Öffentlichkeit – begrifflich bestimmt und empirisch beobachtet (Tagungsbericht zur Frühjahrstagung in Erfurt)

Der Begriff der Öffentlichkeit ist vieldeutig und komplex. Bereits der Versuch der englischsprachigen Übersetzung (public sphere, publicity, the public) verweist auf seine vielfältigen semantischen Dimensionen. Um auf aktuelle Herausforderungen dieser besonders politischen Öffentlichkeit zu reagieren – oder sie zunächst richtig einzuordnen und zu verstehen –, bedarf es daher einer vertieften (politik-)theoretischen Betrachtung. Dieser begrifflichen und theoretischen Herausforderung widmete sich der erste Teil der Doppeltagung der DVPW-Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte vom 19. bis 21. März an der Universität Erfurt. Der Auftakt zeugte sowohl vom überaus prägenden Einfluss Jürgen Habermas‘ in der deutschen Politikwissenschaft als auch von der Vielfalt der Phänomene der Öffentlichkeit, die die Theorie analytisch fassen muss. Obwohl Habermas daher einen gern aufgegriffenen Analyserahmen anbietet, wird die Herausforderung ersichtlich, wenn auch in Verbindung mit anderen Ansätzen, immer zu seiner Theorie zu greifen. Wichtig dabei ist jedoch ebenso, zu schauen, ob die Mischung unterschiedlicher Theorieansätze jenseits von bloßem Theorieabgleich produktiv für unser Verständnis vom Gegenstand ist.  

Habermas und weiter: eine zusammenhaltende Theorie der Öffentlichkeit? 

Es ist offensichtlich, dass in der Diskussion um politische Öffentlichkeit kein Weg an Jürgen Habermas vorbeiführt. Der Doyen der deutschen politischen Theorie hat schon 1962 mit seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (und nicht zuletzt erneut mit dem 2022 erschienenen Suhrkamp-Band zu ihrem „neuen“ Strukturwandel) ein wesentliches Fundament gelegt. Die zentralen Elemente seiner Theorie wurden bereits im ersten Panel von Victor Kempf detailliert aufgearbeitet, insbesondere in Bezug auf die neue Dynamik der digitalisierten Öffentlichkeit. Zu den zentralen Prämissen sind jedoch viele anderen Redner in der Tagung erstmal gekommen, um darauf aufbauend vermeintlich innovative Perspektiven zu entwickeln. Beispielhaft versuchten Hagen Schölzel und David Bender, einen Begriff der Öffentlichkeit entlang politischer Offenheit unter Rekurs auf Habermas sowie Mouffe und Laclau zu entwickeln – ein wertvoller Impuls, der allerdings sein ideengeschichtliches Potenzial nicht vollends auszuschöpfen vermochte. Mouffe und Laclaus agonale Demokratietheorie fand auch bei Sarah Strömel und Lea Watzinger Erwähnung, die neben Habermas’ deliberativer Theorie das Konzept des Deplatforming als kontroverses Mittel der Öffentlichkeitspflege analysierten.  

Zudem plädierte Behzad Förstl – in Abgrenzung von Habermas – dafür, in der Epoche der Spätmoderne (aus dem Publikum kritisch als Rückkehr zur Vormoderne kommentiert) dem „Primat“ der Meinung in der Öffentlichkeit konsequent Folge zu leisten. Verteidiger der Demokratie sollten sich auf einen „unvernünftigen Konsens“ einlassen und Emotionen und identitäre Repräsentation grundsätzlich als Argumente akzeptieren. Hier droht jedoch Förstls Argumentation widersprüchlich zu werden: Eine vollumfängliche Transparenz der Sprecheridentität ist für die ideale Sprechsituation notwendig und bedingt, wer wen repräsentieren kann, gleichzeitig sollen die Meinungen selbst eine „transzendentale Stellung“ erlangen. Die Rolle von Emotionen im aktuellen Diskurs unterstrich indes Marlon Barbehön im Rahmen einer Analyse Frank-Walter Steinmeiers Verbalisierung seiner menschlichen Enttäuschung mit Putin infolge des Angriffskriegs gegen Ukraine. Ob hiermit eine Rückkehr des Intimen in die Öffentlichkeit als neue Dynamik politischer Öffentlichkeit zu verzeichnen ist oder sich eher eine kontinuierliche Dynamik der Vermenschlichung von Politikern einstellt, blieb eine offene Frage. Affekte und Emotionen in sozialen Medien wurden ebenfalls von Simone Jung thematisiert. 

