Angriffen widerstandsfähig zeigt und zugleich existentiellen Herausforderungen wie der Klimakrise gerecht wird – jeweils in demokratisch-rechtsstaatlicher Art und Weise. Dazu müssen institutionelle Vorkehrungen und eine Haltung der Resilienz in der Bürgerschaft Hand in Hand gehen. Zu den institutionellen Vorkehrungen gehören die eingangs schon angesprochenen Instrumente der wehrhaften Demokratie, also des Parteienverbots, der Grundrechtsverwirkung und des Verbots verfassungswidriger Vereine. Aber nur das letzte Instrument, wie aktuell durch das Verbot der die Hamas unterstützenden Organisationen in Deutschland ersichtlich, erweist sich aktuell als scharfes Schwert, wohingegen die Grundrechtsverwirkung an prohibitiv hohe Hürden geknüpft ist und das Parteienverbot aufgrund der Zurechnungsproblematik verfassungsfeindlicher Äußerungen von Mitgliedern zur Partei mindestens auf Bundesebene schwierig bleibt. Daher ist die Weiterentwicklung dieses Instrumentariums zu begrüßen, wonach nun verfassungswidrigen Parteien die staatliche Finanzierung vorzuenthalten ist (Art. 21 Abs. 3 GG), und auch Organisationen von staatlicher Förderung auszuschließen sind, die nicht aktiv für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten, wie jüngst im Stiftungsgesetz beschlossen (Gesetz zur Finanzierung politischer Stiftungen aus dem Bundeshaushalt (10.11.2023)). Es zählt aber auch und vor allem eine verteidigungsfähige Armee dazu, die glaubhaft die Funktion der Abschreckung wahrnehmen kann und auch im Kriegsfall – der Verteidigung des eigenen Territoriums wie im Bündnisfall – erfolgversprechend einsatzbereit ist. Das zu leisten, kostet mehr als Geld (Masala 2023). Es bedarf einer kritischen Masse von Bürgerinnen und Bürgern, die sowohl bereit sind, sich der Gefahr des Verlusts des eigenen Lebens auszusetzen, als auch andere zu töten. Es bedarf zudem mit Kompetenz geführter geopolitischer Debatten in der Breite der Bürgerschaft und nicht nur auf den Inseln einer kleinen sicherheitspolitischen Community. Und es bedarf eines angemessenen Krisenbewusstseins in der Bevölkerung und entsprechender individueller Vorsichtsmaßnahmen. Dass aber etwa das Anlegen von Wasser-, Lebensmittel- und Kerzenvorräten, die Einforderung einer funktionstüchtigen Armee wie auch schon die Debatten darüber bei einigen immer noch im Verdacht eines ewiggestrigen Militarismus stehen oder dies bei vielen anderen bestenfalls auf freundliches Desinteresse stößt, ist ein gravierendes Problem für die Demokratie. Es offenbart das Missverständnis zu meinen, weiterhin von der Friedensdividende der Nachkriegszeit leben zu können, die mit dem Fall der Mauer sogar eine Verlängerung erhalten habe. Angesichts des aufziehenden neuen Systemkonflikts zwischen demokratischen und autoritären Staaten erweist sich dies als trügerischer Glaube. Die Augen vor den Tatsachen zu verschließen, wird die Tatsachen nicht zum Verschwinden bringen. 

Eine vergleichbare Problemignoranz zeigt sich auch mit Blick auf die ökologische Krise. Es werden nicht nur die privaten Konsumentscheidungen in der Masse immer noch so getroffen, als ob es keine Extremwetterereignisse gäbe, sondern in der Rückschau auf die – konzertierte? – Empörungseskalation von Bild und FDP-Rhetorik zum Gebäude-Energie-Gesetz zeigt sich auch, wie leicht die Weichenstellung zugunsten einer ökologischen Transformation torpediert werden kann. Die Vermeidung der hausgemachten Fehler jener politischen Repräsentanten, die die ökologische Transformation vorantreiben wollen, ist hier allerdings der entscheidende Punkt, um die oben skizzierten Mechanismen der Wettbewerbsdemokratie zu durchbrechen: die Zielkonflikte müssen transparent gemacht und die unvermeidlichen soziale Härten müssen von vornherein bedacht und abgefedert werden, um die Transformationspolitik gerecht zu gestalten und die zu erwartenden Widerstände auszuhebeln. Und wenn es sachlich angemessen ist, gehört zu einer Haltung der Resilienz zudem, für die je zumutungsreichere Politik zu votieren, für diese öffentlich zu werben und gegen öffentlichen Druck zu behaupten, auch auf die Gefahr hin, dass die nächste Wahl verloren geht. Generell ist diese Strategie der öffentlich begründeten Zumutungen für Politiken angemessen, die der Bürgerschaft etwas abverlangen (Heidenreich 2022). Ein in dieser Hinsicht risikobewussteres Regieren, bei dem für das, was die jeweilige Regierung mit guten Gründen ausgewiesen als sachlich angemessene Entscheidungen erachtet, auch die demokratischen Mehrheiten in der Bürgerschaft erarbeitet wird, ist nicht nur für die ökologische Transformation geboten.

