Schwerpunkt: Die vielen Gesichter des Adam Smith

Adam Smiths Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 300. Mal. – Der Politik & Ökonomie Blog und der Theorieblog nehmen das diesjährige Smith-Jubiläum zum Anlass, sich in einem auf beiden Seiten veröffentlichten Schwerpunkt dem schottischen Moralphilosophen und politischen Ökonomen zu widmen. Für dieses Kooperationsprojekt konnten Forscherinnen und Forscher aus der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und der Politikwissenschaft gewonnen werden, die Smith auf Fragen unserer Zeit beziehen, ihn in seiner Zeit verorten, seiner theoriegeschichtlichen Bedeutung nachspüren und Einblicke in die Wirkungsgeschichte seines Werkes geben. 

Gemeinsames Anliegen unserer Beitragenden ist es dabei, die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen Smiths Hauptwerken, The Theory of Moral Sentiments (1790, erstmals 1759) und An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), zu betonen, die im Zuge ihrer langen Rezeptionsgeschichte regelmäßig in einen prinzipiellen Gegensatz gestellt wurden. Teilweise knüpfen unsere Beitragenden an jüngere Forschung an, die Smiths Schriften als Teile eines größeren, unvollendeten moral- und sozialphilosophischen Projektes interpretiert (vgl. etwa Tribe 1995; Hont/Ignatieff 2005: 389-443; Ronge 2015). Dadurch rücken sie zugleich ins Bewusstsein, dass Smiths Denken aufklärerischen Debatten galt, in denen Fragen der Moral, der Politik und der Ökonomie nicht isoliert, sondern stets miteinander verbunden behandelt wurden. Insoweit ist es kein Zufall, dass Smiths Projekt in besonderem Maße dazu anregt, von den etablierten disziplinären Grenzziehungen zwischen Philosophie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft abzusehen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Versuche, Smith ideengeschichtlich angemessen zu interpretieren, sondern, wie mehrere der Beiträge des vorliegenden Schwerpunktes zeigen, auch für zeitgenössische Theoriebildung und Debatten, die Smiths Ideen entweder aufnehmen oder kritisch befragen. 

Allerdings soll die Betonung dieser Gemeinsamkeiten nicht über die Vielfältigkeit der vorgestellten Lesarten hinwegtäuschen. Smiths Einfluss, seine Relevanz und sein Anregungspotenzial werden gerade daran erkennbar, dass seine Positionen und die von ihm geprägten Konzepte bis heute in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen werden und außerordentlich umstritten sind. Diesem Umstand trägt der Schwerpunkt Rechnung, indem er Forscherinnen und Forscher mit teils gegenläufigen Interpretationen zu Wort kommen lässt. 

Veröffentlicht wird der Blog-Schwerpunkt schrittweise in den kommenden Tagen. Ab morgen erscheint täglich ein neuer Blogbeitrag. Den Aufschlag macht Sebastian Thieme. In seinem Beitrag arbeitet er Ambivalenzen in Smiths politischer Ökonomie heraus, um die Selektivität zu problematisieren, mit der sich in der heutigen Wirtschaftswissenschaft auf Smith bezogen wird und um vor diesem Hintergrund eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen des eigenen Faches zu fordern.

Ein ähnliches Anliegen verfolgt Christian E.W. Kremser, der in seinem am Donnerstag erscheinenden Beitrag darauf abzielt, die dogmengeschichtliche Einordnung des Wealth of Nations als positive Wirtschaftsanalyse zu korrigieren, indem er Smiths utopischen Gesellschaftsentwurf einer commercial society rekonstruiert. Weil Smith mit seinem Gesellschaftsentwurf die Grundzüge einer kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung Kremser zufolge nicht einfach beschrieben, sondern vielmehr konstruiert hat, plädiert er dafür, Smith theoriegeschichtlich als „Erfinder“, statt als „Entdecker“ des Kapitalismus zu verstehen.

Walter Ötsch und Silja Graupe gehen am Freitag der Bedeutung von Isaac Newtons Mechanik für Smiths Vorstellung von der Ökonomie als sozialer Maschine nach und entdecken in seiner Übertragung der Methodik der Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts auf die Moral- und Sozialwissenschaften den Anfang eines Problems, das noch die heutigen Wirtschaftswissenschaften prägt. 

Die ersten beiden Beiträge der kommenden, zweiten Schwerpunkt-Woche beleuchten Smiths frühe Wirkungsgeschichte. Patrick Samtlebe widmet sich am Beispiel von Sophie de Grouchy der Smith-Rezeption in Frankreich um 1800 und untersucht, warum der von Smith geprägte Sympathy-Begriff in den aufklärerischen gesellschaftstheoretischen Debatten der Revolutionsperiode zu einem Schlüsselbegriff wurde. Lennart Riebe wendet sich anschließend der frühen deutschen Smith-Rezeption zu und zeigt anhand von Georg Sartorius, wie durch die selektive Übernahme von Smiths politischer Ökonomie in den kameralistischen Diskurs der Grundstein für eine andere, ungewöhnliche Form der Nationalökonomie gelegt wurde.

Die letzten beiden Beiträge des Schwerpunkts bieten unterschiedliche Zugänge zu Smiths Moralphilosophie an und verdeutlichen zugleich exemplarisch Smiths Anregungspotenzial für die Theoriebildung in den heutigen Sozialwissenschaften und der gegenwärtigen Philosophie. Bastian Ronge begreift den von Smith in der Theory of Moral Sentiments als ‚natürlich‘ deklarierten Hang, ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten als zutreffende Charakterisierung der affektiven Disposition des bürgerlichen Subjekts. Erst anhand dieser Grunddisposition lässt sich laut Ronge verstehen, wie der bürgerliche Affekthaushalt die Gesellschaftsordnung stabilisiert, die Gesellschaft ökonomisch dynamisiert, wie dieser aber auch den Erfolg von rassistisch, sexistisch oder klassistisch agierenden Populisten begünstigt.

Christel Fricke lotet in ihrem Beitrag hingegen die Anschlussfähigkeit von Smiths Theorie der moralischen Urteilspraxis an die zeitgenössische normative Moralphilosophie aus. Sie rekonstruiert Smiths Moralphilosophie als einen Brückenschlag zwischen moralpsychologischem Realismus und der Möglichkeit objektiver moralischer Urteile, indem sie Smiths Begriffe der Sympathy und des unparteiischen Zuschauers im Fluchtpunkt eines Modells sympathy-geleiteten kommunikativen Austauschs zwischen den Betroffenen, den Tätern und den Zuschauern moralisch falscher Handlungen zusammenführt.  

— Allen Beitragenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt! Allen Lesenden wünschen wir viel Freude bei der Lektüre und laden sie herzlich dazu ein, ihre Gedanken zu den Beiträgen über die Kommentarfunktion zu teilen. 

Eine Übersicht über alle Beiträge gibt es auf dieser Seite.

Jonas von Bockel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politikwissenschaft, insbesondere Geschichte und Theorie politischen Denkens an der Universität Hamburg. Dort forscht er schwerpunktmäßig zur politischen Ökonomie in sozial- und diskursgeschichtlicher Perspektive. Aktuell arbeitet er an einem Dissertationsprojekt zum politisch-ökonomischen Denken in England im 17. und frühen 18. Jahrhundert mit einem Fokus auf fiskal- und finanzpolitische Entwicklungen und Debatten. 

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