Adam Smith als Moralphilosoph

Im letzten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Christel Fricke der Anschlussfähigkeit Smiths an die Urteilspraxis der zeitgenössischen normativen Moralphilosophie. Sie stellt den sympathy-geleiteten kommunikativen Austausch zwischen Opfern, Tätern und den Zuschauern moralisch falscher Handlungen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen.

Wer ‚Adam Smith‘ hört, denkt vermutlich an den schottischen Denker des 18. Jahrhunderts, der mit seinem Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), zum Begründer der Nationalökonomie wurde. Selbst in akademischen Kreisen weit weniger bekannt ist, dass Smith zuvor ein Buch über Moralphilosophie veröffentlicht hatte, nämlich The Theory of Moral Sentiments (1759). Dieses Buch war von seinen frühen Leser:innen, zu denen u. a. Jane Austen gehörte, wohlwollend aufgenommen worden. Später jedoch, im Schatten von Smiths Nationalökonomie, geriet es weitgehend in Vergessenheit. 

Zu seiner Marginalisierung trugen deutsche Ökonomen des 19. Jahrhunderts bei, die Smith als einen Verfechter des Laissez-faire-Kapitalismus darstellten, der dafür eintritt, die Händler:innen auf dem kapitalistischen Marktplatz ohne politische Restriktionen agieren zu lassen, mit der Begründung, sie könnten nur in uneingeschränkter Freiheit einen maximalen Gewinn erwirtschaften. Statt sich dem Diktat politischer Herrscher zu fügen, sollten sie auf eine ‚unsichtbare Hand‘ vertrauen, die dafür sorgt, dass sich in der kapitalistischen Gesellschaft alles zum Besten fügt. 

Die Metapher der unsichtbaren Hand stammt zwar von Smith. Ihm zu unterstellen, er sei gegen jede politische Regelung des kapitalistischen Marktes eingetreten, ist aber grundfalsch. Ganz im Gegenteil, Smith sah in den Klassenunterschieden, wie sie in einer kapitalistischen Gesellschaft entstehen, eine soziale und moralische Herausforderung. Wer im Elend lebt, hat keine Kraft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und sich um moralisch richtiges Handeln zu bemühen. Smith trat dafür ein, dass der Staat nicht nur Monopolbildungen unterbinden sollte, sondern auch dafür sorgen, dass selbst die Ärmsten materiell in der Lage sind, für eine Familie zu sorgen und ihre Kinder zur Schule zu schicken. Steuern sollten nicht nur für Infrastruktur und Landesverteidigung verwendet werden, sondern auch zur Finanzierung öffentlicher Bildungseinrichtungen. Erst in den vergangenen Jahren haben sich Moralphilosoph:innen wieder für Smith interessiert. Dazu beigetragen, dass Smith auch als Moralphilosoph die ihm gebührende Anerkennung erfährt, hat u. a. Amartya Sen, der in seinem Buch Die Idee der Gerechtigkeit ausführlich auf Smiths Moralphilosophie Bezug nimmt. 

Was ist das Besondere an Smiths Moralphilosophie?

Historisch betrachtet steht Smith als Moralphilosoph zwischen David Hume und Immanuel Kant. Was ihn aber von beiden unterscheidet, ist, dass er sein Augenmerk nicht auf Personen legt, die sich in ihrem Wollen und Handeln nach moralischen Prinzipien oder Gesetzen zu richten haben, sondern auf die Opfer von moralisch falschem Verhalten, auf deren Gefühlsreaktionen, auf das, was ihnen angetan wurde, und auf die, die ihnen Schaden zugefügt oder sie gekränkt haben. Es ist dieser Aspekt von Smiths Moraltheorie, der ihn für uns heute besonders interessant macht. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der Opfer aufbegehren und sich Gehör verschaffen; denken wir nur an die Opfer sexueller Übergriffe, die Opfer von Rassismus, die Opfer von intoleranten und vorurteilsbehafteten Vorstellungen von sozial akzeptablen sexuellen Orientierungen und all die jungen Menschen, die den Industrienationen vorwerfen, Raubbau an der Natur betrieben zu haben ohne Rücksicht auf die Folgen für zukünftige Generationen. Diejenigen, gegen die diese Opfer aufbegehren, konnten sich lange Zeit auf der moralisch sicheren Seite wähnen, da sie sich keines Verstoßes gegen moralische oder juridische Gesetze schuldig gemacht hatten. 

In seiner Moralphilosophie bemüht sich Adam Smith, wie vor ihm Hume, um psychologischen Realismus. Aber, anders als Hume, reduziert er die Aufgabe des Moralphilosophen nicht darauf, den Ursprung dessen zu erklären, wie das, was wir heute als eine teilweise moralische soziale Ordnung verstehen, entstanden ist. Mit Kant teilt Smith die Auffassung, dass Moralphilosophie ein dezidiert normatives Unterfangen sei und Menschen anleiten sollte, wie sie zu moralisch richtigen Entscheidungen und Handlungen kommen können. Dabei vertraut Smith deutlich weniger als Hume oder Kant darauf, dass wir normalerweise ein gutes moralisches Urteil haben. Im Gegenteil, Smith ist überzeugt, dass wir zwar einerseits von Natur aus das Bedürfnis haben, moralisch gut zu sein und auch anzunehmen, unsere Mitmenschen seien gut, dass wir aber andererseits dazu neigen, unsere moralische Kompetenz zu überschätzen und zu übersehen, wie oft wir moralisch irren. 

