Wie Adam Smith den Kapitalismus erfand – oder so ähnlich

Im zweiten Beitrag unseres mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Christian E. W. Kremser den häufig übersehenen utopischen und geschichtsphilosophischen Elementen in Smiths Denken.

Adam Smith gilt in der ökonomischen Theoriegeschichte – ja, richtig gelesen, so etwas gibt es wirklich, auch wenn sie unter den Disziplinen der Volkswirtschaftslehre heute allenfalls noch ein trauriges Randdasein fristet – als Begründer der ‚Klassik‘. Mit dieser Epochenbezeichnung geben die meisten Darstellungen der Geschichte des ökonomischen Denkens wiederum den Entstehungszeitpunkt der Volkswirtschaftslehre an. Smith wird auf diese Weise zum Ahnvater einer ganzen Wissenschaft stilisiert. Um dieses – zugegebenermaßen nicht unbegründete – historische Urteil zu rechtfertigen, wird für gewöhnlich vorgebracht, dass sich mit der Klassik eine Entwicklung Bahn gebrochen habe, in der sich die Ökonomik schrittweise von einer normativen hin zu einer positiven Disziplin wandelte. Dieser Prozess habe mit dem allmählichen Auseinanderbrechen der klassischen Trias der praktischen Philosophie begonnen und sei schließlich in der Konstitution der Ökonomik als einer eigenständigen Wissenschaft gegipfelt. Die seinerzeit neu aufgekommene Vorstellung, dass es Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln geben könnte, die sich unabhängig von ihren Intentionen erklären ließen, markiere dabei den Startschuss für die Emanzipation der Ökonomik von der Philosophie.

Als Paradebeispiel hierfür wird dann stets auf Smiths Analogie einer „unsichtbaren Hand“ (Smith, 2013 [1776], IV.ii.9) verwiesen. Nach dieser kann – freilich nur unter bestimmten Voraussetzungen, was in populären Lesarten indes gerne unerwähnt bleibt – das egoistische Handeln der Menschen in für das Gemeinwohl förderliche Bahnen gelenkt werden, ohne dass die betreffenden Menschen es beabsichtigen würden. Die potenzielle Existenz solcher nicht-intendierter Folgen menschlichen Handels bildete den Stein des Anstoßes, um fortan über soziale Gesetzmäßigkeiten nachzudenken. So weit, so gut. 

Dieses Bild von Smith und seiner theoriegeschichtlichen Bedeutung leistete allerdings dem weitverbreiteten Missverständnis Vorschub, dass dieser mit seinen Ausführungen zur – wie er sie nennt – „kommerziellen Gesellschaft“ (Smith, 2013 [1776], I.iv.1) als erster Ökonom die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschrieben hat (vgl. beispielsweise Kromphardt, 2015, S. 45–96). Außer Acht gelassen wird in diesem Zusammenhang regelmäßig, dass Smith selbst gerade so noch die Anfänge der industriellen Revolution miterlebte, welche heute wirtschaftshistorisch oft als die Anfänge eines modernen Kapitalismus gelten. Dieser ist durch ein Privateigentum an den Produktionsmitteln, Kapital und dessen Verwertbarkeitslogik, nach der Gewinne stets reinvestiert werden müssen, gekennzeichnet. Die gesamtgesellschaftliche Steuerung der Produktion und des Konsums geschieht in ihm dezentral über den Markt, wo Angebot und Nachfrage unter Wettbewerbsbedingungen über den Preis bestimmen. Smiths Ausführungen zur kommerziellen Gesellschaft in ihrer liberalen Spielart – was damit gemeint ist, dazu gleich mehr – stellen insofern keine theoretische Analyse einer bereits bestehenden Wirtschaftsordnung dar, sondern den Entwurf einer fiktiven, erst noch zu realisierenden. Smith hat folglich nicht als der ‚Entdecker‘ des Kapitalismus zu gelten, sondern vielmehr als sein ‚Erfinder‘.2 Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, braucht man sich bloß des ideengeschichtlichen Kontextes zu vergegenwärtigen, in dem seine Ausführungen zur kommerziellen Gesellschaft stehen.  

