Dass in der Politischen Philosophie und Theorie heute – wenn auch in Deutschland noch immer sehr zögerlich – über strukturellen Rassismus debattiert und dass die Black Radical Tradition – von W.E.B. Du Bois über Fanon und Cedric Robinson bis zum Schwarzen Feminismus – in immer mehr Debatten produktiv aufgegriffen wird, ist einer Pionierarbeit, ja einem unermüdlichen Kampf zu verdanken, der trotz seines wesentlich kollektiven Charakters doch auch mit einzelnen Namen verbunden ist. Charles Mills‘ überraschender Tod am vergangenen Montag in New York hat mit einem Schlag seine überragende Rolle als eine der originellsten und wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Politischen Philosophie und Theorie ins Bewusstsein gerückt. Wie kein Zweiter hat er in den vergangenen Jahrzehnten das Nachdenken über die untrennbar mit Kolonialismus und Rassismus verbundenen Ursprünge und Strukturen des Liberalismus als politische Theorie und als Gesellschaftssystem initiiert, begleitet und immer wieder neu angeregt. Dabei hat Mills den Skandal, dass das Ideal einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen und seine rechtliche Umsetzung lange Zeit – und mit gravierenden Folgen bis in die Gegenwart – auf weiße besitzende Männer beschränkt war, mit einer ganz eigenen Mischung aus theoretischer Präzision und politischer Radikalität wachzuhalten vermocht, die ihm inzwischen auch im Mainstream der Disziplin eine späte und gewiss auch ambivalente fachliche und institutionelle Anerkennung eingebracht hat.
Der Weg dahin war – wie Mills selbst in seiner eindrücklichen Dewey Lecture von 2016 unter dem Titel „The Red and the Black“ dargestellt hat – freilich alles andere als vorgezeichnet: Aufgewachsen in Jamaika, wo er auch zu studieren begann, wechselte Mills nach Toronto, um dort in Philosophie – einer der historisch und auch gegenwärtig noch weißesten Disziplinen – zu promovieren. Zunächst fand er im Marxismus die theoretischen Ressourcen, um in seiner Lebenserfahrung (und einem Großteil der Welt) evidente, aber von der Philosophie ignorierte strukturelle Herrschaftsverhältnisse zu analysieren und zu kritisieren. Auch provoziert durch die Auseinandersetzung mit C.L.R. James und Cedric Robinson sah sich Mills jedoch bald vor die Frage gestellt, ob sich die für westliche Gesellschaften – und nicht zuletzt die globale Entwicklung des Kapitalismus – konstitutiven rassistischen Strukturen in diesem theoretischen Rahmen angemessen konzipieren lassen oder nicht doch eine fundamentale Umstellung der sozialtheoretischen Kategorien erfordern. Im Rückblick erscheint diese Zeit als Phase produktiven Suchens, aus der auch geniale, aber heute weitgehend unbekannte Analysen der Phänomenologie des avantgardistischen Bewusstseins am Beispiel der gescheiterten Revolution auf Grenada und der moralischen Epistemologie des Stalinismus stammen, die noch stets relevante Lektionen für alle auf Emanzipation abzielenden theoretischen und politischen Bestrebungen bereithalten.
Letztendlich war es die Auseinandersetzung mit dem Feminismus, und genauer mit Carole Patemans feministischem Klassiker The Sexual Contract, die Mills den Weg zu seinem eigenen und einflussreichen Vorschlag ebnete, den er mit The Racial Contract vor nun beinahe einem Vierteljahrhundert vorgelegt hat. Das inzwischen zumindest in den USA weithin als Klassiker der gegenwärtigen Politischen Theorie und Philosophie anerkannte, und in viele Sprachen – wenn auch bezeichnenderweise noch nicht ins Deutsche – übersetzte Buch ist eine radikale Intervention in einen Zentraldiskurs des modernen politischen Denkens: die Theorie des Gesellschaftsvertrags. Mills zeigt darin in bis dahin präzedenzloser Schärfe, dass der Gesellschaftsvertrag – weit davon entfernt, dem Ideal eines konsensuellen, egalitären und inklusiven Einigung zu entsprechen – de facto ein Vertrag der Unterordnung ist, in dem die Mitglieder als nicht-weiß rassifizierter Gruppen nur als beherrsch- und ausbeutbare sub-persons (Mills‘ Übersetzung für„Untermenschen“) vorkommen. Rassismus bezeichnet vor diesem Hintergrund weder einen nichtintendierten Nebeneffekt noch ein kontingentes Versäumnis, das sich durch kosmetische Korrekturen aus der Welt schaffen ließe, sondern ein Strukturmerkmal liberaler Gesellschaften und ihrer dominanten Ideologie. Seine Analyse der Logik der entsprechenden strukturellen Ausschlüsse und hierarchisierenden Einschlüsse, die nicht nur den moralischen und rechtlichen, sondern auch den epistemischen und sozialontologischen Status der Unterdrückten betreffen, hat Mills dann in dem spannenden und gerade auch für einführende Seminare äußerst geeigneten Band Contract and Domination im Dialog mit Pateman weiterentwickelt.