Smith entwickelt seine Moralphilosophie im Ausgang von der These, dass die Empfindungen und Handlungsmotivationen von Menschen von Natur aus von zwei Faktoren geprägt sind, nämlich von ‚Selbstliebe‘ (self-love) und von ‚Sympathie‘ (sympathy). Aus Selbstliebe zu handeln ist nicht per se moralisch ungenügend (Kant wird später u. a. diesen Aspekt von Smiths Moraltheorie in seiner Pflichtethik zurückweisen). Im Gegenteil, wir wollen und sollen uns um uns selbst und unser Wohlergehen kümmern, und wir wissen selbst am besten, was uns guttut. Allerdings wird ein Handeln aus Selbstliebe zum moralischen Problem, wenn es dazu führt, dass wir auf andere und deren Interesse an ihrem eigenen Wohlergehen keine Rücksicht nehmen. Hier kommt die Sympathie als Gegengewicht zur Selbstliebe ins Spiel. Wir haben nämlich, so Smith, nicht nur ein Interesse an unserem eigenen Wohlergehen, sondern auch ein Interesse daran, mit anderen einvernehmlich zu leben. Smith spricht von einem natürlichen Interesse an gegenseitiger Sympathie (‚mutual sympathy‘), einer Sympathie, die so etwas wie normatives und moralisches Einvernehmen signalisiert. Wir wollen, dass die anderen mit unserem Tun und Lassen einverstanden sind, dass sie uns gönnen, was wir uns nehmen, weil wir ihnen dabei nichts wegnehmen. Wir wissen heute, dank psychologischer und spieltheoretischer Experimente, dass Smiths Thesen bezüglich unserer sowohl egoistischen als auch sozialen Bedürfnisse und den entsprechenden emotionalen Dispositionen durchaus realistisch waren. 

Dank unseres Sympathievermögens haben wir, so Smith, ein natürliches Interesse daran, im Einklang mit anderen und im Rahmen eines gemeinsamen Moralverständnisses zu leben. Allerdings, und hier kommt der revisionistische Aspekt von Smiths Moralphilosophie zum Ausdruck, garantiert unser natürliches Interesse an Moral nicht, dass wir ein angemessenes oder richtiges Verständnis davon haben, was moralisch richtig und falsch ist. Im Gegenteil, unsere spontanen moralischen Urteile über das, was andere und wir selbst tun, sind oft falsch. In Smiths Worten: Unsere spontanen moralischen Urteile sind parteilich; dabei sollten sie unparteiisch sein. Smith erklärt die Parteilichkeit unserer spontanen moralischen Urteile mit dem Hinweis auf eine Reihe von Fehlerquellen. Wir erlauben uns, Handlungen als moralisch gut oder schlecht zu beurteilen, auch wenn wir über die handelnde Person, ihre Motive, ihre Optionen, die Umstände, unter denen sie handelte und die Konsequenzen dieser Handlungen nur unzureichend informiert sind. Hinzu kommen verschiedene Arten von Vorurteilen und Voreingenommenheiten, die wir entweder über die handelnde Person oder über deren Opfer hegen. So sind wir eher bereit, diejenigen moralisch zu verurteilen, die wir ohnehin nicht mögen, aber moralisches Fehlverhalten zu übersehen, wenn es um uns selbst oder unsere Lieben geht. Insbesondere unsere Neigung, unsere moralische Urteilsfähigkeit zu überschätzen, steht einem unparteiischen Urteil im Wege. 

Um ein angemessenes und richtiges moralisches Urteil zu fällen, ein Urteil, dem jeder vernünftige und sympathiebegabte Menschen zustimmen muss, müssen wir, so Smith, unparteiische Zuschauer sein. Ein solcher Zuschauer – es kann auch eine Zuschauerin sein – ist in der Lage, die oben genannten Fehler zu vermeiden.  Erst einmal ist dieser Zuschauer ein Zuschauer – im Unterschied von denjenigen, die von einer Handlung betroffen sind, also den Opfern oder Nutznießern, sowie von denjenigen, die diese Handlung begangen haben, also den Übeltätern oder auch den Wohltätern – allerdings stehen letztere weit weniger im Fokus moralischer Aufmerksamkeit als erstere. Eine Person in der Rolle eines unbeteiligten Zuschauers ist nicht per se schon unparteiisch. Die Frage ist also, wie wir, oder wenigstens einige von uns, lernen können, die Rolle eines unparteiischen Zuschauers auszufüllen.