Auch auf Seiten der Repräsentierten müssen Anforderungen an die ethische Haltung und demokratische Praxis gerichtet, sprich: für ein Bürgerethos der Resilienz geworben werden. Zunächst sollte klar sein, um was es geht. Man verteidigt nur, was man als wertvoll erachtet. Dass die Demokratie eine Ordnung ist, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und die vergleichsweise beste Gewähr für Sicherheit und funktionierende öffentliche Infrastrukturen bietet, sollte bei aller Hochschätzung zur Erlernung von Kritikfähigkeit in der politischen Bildung und den öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsagenturen immer wieder neu begründet werden. Es gilt unterscheiden zu können zwischen der berechtigten kritischen Frage, ob die freiheitliche Demokratie ihrem eigenen Legitimitätsversprechen gerecht wird, und ihrer generellen Infragestellung. In der Tat kann man mit guten Gründen die Leistungsdefizite beklagen, wenn die öffentlichen Infrastrukturen – etwa in der Bildung und im Verkehr – nicht genügend gepflegt wurden, gesellschaftliche Probleme teils aus ideologischen Gründen nicht bearbeitet wurden – etwa die defizitäre Integration vieler Migranten –, oder nicht in Vorsorgemaßnahmen investiert wurde. Aber die Alternative zu den Regierungen, die diesen Leistungsabfall zu verantworten haben, kann ja nicht sein, Parteien zu wählen, deren Programm darin besteht, mit der vermeintlichen Kraft einer völkisch-nationalen Autorität alle Probleme lösen zu wollen, und deren tatsächliches Programm im Grunde den Pfad der Abschaffung der Demokratie beschreitet. Zu dieser gebotenen kritischen Urteilsfähigkeit zwischen Regierungskritik und Systemkritik im Sinne einer Unterscheidungsfähigkeit müssen als weitere elementare politische Tugenden der Demokratie Fairness, Respekt und Toleranz dazukommen. Fairness und Respekt in der politischen Auseinandersetzung und Toleranz gegenüber Meinungen, die man selbst nicht teilt, gehören zu den Grundtugenden der Demokratie. In den Echokammern und Filterblasen der digitalen Öffentlichkeit aber auch in analogen demokratischen Formaten werden diese Grundtugenden von vielen nicht mehr praktiziert. Ebenso schwindet die Tugend der Toleranz, im Übrigen quer zu den politischen Lagern. Auch einige dem linken Spektrum zugerechnete Positionen (z.B. pro Abtreibung, für offene Grenzen und Anerkennung eines Menschenrechts auf Freizügigkeit, etc.) werden mit dem Anspruch formuliert, von vorneherein die menschenrechtlich und aus humanitären Gesichtspunkten einzig legitimen Sichtweisen zu sein, was sie aber nicht sind. Zugleich bedarf es in der politischen Debatte einer unterscheidungskompetenten Klarheit, gegenüber welchen Positionen Toleranz und Anerkennung von Meinungsvielfalt endet. Gegenüber Rassisten (die ihre Position zuweilen mit der Ideologie des Ethnopluralismus kaschieren) und aktuell besonders augenfällig gegenüber Antisemiten führt eine Haltung der Toleranz in eine Aporie. Deswegen ist es richtig, dass beispielsweise für Demonstrationen, auf denen nicht nur die Forderung der Befreiung eines Gebiets Palästina vom israelischen Staat („From the river to the sea“), sondern auch der Palästinenser von der deutschen Schuld skandiert wird („Free Palestine from German guilt“) ein Verbot ausgesprochen wird, die Skandierer strafrechtlich belangt werden und in den öffentlichen Debatten auf die oben bereits angesprochene Verbindung des Antisemitismus als zentrales Element eines möglichen neuen Faschismus aufmerksam gemacht wird. 

