Ein Plädoyer für die Rettung der Bedürfnisse

In ihrem programmatischen Essay 11 Theses on Needs haben Robin Celikates, Rahel Jaeggi, Daniel Loick und Christian Schmidt – anknüpfend an Adornos Thesen über Bedürfnis – Ansätze einer zeitgenössischen kritischen Theorie der Bedürfnisse skizziert. Darin argumentieren sie, dass Bedürfnisse nicht vorpolitisch gegeben, sondern gesellschaftlich vermittelt sind und durch Unterdrückung und Ausbeutung geprägt werden. Statt einer substanziellen Kritik ‚falscher‘ Bedürfnisse sollten daher die Bedingungen problematisiert werden, unter denen Bedürfnisse erzeugt, artikuliert und befriedigt werden. Anstatt von vermeintlichen Grundbedürfnissen auszugehen, plädieren die Autor:innen für eine Kritik und Transformation von Bedürfnissen im Rahmen einer ‚radikaldemokratischen Politik der Bedürfnisse‘, die die freie und gleiche Teilnahme aller an kollektiven Prozessen der Bedürfnisformation in den Mittelpunkt stellt. Einen politischen Bezug auf kontextübergreifende Grundbedürfnisse lehnen sie hingegen als potenziell autoritäre Sackgasse ab. In der folgenden Replik unternehmen wir den Versuch, den Bedürfnisbegriff vor einer solchen Denaturalisierung und Formalisierung, in der die Prozesse der Bedürfnisformation und nicht die Bedürfnisse selbst im Mittelpunkt stehen, zu retten und ihn als Ausgangspunkt substanzieller gesellschaftskritischer Kontestation stark zu machen.

Bedürfnisse sind spätestens seit Rousseau und Marx ein bedeutender Begriff der kritischen Theorie. Soziale Bewegungen, politische Parteien und andere soziale Akteur:innen beziehen sich oft – explizit oder implizit – auf Bedürfnisse. Im bereits erwähnten Essay haben Vertreter:innen  der zeitgenössischen deutschen kritischen Theorie 11 Thesen über Bedürfnisse formuliert und für eine kritische Reflexion des Begriffs plädiert. Obwohl wir einigen ihrer Punkte zustimmen, halten wir ihren negativistischen Ansatz, der einen positiv-substanziellen Bezug auf Bedürfnisse vermeidet, dennoch für unzureichend und sind der Überzeugung, dass sie naturalistische Perspektiven zu vorschnell beiseiteschieben. In dieser Erwiderung skizzieren wir daher einen alternativen Ansatz, über Bedürfnisse nachzudenken.

Bedürfnisse sind etwas, das wir mit nichtmenschlichen Tieren und sogar Pflanzen teilen. Wenn wir zum Beispiel über die Bedürfnisse eines Hundes sprechen, setzen wir charakteristische Merkmale voraus, die typisch für Hunde sind und auf denen entsprechende Bedürfnisse beruhen. Im Fall des Menschen ist diese Verbindung jedoch komplizierter als bei nichtmenschlichen Tieren.

Wir stimmen mit den Autor:innen der 11 Thesen über Bedürfnisse überein, dass menschliche Bedürfnisse eine unaufhebbare gesellschaftliche Dimension haben. Daher ist es wichtig zu präzisieren, auf welche Weise menschliche Bedürfnisse gesellschaftlich vermittelt sind. Es scheint vier solcher Vermittlungen zu geben: Erstens werden menschliche Bedürfnisse unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlich ausgedrückt. Die Sprache, die wir verwenden, prägt die Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse interpretieren und erfüllen (oder aufschieben). Zweitens hängt die Befriedigung von Bedürfnissen von sozialen Strukturen ab, die sich im Laufe der Zeit verändern. Drittens ist auch die Art und Weise, wie wir über unsere Bedürfnisse denken und lernen, gesellschaftlich bedingt. Viertens können sich, weil die menschliche Natur selbst zu einem gewissen Grad Wandel unterworfen ist, die aus ihr resultierenden Bedürfnisse in begrenztem Maße ändern (man denke etwa an historische Veränderungen in der menschlichen Anatomie).