Opfer, Täter – und ein Gedankenexperiment

Zur Beantwortung dieser Frage entwickelt Smith ein Gedankenexperiment. Am Anfang steht eine Person, die der Meinung ist, von einer anderen Person geschädigt worden zu sein und sich daher über diese Person ärgert (Smith verwendet den Ausdruck ‚resentment‘). Aus ihrem Ärger heraus verurteilt diese Person (das mutmaßliche Opfer) ihren Schädiger (den mutmaßlichen Täter) moralisch. Nun sind, so Smith, Opfer noch viel weniger in der Lage, zu einem unparteiischen Urteil zu kommen, als unbeteiligte Zuschauer. Denn wir alle neigen dazu, uns selbst für wichtiger als alle anderen zu halten und den Schaden zu überschätzen, den uns andere zugefügt haben. Opfer sind besonders wenig disponiert, von einer spontanen Verurteilung ihrer Übeltäter abzusehen und erst einmal weitere Informationen einzuholen oder nach ihren eigenen Vorurteilen und Voreingenommenheiten zu fragen. Andererseits sind auch Opfer daran interessiert, in Übereinstimmung mit anderen zu urteilen und mit diesen in einem Verhältnis gegenseitiger Sympathie und normativer Übereinstimmung zu sein. Wir wissen nur zu gut, dass Opfer, die kein Gehör finden oder denen wir nicht glauben, ein weiteres Mal geschädigt und gekränkt werden. Tatsächlich scheuen viele Opfer daher, ihre Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen. In seinem Gedankenexperiment aber nimmt Smith an, dass die Opfer genau das tun. Im Vertrauen darauf, recht zu haben, wenden sich mutmaßliche Opfer an einen unbeteiligten Dritten oder Zuschauer mit der Aufforderung, ihrer Verurteilung der mutmaßlichen Täter zuzustimmen, d. h., mit ihrem Ärger über die Täter zu sympathisieren und diesen nachzuempfinden und damit als angemessene Reaktion zu billigen und dem darauf gründenden moralischen Urteil über den Täter zuzustimmen.  

Was als Nächstes passiert, ist kompliziert, zu kompliziert, um es hier im Einzelnen darzustellen. Smith Vorstellung ist, dass mutmaßliche Opfer, unbeteiligte Zuschauer und die mutmaßlichen Täter ein Gespräch beginnen, im Laufe dessen sie relevante Informationen teilen und imaginativ ihre jeweiligen Standpunkte tauschen und zu verstehen versuchen, wie verschieden sich dieselben Umstände anfühlen, wenn sie nicht nur von verschiedenen Standpunkten, sondern auch von verschiedenen Personen mit ihren jeweils verschiedenen Empfindlichkeiten erlebt werden. Ziel dieses kommunikativen, aber auch sympathiegeleiteten Austauschs ist es, zu einer einvernehmlichen moralischen Beurteilung dessen zu kommen, was die mutmaßlichen Täter ihren mutmaßlichen Opfern angetan haben. Sofern ihnen das gelingt, erreichen sie einen Zustand gegenseitiger Sympathie. Das gemeinsam erreichte moralische Urteil ist unparteiischer, als es das Urteil war, die die Opfer zunächst spontan und unreflektiert gefällt hatten. Die Teilnehmenden an diesem Austausch erreichen aber nicht nur einen Zustand gegenseitiger Sympathie; auf dem Weg dorthin durchlaufen sie auch einen kognitiven und emotionalen, moralischen Lernprozess. Sie werden sich dessen bewusst, dass ihre spontanen moralischen Urteile oft schlecht begründet sind, weil sie ohne hinreichende Informationen und aufgrund von Vorurteilen und Voreingenommenheiten gefällt werden.  

Diesem Smith’schen Gedankenexperiment lassen sich verschiedene zentrale Lehren der Smith’schen Moralphilosophie entnehmen. Eine moralisch schlechte Handlung ist eine Handlung, mit der ein Täter einem Opfer einen Schaden zufügt. Der Ärger des Opfers, ist, sofern er sich im Austausch mit einem Zuschauer als berechtigt – als sympathiefähig – erweist, der Grund dafür, den Täter moralisch zu verurteilen. Spontane Gefühlsreaktionen von Opfern sind oft nicht unparteiisch; die entsprechenden Urteile verdienen nicht die Billigung – die Sympathie – eines um Unparteilichkeit bemühten Zuschauers. Keiner und keine ist per se ein unparteiischer Zuschauer. Wir alle sind erst einmal parteiisch und schlecht informiert, wenn das uns auch nicht daran hindert, moralische Urteile über andere und uns selbst zu fällen. Aber wir müssen denjenigen, die sich als Opfer fühlen, in jedem Fall Gehör schenken. Wir können nur zusammen lernen, den Zustand der Parteilichkeit hinter uns zu lassen und die Fehler zu korrigieren, die einem unparteiischen Urteil im Weg stehen, einem Urteil, dem zuzustimmen wir alle guten Gründe haben. Wenn wir Konflikte so austragen, wie es Smith in seinem Gedankenexperiment beschreibt, können wir sie einvernehmlich beilegen und auf diesem Weg zu gut begründeten moralischen Urteilen kommen.  