Wichtig ist jedoch, von einer oberflächlichen Habermas-Lektüre zu tatsächlichen theoretischen Innovationen zu kommen. Überlegungen hierzu stellte Sebastian Sevignani mit einem theoretisch und bildlich anspruchsvollen Modell von Öffentlichkeit vor, das den Einfluss einer sogenannten populistisch-ideologischen Kommunikation (die einer hegemonial-ideologischen Kommunikation gegenübersteht) zu erfassen versuchte. Somit wurde das Mehrebenenmodell der bürgerlichen Öffentlichkeit um die Rolle neuer antagonistischer Medien erweitert, die vorbei an den Massenmedien zur Bildung der Öffentlichkeit beitragen und die Massenmedien somit unter Druck setzen. Sevignani sah im Rahmen seiner kritisch-normativen Theorie der Öffentlichkeit auch soziale Medien als einen neuen Faktor: eine Ebene oberhalb des Alltagsverstandes und unterhalb der antagonistischen Medien, die zur vertikalen Dis-Intermediation und horizontalen Re-Intermediation führen. Im Ergebnis werde das alte Modell der hegemonialen Kommunikation durch den neuen Nexus von privater Kontrolle, Profitorientierung und algorithmische Überwachung geschwächt – eine Tendenz, die auch in Markus Patbergs Vortrag über die „oligarchic capture“ der Medien durch Akteure wie Musk und Trump in den USA widerspiegelt wurde. Entgegen Sevignanis einheitlichem Modell der Öffentlichkeit rekurrierte jedoch Markus Hennig auf Nancy Fraser, um die Pluralität der Öffentlichkeiten hervorzuheben. Solcher Pluralität auf europäischer Ebene gingen Lea Radke und Moritz Fromm entlang der Frage nach, ob die supranationale Regulierung des digitalen Bereichs einen weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit innerhalb der Europäischen Union darstelle. 

Andreas Antić schlug auch eine theoretische Neuheit vor, indem Öffentlichkeit – in John Deweys Verständnis eines Bildungsprozesses der öffentlichen Meinung – mit dem Design-Thinking-Prozess aus der Produktentwicklung zusammengebracht wird. Hiermit sollen kreative Kräfte durch partizipatives Experimentieren in der Demokratie freigesetzt werden, aber Antić räumte selbst dabei auch theoretische Probleme der Skalierbarkeit, des lokalen Fokus oder der anekdotischen Verarbeitung von Erfolg und Misserfolg ein. Mehr von der Theorie wünschte sich Luca Hemmerich in anderer Hinsicht. Sie soll sich in Fragen des guten Lebens nicht weiter mit substanzieller Zurückhaltung begnügen, sondern affirmativ in die politische Öffentlichkeit als Fach hineinwirken. Seine These – beruhend auf einer Analyse der Gründe für Zurückhaltung in der radikalen Demokratietheorie, der kritischen Theorie, des Liberalismus und der deliberativen Demokratietheorie – hätte jedoch durch die Aufnahme von republikanischen, sozialistischen oder ökologischen politischen Theorien, die ihrerseits durchaus konkrete normative Vorstellungen des guten Lebens vorbringen, weiter verstärkt werden können. Diese Präsentationen verdeutlichten abermals, dass strukturelle Modelle der Öffentlichkeit nur einen Aspekt der Beschäftigung damit darstellen können. 

Welche Räume und Tätigkeiten lassen sich als öffentlich verstehen? 