Jedoch folgt aus unserer Sicht aus keiner dieser Annahmen über die gesellschaftliche Vermittlung von Bedürfnissen, dass (i) Menschen keine Grundbedürfnisse haben oder dass (ii) wir nicht einige dieser Grundbedürfnisse positiv identifizieren können. Die Autor:innen scheinen zu glauben, dass die natürliche und gesellschaftliche Dimension von Bedürfnissen nicht analytisch getrennt werden kann. Sobald wir jedoch zwischen den verschiedenen Abstraktionsebenen unterscheiden, wird es möglich, Grundbedürfnisse (wie beispielsweise die nach Nahrung, Unterkunft, Gesundheit und Sicherheit; nach Freiheit, Kommunikation, sinnstiftender Tätigkeit, Freundschaft und Gemeinschaft) von den verschiedenen gesellschaftlich spezifischen Möglichkeiten, sie auszudrücken und zu erfüllen, zu unterscheiden. Die Vielfalt der Bedürfnisse bezieht sich auf ihre je spezifische historische Form – die benötigte Nahrung kann als nordchinesisches oder südindisches Essen in vegetarischer, veganer oder Paleo-Zubereitung kommen. Aber auf grundlegender Ebene befriedigen sie alle das unverzichtbare Bedürfnis nach Nahrung. Gleiches gilt für Sprechtrommeln, Zeitungen oder das iPhone 13 – sie alle befriedigen dasselbe Bedürfnis: Kommunikation. Und so weiter.

In ihrer dritten These scheinen die Autor:innen zuzugeben, dass diese Unterscheidung zwischen allgemeinen Bedürfnissen und deren spezifischen Ausdrucksweisen durchaus möglich ist, da sie behaupten, dass Forderungen nach allgemeinen Bedürfnissen bedeutungslos und politisch inhaltsleer seien. Dies vernachlässigt, dass Hunger, Bürgerkrieg, Not, Vertreibung und Krankheit an vielen Orten äußerst real sind: Es ist keineswegs sinnlos zu fordern, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen erfüllt werden sollten, egal wer sie sind oder wo sie leben. Mit diesem Anspruch würde man sehr viel aufgeben müssen.

Uns ist nicht klar, ob und inwiefern die Autor:innen zwischen Bedürfnissen einerseits und Wünschen oder Präferenzen andererseits unterscheiden. In These 8 sprechen sie zum Beispiel in einem Atemzug von Bedürfnissen, Präferenzen und Wünschen. Die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Präferenzen ist aber aus zwei Gründen wichtig: Erstens wird unklar, warum wir überhaupt auf den Begriff der Bedürfnisse zurückgreifen sollten, wenn wir nicht zwischen Bedürfnissen und Präferenzen unterscheiden. Zweitens ist es aus gesellschaftskritischer Perspektive entscheidend zu betonen, dass Präferenzen nicht natürlich gegeben, sondern gesellschaftlich geformt sind und sich an schwierige Umstände oder auch durch Manipulation anpassen können. Autor:innen wie Amartya Sen und Martha Nussbaum haben immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen. Dabei zeigt Nussbaum, dass die Tatsache, dass Präferenzen adaptiv sein können, damit vereinbar ist, eine Liste grundlegender menschlicher Befähigungen und Bedürfnisse aufzustellen.

Menschliche Grundbedürfnisse scheinen weniger veränderlich und anpassungsfähig zu sein als Präferenzen. Als Beleg für den entgegengesetzten Standpunkt, dass man grundlegende menschliche Bedürfnisse nicht auf ,klare oder kontextübergreifende Weise‘ definieren könne, führen die Autor:innen das Bedürfnis nach einem Auto als etwas an, das ‚sowohl als grundlegend als auch stark kontextabhängig‘ erscheine. Aus unserer Perspektive erscheint dieses Bedürfnis (oder genauer gesagt: diese Präferenz mit zugrunde liegenden Bedürfnissen) überhaupt nicht als grundlegend. Im Gegenteil, es ist für die kritische Theorie ebenso entscheidend wie aufschlussreich zu fragen, welche grundlegenden Bedürfnisse dem Verlangen nach dem Besitz eines Autos zugrunde liegen: zum Beispiel das Bedürfnis nach Mobilität oder nach sozialer Anerkennung – Grundbedürfnisse, die je nach gesellschaftlichem Kontext in sehr unterschiedlichen Formen zum Ausdruck gebracht und erfüllt werden. Dies ermöglicht es uns, zu fragen, ob diese grundlegenden Bedürfnisse potenziell auf andere Weisen erfüllt werden können, die zum Beispiel weniger umweltzerstörerisch, gefährlich oder atomisierend sind als die aktuellen sozialen Strukturen erlauben, die viele Menschen dazu zwingen, ein Auto zu besitzen und zu fahren.

Wir glauben, dass der fallible Versuch, Grundbedürfnisse zu identifizieren, für die kritische Theorie in folgenden Punkten lohnend sein kann: Wie eingangs erwähnt, können grundlegende menschliche Bedürfnisse als Basis dienen, um (i) bestimmte Präferenzen zu kritisieren; (ii) diese Präferenzen durch Grundbedürfnisse zu erklären und (iii) alternative Möglichkeiten zur Erfüllung dieser Bedürfnisse aufzuzeigen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass wir (iv) gesellschaftliche Verhältnisse auf der Grundlage von Bedürfnissen kritisieren können. Dabei können wir (v) die Maßstäbe unserer Kritik ausweisen, (vi) die Strukturen identifizieren, die die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse blockieren, und (vii) in vorläufiger Weise die Richtung anzeigen, in die diese Strukturen transformiert werden sollten. Indem wir Gesellschaftskritik in den Begriffen von Bedürfnisbefriedigung formulieren, sprechen wir schließlich (viii) dieselbe Sprache wie gesellschaftliche Akteur:innen und Bewegungen, die gegen die Frustration ihrer Bedürfnisse protestieren.