Was aber haben wir heute zu gewinnen, wenn wir Smiths Moralphilosophie studieren? Ist der sympathiegeleitete Austausch zwischen Opfern, Tätern und ihren Zuschauern, wie Smith ihn in seinem Gedankenexperiment beschreibt, nicht zu kompliziert, um ihn zu praktizieren, wenn es darum geht, moralische Konflikte zu lösen? Und abgesehen von der Kompliziertheit stellt sich die Frage, ob wir von mutmaßlichen Tätern, ihren Opfern und deren Zuschauern erwarten können, sich auf einen solchen Austausch einzulassen. Schließlich neigen wir dazu, unsere moralisch schlechten Taten zu leugnen, oder uns zu weigern, jede Verantwortung für diese Taten zu übernehmen. In der Rolle von Opfern neigen wir dazu, auf Rache zu sinnen oder aber, im Bewusstsein unserer Ohnmacht, uns zurückzuziehen und zu schweigen, statt die mutmaßlichen Täter zur Verantwortung zu ziehen. Und wenn wir Zeugen von Konflikten werden, neigen wir dazu, entweder spontan Partei zu ergreifen oder es vorzuziehen, uns nicht einzumischen, wenn wir nicht gleich versuchen, so zu tun, als hätten wir nichts bemerkt.  

Smith war sich dieser Schwierigkeiten durchaus bewusst. Er behauptet keineswegs, mit seinem Gedankenexperiment zu beschreiben, wie sich normale Personen in Konfliktsituationen verhalten. Im Gegenteil, sein Punkt ist, dass normale Personen in einer Weise interagieren, moralisch urteilen und zu einem sozialen Konsens finden, die nicht dazu geeignet ist, ihren Urteilen oder dem faktisch erzielten Konsens irgendeine normative Autorität zu verleihen. Smiths Moralphilosophie ist daher in ihrer Tendenz revisionistisch. Das ist implizit eine Kritik an Humes Moralphilosophie. Smith nimmt aber für sich in Anspruch, moralisch ambitionierten Personen nichts abzuverlangen, was zu tun ihnen gar nicht möglich ist. Dabei beruft er sich, wie wir inzwischen wissen, zu Recht, auf unser Empathievermögen, unser Interesse an gegenseitigem Einvernehmen und moralischem Konsens, und nicht zuletzt auf unsere Überzeugung, dass moralische Urteile richtig oder falsch sein können, dass wir also moralische Urteile nicht für eine Sache des persönlichen oder kulturell geprägten Geschmacks halten. Andernfalls gäbe es in Sachen der moralischen Beurteilungen einzelner Handlungen nichts zu streiten, und wir hätten niemals gute Gründe, eine soziale Praxis für moralisch schlecht zu halten.   

Christel Fricke ist Professorin für Philosophie an der Universität Oslo und forscht schwerpunktmäßig zur Moralphilosophie, Ästhetik und zur Philosophie der Aufklärung. Sie ist Autorin zahlreicher Aufsätze zu Adam Smith und hat die Bände „Adam Smith als Moralphilosoph“ (De Gruyter, 2005) und „Intersubjectivity and Objectivity in Adam Smith and Edmund Husserl“ (Ontos Verlag, 2012) herausgegeben. In Kürze werden ihre Aufsätze „David Hume and Adam Smith on Trust“ und „Adam Smiths Geschichtsphilosophie“ erscheinen. Aktuell arbeitet sie an einer Monographie mit dem Arbeitstitel „Responding to Wrongdoing. Moral theory from the point of view of victims.“ 

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Warum die Reichen bewundert und die Armen verachtet werden

Im sechsten Beitrag unseres gemeinsam mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Bastian Ronge Smiths Analyse des affektiven Fundaments liberaler Gesellschaften – und der ihnen eingeschriebenen Notwendigkeit, ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten.

Interessiert man sich für die bürgerliche Gesellschaft als „affective society“ (vgl. u. a. Slaby/von Scheve 2019), sprich für die Formen und Praktiken affektiver Vergesellschaftung, ohne die die liberale Gesellschaft westlicher Provenienz nicht sie selbst wäre, so kommt man an Adam Smith nicht vorbei. Wie bei kaum einem anderen Denker aus der Entstehungsphase der gegenwärtigen Gesellschaftsformation findet man bei ihm eine ausführliche Reflexion der Gefühlskultur seiner Zeit, gepaart mit kenntnisreichen ökonomischen Analysen und Politikvorschlägen. Das macht ihn zum idealen Untersuchungsgegenstand für all diejenigen, die sich für die Genealogie der Affektivität liberaler Gesellschaften interessieren. Eine Möglichkeit, diese Genealogie zu schreiben, besteht darin, Smith als Befürworter einer Synthese aus den Idealen des antiken Stoizismus und der Empfindsamkeit zu lesen. Was bei solch einer Fokussierung auf Smiths „sensitiven Stoizismus“ (vgl. Ronge 2015) aus dem Blick gerät, ist – und darum soll es mir im Folgenden gehen – der von Smith konstatierte Hang des liberalen Subjekts, ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten. Die entscheidenden Passagen hierzu finden sich in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“.  