Einen wichtigen Schwerpunkt auf dieser Tagung bildete die Konzeption von Öffentlichkeitsräumen: Verena Frick diskutierte die räumliche Konzeption von Öffentlichkeit in urbanen Kontexten. Durch das enge Zusammenleben unterschiedlicher Menschen stellt die Stadt einen besonderen öffentlich Raum bereit und bietet zugleich Möglichkeiten der performativen Hervorbringung politischer Subjektivität – auch wenn diese von kommerziellen (Business Improvement Districts), selbstinteressierten (sogenannte feindlicher Architektur) oder die Demokratie ablehnenden (Charter Cities) Erosionstendenzen gefährdet werden. Ebenfalls wichtig war die räumliche Dimension bei Ragna Verhoeven, die die aktivistische Okkupation öffentlicher Räume untersuchte und die zeitliche Komponente betonte: Solche Räumlichkeiten müsse man als zeitlich situiert verstehen, um die bedingende Materialität von existierenden Räumen wie Straßen und Plätze richtig einordnen zu können. Somit können Räume im Laufe der Zeit umgedeutet und dadurch öffentlich gemacht werden – man denke etwa an die Proteste der sogenannten Klimakleber.  

Das öffentliche Handeln in anderer Form diskutierten Tobias Albrecht und Theresa Gerlach: Tobias Albrecht beleuchtete die Rolle der Pädagogik (als „Zwillingsschwester der Demokratie“) und die Bedingungen für Institutionen, die demokratisches Verhalten fördern. Er knüpfte damit an eine Wiederbelebung dieses Themas in den letzten Jahren an, rechnete jedoch zugleich mit der fehlenden Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Potentialen politischer Bildung ab und schlug ein realistischeres Bild vor, das die institutionellen Rahmen, die sozioökonomischen Bedingungen sowie die Rolle individueller Akteure miteinschließt. Hierfür müssten darüber hinaus die Grenzen der Öffentlichkeit, durch öffentliche Bildung auf sich selbst einzuwirken, berücksichtigt werden. Auch Theresa Gerlach identifizierte vergleichbare Problematiken im größeren Zusammenhang, indem sie die normativen Modelle hinter der ambitionierten Vorstellung, Öffentlichkeit könne als Schule der Demokratie dienen, untersuchte und die ihr innewohnenden Zielsetzungen freilegte. Solche republikanische, deliberative oder radikaldemokratische Modelle streben entsprechend ihrer demokratischen Zielvorstellungen (z. B. Gemeinsinn, vernünftige Entscheidungsfindung oder Interessensartikulation und -konfrontation) unterschiedliche Maße und Formen der Partizipation an. Je nach Verständnis, müsse man unterschiedliche Policy-Entscheidungen, z. B. zur Arbeitspolitik, empfehlen. 

Policy-Implikationen hatten auch weitere Präsentationen. Sven Altenburger plädierte für ein Neudenken der „Öffentlichkeit“ – diesmal explizit als publicity gedacht – am Beispiel der Steuerinformationen. Er argumentierte auf republikanischer Grundlage, dass die Veröffentlichung von Steuerinformationen in der aktuellen Debatte zu Unrecht außer Acht gelassen werde. In den dort abgespielten Worten Otto Heinrich Greves ausgedrückt: „Niemand, der auf ehrliche und sozial verantwortliche Weise Einkommen erwirbt, braucht sich der Höhe dieses Einkommens zu schämen.“ Lena Ulbricht stellte Visionen zivilgesellschaftlicher Plattformen vor und analysierte mit decidim und Frag den Staat Beispiele, die unsere Konzeption digitaler (politischer) Öffentlichkeit über die Idee der sozialen Medien hinaus erweitern sollten.  Zivilgesellschaftliche Akteure könnten in dieser Form zur Entstehung eines pluralistischen Systems beitragen.  