Eine Smith’sche Geschichtsphilosophie  

Wir schreiben das Jahr 1765. Niemand anderes als Voltaire veröffentlicht eine Schrift mit dem Titel La Philosophie de l’histoire und gibt damit einem neuen philosophischen Fach seinen Namen: der Geschichtsphilosophie. Diese tritt mit dem Anspruch auf, eine bislang unbemerkte Logik, die den historischen Ereignissen unterliegt, aufdecken zu können. Unzählige geschichtsphilosophische Entwürfe werden in der Folgezeit vorgelegt, und zwar von so gut wie allen namenhaften Aufklärern. Auch Smith stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Das Besondere an seiner Geschichtsphilosophie ist nun aber, dass sie zu den ersten Konzeptionen einer Fortschrittstheorie gehört, die in der Geschichte einen stetigen Prozess zum Besseren vonstattengehen sieht. 

Smith gliedert dabei die Geschichte der Menschheit in seinem Wohlstand der Nationen anhand verschiedener Stufen, wobei er die Subsistenzweise als Abgrenzungsmerkmal der Epochen heranzieht. So unterscheidet er auf der ersten Stufe Jäger-, auf der zweiten Hirten- und auf der dritten Bauerngesellschaften voneinander. Die vierte und letzte Stufe – das Zeitalter der Handwerker und Kaufleute – bezeichnet Smith auch als „kommerzielle Gesellschaft“ (Smith, 2013 [1776], I.iv.1). In ihr finde die „natürliche Entwicklung“ (Smith, 2013 [1776], II.iii.36) der Menschheit zugleich ihren Höhepunkt und Abschluss. Von den vorangegangenen Stufen unterscheidet sie sich dadurch, dass die Menschen in ihr aufgrund der Spezialisierung in unterschiedliche Berufe aufeinander angewiesen sind, um zu erhalten, was ihnen ermangelt. Weil sich kein Mensch mehr allein versorgen kann, muss er selbsthergestellte Güter auf einem Markt anbieten, um andere Güter nachfragen zu können. Kaufen und Verkaufen ist insofern für jeden Menschen zum Haupterwerb geworden. Aus diesem Grund wurde er auch „in gewissem Sinne ein Kaufmann“ (Smith, 2013 [1776], I.iv.1); heute würde man sagen: Der Mensch wird zu einem Unternehmer seiner selbst. 

Die kommerzielle Gesellschaft, deren Zeuge Smith wurde, als er seinen Wohlstand der Nationen verfasste, entsprach alles andere als seiner Wunschvorstellung. Zu sehr war sie von der Wirtschaftspolitik des Merkantilismus – Stichwort „Theorem der aktiven Handelsbilanz“ – geprägt. Die „Grundsätze des Handels- oder Merkantilsystems“ (Smith, 2013 [1776], IV.i), wie Smith sie auch nennt, seien von einem „erbärmlichen Monopoldenken“ (Smith, 2013 [1776], IV.ii.21) durchdrängt. Kaufleute und Händler wären lediglich bemüht, ihre Privilegien auf Kosten der Gesellschaft zu bewahren. Wer könnte das besser auf den Punkt bringen als Smith? Unverblümt heißt es bei ihm: „Kaufleute sind immer daran interessiert, […] den Wettbewerb einzuschränken. […] Jedem Vorschlag zu einem neuen Gesetz oder einer neuen Regelung über den Handel, der von ihnen kommt, sollte man immer mit großer Vorsicht begegnen […], denn er stammt von einer Gruppe von Menschen, deren Interesse niemals dem öffentlichen Wohl genau entspricht, und die in der Regel vielmehr daran interessiert sind, die Allgemeinheit zu täuschen, ja, sogar zu mißbrauchen“ (Smith, 2013 [1776], I.xi.p.10). Smith geht sogar so weit, zu behaupten, dass Geschäftsleute selten zusammenkämen, „ohne daß das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann“ (Smith, 2013 [1776], I.x.c.27). Harter Tobak! 