Gleichviel in welcher Rolle, die Bürgerinnen und Bürger üben ein Amt aus: als Repräsentanten ein auch rechtlich verfasstes Amt und als Repräsentierte ein ideelles Amt. Jeweils ist hier die Verpflichtung auf das öffentliche Wohl oder, traditionell ausgedrückt, an das Gemeinwohl aufgerufen. Den Wählerinnen und Wählern kommt diese Verantwortung bei der Beteiligung in öffentlichen Debatten und bei der Stimmabgabe zu, sie sollten sich fragen, ob sie mit ihrer Stimme ausschließlich ihre eigenen individuellen Interessen im Blick haben oder diese auch in ein Verhältnis zu dem setzen, was für alle gut ist. In einer Zeit, in der unser Handeln auch jenseits der Grenzen des eigenen Staates und auch in der Zukunft Folgen für andere hat, ist zudem zu bedenken, dass das, was für alle gut sein soll, nicht nur die eigene Bürgerschaft im Hier und Jetzt betreffen kann. Auf einen Nenner gebracht, lassen sich diese ungeschriebenen ethischen Voraussetzungen der Demokratie als das Erfordernis einer „demokratischen Sittlichkeit“ verstehen. Diese Sittlichkeit besteht nicht darin, eine bestimmte Vorstellung des „guten Lebens“ in den demokratischen Prozess einzubringen, sondern sie verwirklicht sich in den gelebten „guten Sitten der Demokratie“, zu denen wie hier argumentiert, auch das Bewusstsein der Fragilität dieser Ordnung gehört und die Bereitschaft, diese zu verteidigen, damit sich die Demokratie als widerstandsfähig gegenüber den Krisen und Herausforderungen der Gegenwart erweist. Wie erreicht man diese auf Freiwilligkeit angewiesene Haltung und Praxis in der Bürgerschaft? Dies zu diskutieren, wird für die nächsten Jahre eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung sein, die nicht nur in der Schule und den Universitäten, sondern auch auf dem Stundenplan der Öffentlichkeit und ihren entsprechenden Institutionen stehen sollte.

Tine Stein ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Forschung widmet sich dem demokratischen Verfassungsstaat und dessen normativen Grundlagen sowie insbesondere dem Verhältnis von Politik, Recht und Religion und Politik und Natur.

Ein Kommentar zu “Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart

  1. Die Einfachheiten, die sich mir hier offenbaren, erschrecken mich:

    Unsere Demokratien sind geordnet, wohlhabend und sicher und bis zum russischen Angriffskrieg war die Welt ein Hort der Würde, Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung. Massive Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen, schon vor 2022 – Vietnam, Irak, uvm – scheinen im Weltbild der Autorin nicht vorhanden zu sein. Und bedroht sind unsere Demokratien lediglich von missgünstigen Diktatoren und von ominösen (nicht näher benannten) Feinden von innen.

    Dass ein gesunder Organismus aus sich selbst heraus resilient ist und folglich auch eine gut funktionierende Demokratie von aussen (und innen) kaum angreifbar wäre – einfach weil es den Menschen gut geht, die in ihr leben – sollte eigentlich die Frage aufwerfen, woran es in unseren Demokratien tatsächlich krankt.

    Die immer weiter auseinander gehende Schere zwischen Arm und Reich, die fehlende paralmentarische Repräsentation relevanter Bevölkerungsanteile – es gäbe so einige ganz realer Missstände, bei denen man anstetzen könnte.

    Doch auf diesen Gedanken kommt die Autorin offenbar nicht.

    Anstatt zu Fragen was eine immer grösser werdende Zahl an Bürgern sorgt und bewegt, setzt sie darauf diesen Menschen nochmal erklären zu wollen, wie gut alles ist. „Wie erreicht man diese auf Freiwilligkeit angewiesene Haltung und Praxis in der Bürgerschaft?“, fragt sie dann weiter, nachdem sie die „richtige“ Haltung vorab bereits klar formuliert hat.
    Das soll dann ein Teil der Lösung sein: den Menschen die „richtige“ Haltung zu vermitteln (schliesslich bedarf es ihrer Meinung gar „einer kritischen Masse von Bürgerinnen und Bürgern, die sowohl bereit sind, sich der Gefahr des Verlusts des eigenen Lebens auszusetzen, als auch andere zu töten.“).
    Der andere Teil der Lösung sind dann schliesslich noch Verbote und Grundrechtseinschränkungen.

    An dieser Stelle weiß ich dann nicht mehr wovor ich mich mehr fürchten sollte: Vor autoritäten Demokratiefeinden oder vor denen, die mit solchen Methoden unsere Demokratie zu verteidigen glauben.

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