Die Autor:innen befürchten, dass ein solcher Ansatz zu einer autoritären Auferlegung von Bedürfnissen führen könnte. Doch ein Ansatz, der auf Grundbedürfnissen basiert, muss keine autoritären Implikationen haben. Im Gegenteil könnte er gerade darauf hinauslaufen, reale gesellschaftliche Akteur:innen und ihre Anliegen ernster zu nehmen. Wenn Akteur:innen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf grundlegende Bedürfnisse verweisen, sollte eine kritische Theorie diese Forderungen unterstützen, anstatt den Appell an Bedürfnisse zu kritisieren und zu überwinden versuchen. Kritische Theorie sollte unserer Ansicht nach mit sozialen Bewegungen und anderen gesellschaftlichen Akteur:innen auf der Ebene von deren substanziellen Anliegen interagieren, anstatt aus der Distanz Prozeduren zu empfehlen, nach denen die Akteur:innen die Dinge selbst herausfinden sollen. Das bedeutet nicht, dass wir diese Anliegen immer teilen, aber wir können – wie etwa im Fall der Gilets Jaunes – gemeinsam nach alternativen Lösungen suchen (zum Beispiel bessere öffentliche Verkehrsmittel statt subventioniertem Benzin). Wenn wir den Akteur:innen zuhören und ihre Belange und Forderungen ernst nehmen, können wir das drohende Gespenst des Autoritarismus vermeiden. Ein solcher Ansatz würde nicht nur zu einer engeren Interaktion zwischen kritischer Theorie und ihren Adressat:innen beitragen, sondern auch substanzielle Antworten auf die Gegner:innen emanzipatorischer Politik hervorbringen.

Am Ende ihrer 11 Thesen fordern die Autor:innen eine ‚radikaldemokratische Politik der Bedürfnisse‘. Diese Forderung ist gleichermaßen wohlklingend wie abstrakt. Eine kritische Theorie sollte stattdessen konkrete Wege aufzeigen, die zu einer Verbesserung des Wohlergehens der Menschen führen, zum Beispiel ein egalitäres Schulsystem oder eine Politik der Umverteilung. Mit anderen Worten: Emanzipatorische Politik erfordert die – natürlich immer nur vorübergehende – Institutionalisierung von erkämpftem sozialem Wandel. Diese kann erstens durch die Formulierung möglichst konkreter Rechte erfolgen, die üblicherweise mit entsprechenden Grundbedürfnissen korrespondieren, und zweitens durch das Aufzeigen demokratischer Wege politischer Gestaltung, die nicht zu neuen Ausschlüssen führen.

Wenngleich nie unumstritten, ist ein naturalistischer Ansatz wie der von uns vorgeschlagene schon immer Teil der kritischen Theorie gewesen. Eine starke naturalistische Strömung zieht sich durch Marx’ Werk, wenn er immer wieder auf die menschliche Natur als Basis grundlegender menschlicher Bedürfnisse aufmerksam macht. Dasselbe gilt für Marcuse, Fromm, sogar Habermas (im Jahr 2001); für Dewey, Freud, Chomsky und feministische Materialist:innen. Eine solche naturalistische Perspektive ist damit ein wesentlicher Bestandteil der Diskussion über Bedürfnisse innerhalb der kritischen Theorie.

Eine kritische Theorie muss eine praktische Philosophie sein. Sie muss zu gesellschaftlichem Wandel beitragen. Wir leben in einer Welt, in der die grundlegenden Bedürfnisse von Milliarden von Menschen und nicht-menschlichen Wesen unerfüllt bleiben, und dieser Zustand droht sich in der Zukunft noch zu verschlimmern. Unsere zentrale Aufgabe als kritische Theoretiker:innen besteht darin, diejenigen sozialen Strukturen zu identifizieren, zu erklären und zu transformieren, die zur kontinuierlichen (Re-)Produktion dieser Situation beitragen.

 

Luca Hemmerich, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt

PD Dr. Christoph Henning, Fellow am Max Weber Centre for Advanced Cultural and Social Studies, Universität Erfurt

Prof. Dr. Dirk Jörke, Arbeitsbereichsleitung Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt

Katharina Liesenberg, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt, derzeit Democracy Visiting Fellow des Ash Center for Democratic Governance and Innovation (Harvard Kennedy School)

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