Der Hang, nach oben zu bewundern und nach unten zu verachten 

Nachdem Smith den Grundbegriff der „sympathy“ eingeführt und erklärt hat, wie die sympathetische Interaktion zwischen beobachtender und handelnder Person die moralische Beurteilung der letzteren durch die erste bestimmt, wendet er sich im letzten Abschnitt des ersten Teils seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ demjenigen Faktor zu, der dafür sorgt, dass unsere moralische Beurteilungspraxis verzerrt und verfälscht wird. Verantwortlich hierfür ist laut Smith unser „Hang, die Reichen und Mächtigen zu bewundern […], und Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten“ (Smith 2010, 93). Als Ideologe der bürgerlichen Gesellschaft erklärt Smith diesen Hang zu einer „natürlichen“ Disposition aller Menschen und rechtfertigt ihn mit dem Hinweis, dass diese affektive Disposition notwendig sei, „um die Standesunterscheidung und die Ordnung der Gesellschaft zu begründen und aufrechtzuerhalten“ (Smith 2010, 93f.). Zugleich gibt er zu, dass in diesem Hang „die größte und allgemeinste Ursache der Verfälschung unserer ethischen Gefühle“ (Smith 2010, 93f.) liegt. Was ist damit gemeint? 

Eigentlich sollten sich die Gefühle der Bewunderung und der Verachtung ausschließlich auf die moralische Qualität von Handlungen beziehen: Tugendhaftes Verhalten sollte bewundert, lasterhaftes Verhalten verachtet werden. In der gesellschaftlichen Realität „unserer“ moralischen Beurteilungspraxis kommt es jedoch, so Smith, zu einer folgenreichen Verschiebung: Es sind „keineswegs Weisheit und Tugend die einzigen Gegenstände der Achtung, noch Laster und Torheit die einzigen Gegenstände der Verachtung“ (Smith 2010, 94). Vielmehr richtet sich unsere Bewunderung „auf die Reichen und Vornehmen“ (als auf die Tugendhaften und Weisen) und unsere Verachtung auf die „Armut und Schwäche des Unschuldigen“ (statt auf die Lasterhaften) (Smith 2010, 94). Das bürgerliche Subjekt bewundert ‚nach oben‘ und verachtet ‚nach unten‘. Es ist fasziniert von dem „Mann von Rang und Distinktion“ (Smith 2010, 79) und „begierig, nach ihm zu schauen“, um mittels Sympathie „jene Freude und jene Heiterkeit nachzuempfinden“ (Smith 2010, 79), welche die Reichen und Mächtigen angesichts ihres Lebensstils fühlen. Ihm erscheint ihr Leben so nah an seiner „Vorstellung eines vollkommenen und glücklichen Zustandes“, dass er den Reichen und Mächtigen bereitwillig „in all ihren Neigungen“ unterstützt und ihnen bei „all ihre[n] Wünsche[n]“ (Smith 2010, 80) zu Diensten ist. 

Aus demselben Grund sind wir gegenüber den Reichen und Mächtigen besonders mitfühlend und nachsichtig. „Jedes Unglück, das sie befällt, jede Beleidigung, die ihnen zugefügt wird, erregt […] zehnmal mehr Mitleid und Vergeltungsgefühl“ in uns, so Smith, als wir „empfinden würde[n], wenn dieselben Dinge anderen Menschen widerfahren“ (Smith 2010, 80). Zugleich halten wir ihre „Laster und Torheiten“ für „weit weniger“ (Smith 2010, 94) moralisch problematisch, als wenn die gleichen Fehler von jemand anderem begangen worden wären – zum Beispiel von jemandem, der gesellschaftlich unter uns steht. Hier verkehren sich die Vorzeichen der bürgerlichen Affektivität und an die Stelle der Nachsichtigkeit tritt besondere Strenge: 

„Die Verworfenheit eines Mannes von Welt wird mit weit weniger Verachtung und Abneigung betrachtet, als die eines Mannes aus niedrigerem Stande. Dem letzteren wird gemeinhin eine einzige Übertretung der Regeln der Mäßigkeit und Schicklichkeit weit mehr übel genommen, als dem ersteren die beständige und eingestandene Mißachtung dieser Regeln.“ (Smith 2010, 96)

Und an die Stelle des überbordenden Mitgefühls tritt eine Form der Gleichgültigkeit, die jederzeit in offene Aggressivität umschlagen kann, wie zwischen den Zeilen deutlich wird:   

„Unbeachtet kommt und geht der arme Mann und inmitten einer Menschenmenge befindet er sich in der gleichen Verborgenheit, wie wenn er in seiner Hütte eingeschlossen wäre. Jene niedrigen Sorgen und jene kümmerlichen Interessen, welche einen Menschen in seiner Lage beschäftigen, gewähren liederlichen und fröhlich gestimmten Menschen keine Unterhaltung. Sie wenden ihre Augen von ihm ab oder, wenn das Übermaß seines Elends sie zwingt, nach ihm zu blicken, dann geschieht es nur, um einen so unangenehmen Gegenstand aus ihrer Mitte hinwegzustoßen.“ (Smith 2010, 79)

Mit anderen Worten: Der vermeintlich natürliche Hang ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten, führt dazu, dass die bürgerliche Urteilspraxis verzerrt und verfälscht wird. Dieser systematisch verzerrte Blick auf die Gesellschaft ist jedoch der Preis, der für die Einrichtung und Bewahrung der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung zu zahlen ist. Denn: Wenngleich Smith mit seiner Analyse des bürgerlichen Affekthaushalts als einer Mischbatterie aus Bewunderung und Verachtung in erster Linie darauf abzielt, das Phänomen der „Verfälschung unserer ethischen Gefühle“ zu erklären, so machen seine Überlegungen zugleich deutlich, dass diese falsche Beurteilungspraxis integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Reproduktion ist. 