Nein, Smith schwebte eine andere Form von kommerzieller Gesellschaft vor. Sein Idealbild einer solchen sollte sich vor allem durch das in ihr verwirklichte Maß an Freiheit auszeichnen (vgl. Alvey, 1998, S. 441). Dafür seien alle Markteintritts- und Markaustrittsbarrieren, welche die Kaufleute und Händler so vehement verteidigten, abzubauen. Die so befreiten Märkte würden dann dazu führen, dass die gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Ressourcen automatisch in diejenigen Verwendungen geleitet würden, in denen sie das größte Maß an Bedürfnisbefriedigung zu schaffen vermögen.  

Das „System der natürlichen Freiheit“  

Um den Nachweis hierüber zu erbringen, verwendet Smith das Begriffspaar des Marktpreises und des natürlichen Preises. Unter dem Marktpreis versteht Smith den Preis, zu dem eine Ware am Markt verkauft wird (vgl. Smith, 2013 [1776], I.vii.7). Er stellt das Produkt des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage dar. Bei dem natürlichen Preis dagegen handelt es sich um den Preis, der für ein Gut bezahlt werden muss, damit es erneut produziert werden kann. Damit ein weiterer Produktionszyklus vonstattengehen kann, muss es zu einem Preis verkauft werden, der nicht unter den Produktionskosten liegt (vgl. Smith, 2013 [1776], I.vii.1–6). Bei dem natürlichen Preis handelt es sich demnach um nichts anderes als die Produktionskosten, die sich aus dem Lohn, dem Profit und der Grundrente zusammensetzen (vgl. Smith, 2013 [1776], I.vii.3). 

Entscheidend für die allokative Effizienz der liberalen Spielart der kommerziellen Gesellschaft sei nun das Zusammenspiel von Marktpreis und natürlichem Preis. Steigt oder fällt die Nachfrage nach einem Gut, wirkt sich das auf den Markpreis aus. Je nachdem, wie sich dieser verändert – abhängig davon, ob er unter den natürlichen Preis fällt oder über ihn steigt –, werden Unternehmen in den Markt angelockt oder aus ihm verdrängt. Herrscht „vollkommene Gewerbefreiheit“, so tendiert „der Marktpreis ganz von selbst“ zum natürlichen Preis (vgl. Smith, 2013 [1776], I.vii.6; I.vii.11). Das Angebot reagiert also optimal auf die Nachfrage. Der Marktmechanismus führt – bei der Abwesenheit von Markteintritts- und Markaustrittsbarrieren – dazu, dass die für die Produktion zur Verfügung stehenden Ressourcen in diejenigen Kanäle geleitet werden, in denen sie das größte Maß an Bedürfnisbefriedigung bewirken. Die Ressourcen werden aber nicht in diese Bahnen gelenkt, weil es der Gesellschaft nützt, sondern weil sich die Kaufleute einen Gewinn davon versprechen. Sie verfolgen insofern nur ihr Eigeninteresse (vgl. Smith, 2013 [1776], I.ii.2). Et voilà! Hier haben wir sie noch einmal: die berühmt-berüchtigte ‚unsichtbare Hand‘. 

Diese ist aber – wie eingangs erwähnt – nicht ohne Voraussetzungen. Damit sie sich entfalten kann, müsse der Staat im Vorfeld ein ‚System der natürlichen Freiheit‘ errichten. Smith schreibt hierzu: „Gibt man daher alle Systeme der Begünstigungen und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann […]. Der Herrscher wird dadurch vollständig von einer Pflicht entbunden, […] den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind“ (Smith, 2013 [1776], IV.ix.51).“ Das ‚System der natürlichen Freiheit‘ lässt sich als die gesetzlichen Rahmenbedingungen verstehen, unter denen die ‚unsichtbare‘ Hand ihre segenbringende Wirkung erst entfalten kann (vgl. Ballestrem, 2001, S. 150; Samuels/Medema, 2005, S. 223; Herzog, 2013, S. 29). Dem Staat kommt folglich die Aufgabe zu, ein einwandfreies Funktionieren des Preismechanismus zu garantieren, indem er über die ordnungspolitischen Voraussetzungen des Marktes wacht. Prozesspolitisch sollte er sich hingegen weitgehend neutral verhalten. 

