Kongresssplitter: Über die Situiertheit gesellschaftlicher Krisendiagnosen 

— 3.B Critical feminist perspectives on Diagnoses of Crisis — 

Eine Tagung, die sich dem Thema (Un-)Sicherheit gewidmet hat, bietet reichlich Anknüpfungspunkte für feministische Perspektiven: Welche Sicherheitsbedürfnisse finden Gehör und welche Perspektiven werden ausgeblendet? Wie lassen sich permanente Krisenerfahrungen marginalisierter Gruppen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit (Un-)Sicherheit und Krise berücksichtigen? Das von der Sektion Politik und Geschlecht der DVPW gestaltete Panel “Critical feminist perspectives on Diagnoses of Crisis: Foregrounding Vulnerability and Intersecting Histories of Domination” stellte diese Fragen ins Zentrum und zielte auf die inhaltliche Erweiterung politiktheoretischer Fragestellungen, methodische Offenheit und die Öffnung bestehender Kanons.  

Meryem Choukri thematisierte das ideengeschichtliche Potential literarisch-künstlerischer Veröffentlichungen am Beispiel einer 1999 erschienenen Anthologie queerer Women of Color im wiedervereinigten, von Rassismus geprägten Deutschland: Werde die deutsche Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte erinnert, blende sie die von Ausgrenzung, Gewalt und Brandanschlägen geprägte Perspektive rassifizierter, queerer Personen aus. Die auf Empowerment, Sichtbarkeit und Dokumentation abzielende Anthologie bilde als Archiv queerer Aktivist*innen of Color deren Krisenerfahrung ab und ermögliche darüber einen differenzierteren Blick auf die Wiedervereinigung. Eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit derartigen marginalisierten Wissensbeständen sei daher notwendig, um dominante Geschichtserzählungen zu kontextualisieren und zu hinterfragen.  

Véronica Orsi diskutierte die Entstehung der Frauenbewegung „Ni Una Menos“ im Kontext der argentinischen Staatsverschuldung und plädierte für eine stärkere Interdisziplinarität des Fachs. Der Protest gegen häusliche Gewalt und die mit der Verschuldung einhergehende Disziplinierung gleiche einer Theaterperformance, bei der ausdrucksstarke Bilder und Soundscapes erzeugt werden. Die wiederkehrende Verwendung symbolisch aufgeladener Farben stifte Identität; marginalisiertes Wissen werde in einem Akt feministischer Wiederaneignung in die demonstrierenden Körper eingeschrieben. Um den Protest genauer analysieren zu können, sprach sie sich für den Rückgriff auf kunst- und theaterwissenschaftliche Methoden und einen engen Austausch zwischen Protestbewegungen und Forschenden aus. 

Aylon Cohen plädierte angesichts gegenwärtiger antidemokratischer Zugriffe auf binäre Geschlechtlichkeit für eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Demokratie und Queerness. Der Fokus auf rechte Transfeindlichkeit dürfe nicht über die enge Verbindung liberaler Demokratien mit der Konstruktion binärer Geschlechtlichkeit hinwegtäuschen. Begreife man die Konstitution der Demokratie als brüderlicher Gemeinschaft mit Carole Pateman zugleich als Verdrängung des Weiblichen ins Private, lasse sich das von queeren Identitäten ausgehende Bedrohungspotential sowohl als Bedrohung binärer Geschlechtsidentitäten als auch des politischen Systems fassen: Am Beispiel der britischen Molly Houses zeige sich, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung und juristische Verfolgung männlicher Homosexualität tatsächlich der dort ausgelebten Femininität gegolten habe.  

Die breit aufgestellten, inhaltlich überzeugenden Beiträge und die anschließende Diskussion argumentierten überzeugend für die Erweiterung politiktheoretischer Methodologie und Fragestellungen. Besonders erfreulich war dabei der stark ideengeschichtliche Einschlag. Literatur und Poesie als Ausdrucksform marginalisierter Gruppen und damit als ideengeschichtliche Quelle zu verstehen, politiktheoretische Methoden mit Methoden anderer Disziplinen zu verbinden und Forschungsfragen aus queerfeministischer Perspektive zu erweitern – all das sind Möglichkeiten, produktiv mit Uneindeutigkeit umzugehen und Vielstimmigkeit forschungsseitig anzuerkennen. Denn, so die Erkenntnis des Panels: Auch wissenschaftliche Krisendiagnosen speisen sich aus situiertem Wissen. Aus welchem ideengeschichtlichen Archiv sie schöpfen und welche Perspektiven sie ausblenden, ist daher eine Herausforderung, der sich die Politische Theorie und Ideengeschichte stellen muss. 

Laila Riedmiller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der FAU Erlangen-Nürnberg.