Bewunderung und Verachtung als Reproduktionsmechanismus 

Smith lässt keinen Zweifel daran, dass die moralische Beurteilungspraxis des bürgerlichen Subjekts politische Revolutionen sehr unwahrscheinlich macht. Die Verachtung für die ‚da unten‘ sorgt dafür, dass ihr Leid ignoriert, ihr politisch geäußerter Unmut überhört, und ihre Wut, wenn sie sich Bahn bricht, moralisch verurteilt wird, während die daraufhin ins Werk gesetzten Repressionen aufgrund des übertriebenen Mitgefühls mit den Mächtigen auf übertriebenes Verständnis in der „Mitte“ der Gesellschaft trifft. Selbst „wenn die Ordnung der Gesellschaft es zu fordern scheint, daß wir ihnen [den Mächtigen, B.R.] Widerstand leisten“, so „vermögen wir es doch kaum über uns zu bringen, dies zu tun.“ (Smith 2010, 92) Selbst die „stärksten Triebfedern, die wütendsten Affekte“ reichen nicht aus, um unseren „natürlichen Hang, ihnen Ehre zu erweisen“ (Smith 2010, 82) zu überwinden. Wir, die Bürger, bringen es einfach nicht übers Herz, jenen entgegenzutreten, die wir bewundern – egal, wie toxisch ihr Verhalten für Natur und Gesellschaft ist.

Der bürgerliche Affekthaushalt sichert nicht nur den Bestand der liberalen Gesellschaftsordnung, sondern versorgt sie auch mit der notwendigen ökonomischen Energie. Das Streben des bürgerlichen Subjekts nach der materiellen Verbesserung seiner Lebenslage verdankt sich laut Smith nämlich nicht seinem natürlichen Egoismus (wie neoklassische Ökonom*innen gerne unter Hinweis auf Smith behaupten), sondern seinem Verlangen danach, die „Bewunderung der Menschen zu verdienen […] und zu genießen“ (Smith 2010, 94) bzw. seiner Angst davor, zum Gegenstand der Verachtung seiner Mitbürger zu werden. 

„Weil die Menschen geneigt sind, aufrichtiger mit unserer Freude zu sympathisieren als mit unserem Leid, pflegen wir gewöhnlich mit unserem Reichtum zu prunken und unsere Armut zu verbergen. […] Ja, es kommt hauptsächlich von dieser Rücksicht auf die Gefühle der Menschen, daß wir den Reichtum anstreben und daß wir der Armut zu entrinnen trachten.“ (Smith 2010, 77)

Wenn das Streben nach Bewunderung und die Vermeidung von Verachtung die affektiven Gründe für unser ökonomisches Verhalten ausmachen, dann drängt sich der Verdacht auf, dass das bürgerliche Subjekt eine starke Präferenz für ‚ehrbare Berufe‘ hat und eine starke Aversion gegenüber ‚liederlichen Tätigkeiten‘. Tatsächlich kommt Smith in seinem „Wohlstand der Nationen“ auf dieses Thema zu sprechen. Im Kontext seines Versuches, die Lohndifferenzen in den unterschiedlichen Sektoren des Arbeitsmarktes zu erklären, räumt er dem Faktor „Ehre“ bzw. „Ehrlosigkeit“ (Smith 2012, 171) eine entscheidende Rolle ein. Allerdings mit einer überraschenden Pointe: Laut Smith sorgen Mühseligkeit, Schmutzigkeit oder Unbeständigkeit einer Tätigkeit dafür, dass diese „überdurchschnittlich“ entlohnt wird im Vergleich zu Tätigkeiten, die leicht, sauber und beständig sind. Dass letztere „unterdurchschnittlich“ bezahlt werden, liegt wiederum daran, dass die Ehre „einen großen Teil des Entgelts“ (Smith 2012, 171) ausmacht. Auch wenn Smith an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf seine Überlegungen in der „Theorie der ethischen Gefühle“ zurückgreift, so scheint der Zusammenhang klar: Die „ehrbaren“ Tätigkeiten können deswegen niedriger entlohnt werden, weil sie dem Arbeitnehmer garantieren, dass er für seine Tätigkeit nicht verachtet wird. Ein Mechanismus, der auch in der Gegenwartsökonomie zu beobachten ist, wenn schlecht bezahlte Tätigkeiten durch die Bemäntelung mit „Titeln“ wie Manager oder Assistent symbolisch aufgewertet werden. 