Es lässt sich somit festhalten: Bei Smith lassen sich genau genommen zwei Arten von kommerzieller Gesellschaft unterscheiden: zum einen eine merkantilistische und zum anderen eine liberale. Bei der merkantilistischen Spielart handelt es sich um diejenige, von der Smith dachte, sie sei bereits zu seinen Lebzeiten verwirklicht. In ihr ist jeder Mensch zum Kaufmann geworden. Sie ist jedoch noch durch ein hohes Maß an staatlichen Interventionen charakterisiert. Diese Spielart der kommerziellen Gesellschaft und die ihr zugrundeliegenden Wirtschaftspolitik des Merkantilismus lehnte Smith vehement ab. Er tritt dagegen für eine andere, liberale Variante ein. Diese sei aber noch durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik zu implementieren. Das ‚System der natürlichen Freiheit‘ war noch weit davon entfernt, realisiert worden zu sein. Es musste noch gegen den Widerstand konservativer – will heißen: merkantilistischer – Gesellschaftskräfte durchgesetzt werden, die ihre Sonderprivilegien zu verlieren fürchteten. 

 Dabei scheint Smith gar nicht so zuversichtlich gewesen zu sein, dass die progressiven Energien am Ende auch gegen den Widerstand obsiegen werden. Dieser Zweifel offenbart sich zum Beispiel dann, wenn Smith in Bezug auf den Abbau von Markteintritts- und Markaustrittsbarrieren als einer „Utopie“ (Smith, 2013 [1776], IV.ii.43) oder einem „Ozeanien“ (Smith, 2013 [1776], IV.ii.43) spricht, womit er – sowohl für Leser*innen früher als auch heute offensichtlich – auf Thomas Morus’ Utopia, aber auch James Harringtons The Commonwealth of Oceana anspielt. Wenn aber Smith mit seinen Ausführungen zur kommerziellen Gesellschaft nicht die Funktionsweise einer bestehenden, sondern einer noch zu realisierenden Wirtschaftsordnung beschrieben hat, dann dürfen diese auch nicht als positive Wirtschaftsanalyse missverstanden werden, sondern müssen als normativer Wirtschaftsentwurf interpretiert werden. Sie stellen insofern eine wirtschaftspolitische Utopie dar (vgl. Habermann, 2004, S. 100). Führt man sich vor Augen, dass der Merkantilismus die Wirtschaftspolitik des absolutistischen Staates darstellte, begreift man die – ja, man muss es sagen – revolutionäre Stoßrichtung seiner Überlegungen kurz vor dem Untergang des Ancien Régime. 

Was folgt daraus, wenn man Smiths Ausführungen zur kommerziellen Gesellschaft in ihrer liberalen Spielart nicht als eine positive Wirtschaftsanalyse, sondern als einen normativen Wirtschaftsentwurf auffasst? Nun, zunächst einmal hilft es mit einer großen Fehlrezeption aufzuräumen: Adam Smith hat nie gesagt, dass das egoistische Handeln des Menschen in einem wirtschaftlichen Umfeld, sofern man es sich ungehindert entfalten lässt, zwangsläufig für die Gesellschaft segenbringend auswirken wird. Ganz im Gegenteil: Smith war der Ansicht, dass nur unter bestimmten Umständen das am Eigenwohl orientierte Verhalten des Individuums in Gemeinwohl transformiert werden kann. Hierfür sei aber vorher vom Staat ein ‚System der natürlichen Freiheit‘ einzurichten. Smith war also kein Advokat blinder Deregulierung, sondern mahnte an, dass einer Liberalisierung entsprechende Änderungen am institutionellen Umfeld des betreffenden Marktes vorauszugehen haben. 

Christian E. W. Kremser absolvierte ein Doppelstudium in Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Fernuniversität in Hagen und der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt am Main. Derzeit ist er Referent einer Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz in der Nähe von Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Goethe-Universität. Dort promovierte er 2020 über die Vorstellung ökonomischer Utopien in der Ideengeschichte. Von ihm zum Thema sind erschienen: Von Fortschritt zu Wachstum und Entwicklung. Über den ideengeschichtlichen Ursprung der ökonomischen Wachstums- und Entwicklungstheorie in der materialen Geschichtsphilosophie der französischen und schottischen Aufklärung (2018), Ein Ende der ökonomischen Geschichte Utopische Visionen in der Geschichte des ökonomischen Denkens (2020).