Die digitale Öffentlichkeit als Schlachtfeld von technologischer Entwicklung und Desinformation 

Selbstverständlich finden alle aktuelle Öffentlichkeitsphänomene vor digitalen Herausforderungen, bis hin zum frappierenden Einfluss der künstlichen Intelligenz in den letzen Jahren statt. Dazu hielt Danielle Allen (Harvard) ihre Keynote unter dem Titel „Plurality and Saving Democracy from AI“. Im Vortrag ging es um die Rolle des Pluralismus in solch einem Zeitalter – und wie damit die Demokratie doch zu retten sei. In einer Umbruchszeit müsse zwischen Chaos und Kontrolle eine gemäßigte Mitte durch die Integration von pluralen Stimmen in der Demokratie gefunden werden. Solche Technologien könnten und müssten, argumentierte Allen, menschlich-soziale Interaktionen und Fähigkeiten ergänzen, statt sie zu ersetzen. Anschließend entwickelte sich ein lebhafter Austausch mit dem Publikum – unter anderem über Fragen der Eigentümerschaft: Wo und in welcher Form kann der öffentliche bzw. demokratische Einsatz von KI dazu beitragen, das demokratische Leistungsversprechen besser einzulösen? Diskutiert wurde auch die Aufgabe, die Entwicklungsrichtung von KI-Systemen zu steuern, insbesondere solange unklar bleibt, welche politischen Zielsetzungen eigentlich verfolgt werden sollen. Allens hoffnungsvoller Impuls wirkt als Anstoß: Wir können und müssen demokratisch definieren, was wir wollen – und dann den Entwicklern erklären, warum dies notwendig ist. Wie realistisch diese Hoffnung angesichts zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und eines wachsenden Tech- bzw. Algorithmen-Fetischismus in hohen Regierungskreisen ist, mag dahingestellt bleiben. 

Außerdem behandelte eine interdisziplinäre Podiumsdiskussion diese Thematik. Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann und der Rechtswissenschaftler Albert Ingold diskutierten Folgen der Desinformation für die Demokratie. In ihrer Analyse ordnete Hofmann gängige Narrative zu den Risiken von Desinformation ein und beleuchtete differenziert die divergierenden Menschenbilder, die diesen zugrunde liegen. Diese kommen beispielsweise von der Psychologie (Menschen als manipulierbar und leichtgläubig) oder von der Politikwissenschaft (Verortung des Kipppunkts zu einer zerstörerischen Öffentlichkeit). Dies wurde gut ergänzt durch die rechtliche Klärung Ingolds, der unterschiedliche Regelungen zwischen Straf- und Zivilrecht, Schutz des pluralen demokratischen Wettbewerbs, und Schutz des Individuums im Kontext Deutschlands und Europas erläuterte. 

Dieser strukturelle rechtliche Blick offenbart wieder, wie viele Dimensionen Praktiken der Öffentlichkeit dominieren können. Es bleiben daher noch viele Frage offen, weswegen es so erfreulich ist, dass die Tagung zweiteilig konzipiert wurde. Im Herbst geht es in Erlangen weiter (jetzt zur Anmeldung offen!) – dann zu den Strategien politischer Öffentlichkeit. Interessierte können bis dahin einen Vorgeschmack auf solche Themen durch eine auf der Tagung aufgenommene Podcast-Folge von ‚Future Histories‘ bekommen, in der Frieder Vogelmann ins Gespräch mit Jan Groos trat und über den destruktiven epistemischen Impuls im öffentlichen Diskurs sprach. Deren Diskussion bereicherte das Event, bei dem das Publikum dank der sehr ruhigen Aufnahmesituation gebannt zuzuhören gezwungen war, das ohnehin vielfältige Programm. Hoffentlich erlaubt die strategische und akteurszentrierte Perspektive der zweiten Tagung eine vertiefte Betrachtung anderer Formen der Öffentlichkeit, die weiter über den Schatten vom Habermas zu springen wagt. 

 

Campbell MacGillivray promoviert an der Georg-August-Universität Göttingen über verfassungsgerichtliche Schutzmechanismen in gefährdeten Demokratien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Demokratie- und Verfassungstheorie, Regimetransformation und Autoritarismusforschung. 

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