Die „entgegengesetzte Wirkung“ (Smith 2012, 171) lässt sich laut Smith bei der Entlohnung von ehrlosen Tätigkeiten beobachten: „Das Gewerbe eines Metzgers ist ein blutiges und widerwärtiges Geschäft; aber an den meisten Orten ist es einträglicher als die Mehrzahl der anderen gewöhnlichen Gewerbe.“ (Smith 2012, 171) Warum? Weil mit dem Geld der Ehrverlust kompensiert werden muss, der mit dem Ausüben der Tätigkeit einhergeht. Ähnlich erklärt Smith die „maßlos hohen Entgelte“ für „Schauspieler, Opernsänger, Balletttänzer usw.“ (Smith 2012, 176). Smith scheint hier nicht sehen zu wollen oder nicht sehen zu können, dass sich die Ausübung von ehrbaren bzw. ehrlosen Berufen nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt, sondern in hohem Maße mit der „Standesunterscheidung“ korreliert, deren Konstitution und Reproduktion er mit Rückgriff auf unseren Hang zur Bewunderung bzw. zur Verachtung analysiert hat. Die Markierung von Tätigkeiten als „ehrlos“ und ihre Zuordnung zu unterschiedlichen Personengruppen wie z. B. Migrant*innen ist ein, wenn nicht das zentrale Medium der bürgerlichen Gesellschaft, um den Affekt der Verachtung mobilisieren und somit ihre Stimmen überhören und ihre Anwesenheit übersehen zu können. Denn: Jemanden zu verachten, bedeutet nicht nur, ihm oder ihr die Würde abzusprechen (wie man mit Kant sagen könnte) oder ihm oder ihr Anerkennung vorzuenthalten (wie man mit Hegel und der von ihm inspirierten Anerkennungstheorie argumentieren könnte), sondern auch und vor allem ihn oder sie zu ignorieren. Der Affekt der Verachtung umfasst auch – wie man von frühneuzeitlichen Denkern wie Hobbes oder Spinoza lernen kann – kühle Gleichgültigkeit. 

Jemanden zu verachten bedeutet, ihn oder sie zum Nicht-Gegenstand der eigenen Wahrnehmung zu machen. Dass solch eine Nicht-Wahrnehmung mit einem Nicht-Wissen einhergeht, das politisch höchst relevant ist, haben anti-rassistische Theoretiker*innen wie Linda Alcoff, Shannon Sullivan oder Charles Mills gezeigt und auf den Begriff der white ignorance gebracht (vgl. exemplarisch: Sullivan/Tuana 2007). Vor dem Hintergrund der smithschen Analyse ließe sich fragen, ob diese Analysen (weißen) Nicht-Wissens noch durch eine Analyse (weißer) Bewunderung ergänzt werden können und sollten. Vielleicht lässt sich das Erfolgsgeheimnis von rassistisch, sexistisch oder klassistisch agierenden Populisten wie Silvio Berlusconi oder Donald Trump erst dann richtig verstehen, wenn man sieht, dass sie ihren Wähler*innen nicht nur erlauben, ihrer Verachtung ‚nach unten‘ freien Lauf zu lassen, sondern sich ihnen zugleich als Projektionsfläche anbieten, damit sie ihr Bedürfnis ‚nach oben‘ zu bewundern befriedigen können. 

Dr. Bastian Ronge wurde 2012 mit einer Arbeit über Adam Smith und Michel Foucault promoviert. Seit 2020 ist er als Mentor für das Fach Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal tätig und forscht und lehrt dort aus sozialphilosophischer Perspektive zu Fragen rund um das Thema Bildung und Diversität. In seinem aktuellen Projekt widmet er sich dem Zusammenhang von „Verachtung und Arbeitsteilung“. 

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Der Zweck heiligt den Markt: Adam Smith in Deutschland

Im fünften Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Lennart Riebe, anhand der Schriften des Gelehrten Georg Sartorius, der Frage, wie Smiths Denken im deutschen Kameralismus aufgenommen und diskutiert wurde. Dort gingen Marktliberalismus und Etatismus eine historisch folgenreiche Synthese ein.

Als Adam Smith 1776 seine Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations publizierte, blieb die Reaktion in den deutschen Staaten des Alten Reichs zunächst ziemlich verhalten. Obwohl eine Übersetzung nicht lange auf sich warten ließ und in Teilen bereits im selben Jahr von Johann Friedrich Schiller, einem Cousin des Dichters, besorgt wurde, zeigte das deutsche Gelehrtenpublikum vorerst kein übermäßiges Interesse am Werk des Schotten. Doch das blieb nicht lange so.

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Die Revolution der Sympathie: Adam Smith in Frankreich

Im vierten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Patrick Samtlebe der Frage, wie Smiths Denken im postrevolutionären Frankreich aufgenommen und diskutiert wurde, um eine stabile bürgerliche Gesellschaftsordnung aus Freien und Gleichen zu begründen.

Zu den Kernanliegen der jüngeren Adam Smith-Forschung zählt die Revision einer bis heute wirkmächtigen Smith-Deutung, die den schottischen Moralphilosophen als staatsfeindlichen Laisser-faire-Ideologen präsentiert hat, dessen Philosophie der Sympathie in einem eklatanten, mindestens aber klärungsbedürftigen Spannungsverhältnis zu seiner politischen Ökonomie zu stehen schien. Die Ursprünge dieses Zerrbildes haben rezeptionshistorische Untersuchungen in britischen Diskursen um 1800 ausgemacht. Damals begann man, Smiths Politökonomie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang, der aufklärerischen Debatte um das „complex interplay of ethics, economics, commerce, government and civilisation“, herauszulösen und sie als Gründungsdokument einer marktliberalen Spezialwissenschaft der Ökonomie zu lesen (Tribe 1995 [Zitat S. 28]; Rothschild 1992).

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Die Wirtschaft als soziale Maschine

Im dritten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmen sich Walter Ötsch und Silja Graupe der Bedeutung Newtons für Smiths Systembildung – und der Frage, welchen Erfahrungsverlust die Ökonomik damit in Kauf nahm.

Adam Smith gilt als der Ahnvater der Nationalökonomie. Neoliberale sehen in ihm etwa den Entdecker „der unsichtbaren Hand des Marktes“ – das steht in vielen Lehrbüchern der Mikro- und Makroökonomie. Aber solche Deutungen sind historisch gesehen mehr als fragwürdig. Oft pickt man sich einzelne Werke (meist nur den Wealth of Nations) oder gar nur einzelne Textpassagen heraus und verwendet sie als Beleg für eigene Meinungen. Will man Smith gerecht werden, dann muss zumindest zweierlei beachtet werden. Zum einen ist auf die Einheit und Eigenart der vielen Theorien bei Smith abzuzielen. Zum anderen muss versucht werden, grundlegende Begriffe aus und in ihrem historischen Kontext zu verstehen. 

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Wie Adam Smith den Kapitalismus erfand – oder so ähnlich

Im zweiten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Christian E. W. Kremser den häufig übersehenen utopischen und geschichtsphilosophischen Elementen in Smiths Denken.

Adam Smith gilt in der ökonomischen Theoriegeschichte – ja, richtig gelesen, so etwas gibt es wirklich, auch wenn sie unter den Disziplinen der Volkswirtschaftslehre heute allenfalls noch ein trauriges Randdasein fristet – als Begründer der ‚Klassik‘. Mit dieser Epochenbezeichnung geben die meisten Darstellungen der Geschichte des ökonomischen Denkens wiederum den Entstehungszeitpunkt der Volkswirtschaftslehre an. Smith wird auf diese Weise zum Ahnvater einer ganzen Wissenschaft stilisiert. Um dieses – zugegebenermaßen nicht unbegründete – historische Urteil zu rechtfertigen, wird für gewöhnlich vorgebracht, dass sich mit der Klassik eine Entwicklung Bahn gebrochen habe, in der sich die Ökonomik schrittweise von einer normativen hin zu einer positiven Disziplin wandelte. Dieser Prozess habe mit dem allmählichen Auseinanderbrechen der klassischen Trias der praktischen Philosophie begonnen und sei schließlich in der Konstitution der Ökonomik als einer eigenständigen Wissenschaft gegipfelt. Die seinerzeit neu aufgekommene Vorstellung, dass es Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln geben könnte, die sich unabhängig von ihren Intentionen erklären ließen, markiere dabei den Startschuss für die Emanzipation der Ökonomik von der Philosophie.

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Der verdrehte Mr. Smith

Im ersten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Sebastian Thieme der Vereinnahmung und Ambivalenz der ‚Unsichtbaren Hand‘ – und der Frage, wie es um die historische Selbstreflexion der Ökonomik als Disziplin steht.

Irgendwann im Juni 1723 soll es gewesen sein, dass er das Licht der Welt erblickte: Adam Smith, der schottische Moralphilosoph, der bekanntlich von vielen Fachleuten der Ökonomik als Gründungsvater ihrer Disziplin vereinnahmt wurde. Das Schaffen von Adam Smith umfasst vor allem den populären Wealth of Nations (Wohlstand der Nationen) und die bekannte Theory of Moral Sentiments (Theorie der ethischen Gefühle), aber auch die „Essays über philosophische Gegenstände“ sowie die Vorlesungen über Rhetorik und Jurisprudenz. Seine Texte sind vielschichtig und auch heute noch mit Gewinn zu lesen. Doch lässt sich ihnen auch eine gewisse Ambivalenz attestieren, die Smith als Kritiker an wirtschaftsliberal und wirtschaftstheoretisch sehr eng gefassten Perspektiven erscheinen lässt, ihn aber andererseits ebenso für eine marktfundamentalistische Vereinnahmung offenhält. Deshalb verwundert es nicht, dass Smith missverstanden, verklärt und einseitig vereinnahmt werden konnte. Besonders eindrücklich zeigt sich das an der Metapher von der „unsichtbaren Hand“. 

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Schwerpunkt: Die vielen Gesichter des Adam Smith

Adam Smiths Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 300. Mal. – Der Politik & Ökonomie Blog und der Theorieblog nehmen das diesjährige Smith-Jubiläum zum Anlass, sich in einem auf beiden Seiten veröffentlichten Schwerpunkt dem schottischen Moralphilosophen und politischen Ökonomen zu widmen. Für dieses Kooperationsprojekt konnten Forscherinnen und Forscher aus der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und der Politikwissenschaft gewonnen werden, die Smith auf Fragen unserer Zeit beziehen, ihn in seiner Zeit verorten, seiner theoriegeschichtlichen Bedeutung nachspüren und Einblicke in die Wirkungsgeschichte seines Werkes geben.  (mehr …)

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