Dass Politische Philosophie und Theorie lange Zeit viel über Gerechtigkeitsprinzipien für eine wohlgeordnete Gesellschaft und sehr wenig (und wenn, dann kaum Hilfreiches) zu den Ungerechtigkeiten unserer ungeordneten Realität zu sagen hatten und Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus auch heute noch in weiten Teilen als höchstens historisch oder empirisch, aber nicht theoretisch relevant erachtet werden, hat Mills schon früh zum Gegenstand seiner eigenen Theoriebildung gemacht. Hegemoniale Formen der Wissensproduktion wirken auch und gerade im Nachdenken über Politik als epistemologisches Hindernis. So arbeitete Mills in dem einflussreichen Aufsatz „‘Ideal Theory‘ as Ideology“ prägnant das ideologische Potential der (zumindest damals dominanten) idealen Theorie heraus. Und im Kontext der breiteren Diskussion über Epistemologien des Nichtwissens hat er in zwei einander ergänzenden Aufsätzen – „White Ignorance“ und „Global White Ignorance“ – gezeigt, wie sich die Funktion und Reproduktion rassistischer Strukturen nur adäquat analysieren lassen, wenn sozialepistemologische und gesellschaftstheoretische Perspektiven zusammengeführt werden. Die Nicht-Thematisierung struktureller Ungerechtigkeiten am Ursprung und im Zentrum westlicher Gesellschaften und die Universalisierung einer bestimmten privilegierten Perspektive, die von diesen Ungerechtigkeiten profitiert oder von ihnen zumindest nicht negativ betroffen ist, gehen Hand in Hand.
Angesichts der Proliferation moralisierender und psychologisierender Zugänge zum gesellschaftlichen Syndrom des Rassismus besteht eine der bleibenden Lektionen von Mills‘ Arbeiten zu „white ignorance“ und „white supremacy“ darin, dass damit nicht einfach nur ein psychologischer Komplex, sondern ein real-existierendes soziales System bezeichnet wird. Damit stellt sich Mills auf solider theoretischer Grundlage und mit politischer Verve gegen die Reduktion von Rassismus auf individuelle Einstellungen und Vorurteile, die sich im Rahmen von Anti-Bias-Trainings korrigieren lassen. Vielmehr muss es kritischer Theorie und transformativer Praxis um soziale Strukturen und politische Herrschaftsverhältnisse gehen, deren Kontinuität durch den Wandel von Ideologien (etwa von einem offen biologistischen zu einem kulturalistischen Rassismus) oder die Ersetzung offener Vorurteile durch Vorstellungen von „colour-blindness” verdeckt werden.
Zuletzt hat Mills in Black Rights/White Wrongs: The Critique of Racial Liberalism den Versuch unternommen, einen radikalen Schwarzen Liberalismus zu entwickeln, der einer doppelten These verpflichtet ist: der prinzipiellen These, dass sich Gleichheit und Freiheit als Ideale des Liberalismus gegen ihre durch mächtige Gruppeninteressen verzerrte und selektive Realisierung in Stellung bringen lassen (und gegen neurechte und faschistische Tendenzen verteidigt werden müssen); und der strategischen These, dass der Kampf um eine gerechte und demokratische Gesellschaft effektiver in Anknüpfung an die dominante politische Ideologie geführt werden kann. Mit dieser Wende zur rettenden Aneignung des liberalen Projekts hat Mills freilich auch Widerspruch provoziert, der nicht zuletzt an sein eigenes Frühwerk anknüpfen konnte, um Zweifel daran zu wecken, dass der Liberalismus die normativen, sozialtheoretischen, konzeptionellen und politischen Ressourcen hat, um die notwendige strukturelle Transformation von im „racial contract“ fundierten Gesellschaften zu denken und in Gang zu setzen.
Bei allen Verschiebungen der theoretischen Schwerpunktsetzungen ist Mills‘ Gesamtwerk von der Verpflichtung auf radikalen institutionellen und strukturellen Wandel und die rücksichtslose Analyse der diesem Wandel entgegenstehenden sozialen, politischen und epistemologischen (und eben auch: philosophischen) Hindernisse getragen. Dass er diese besondere Art von Radikalität verbürgender Rücksichtslosigkeit (mit Blick auf disziplinäre Normen) mit einer außergewöhnlichen Mischung aus Witz, Charme, menschlicher Wärme und Rücksichtnahme sowie einem stets offenen Ohr für jüngere Kolleg:innen und Studierende – ob nun auf Konferenzen oder bei Seminarbesuchen – kombinierte, wird die Lücke, die sein Tod reißt, für viele nur noch deutlicher hervortreten lassen.
Robin Celikates ist Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin und Ko-Direktor des Center for Humanities and Social Change.
Danke für den Nachruf! Ich habe seine Texte immer mit Gewinn (und tatsächlich auch: gut unterhalten) gelesen und in Seminaren eingesetzt (wo auch seine Videos sehr gut ankamen).
Sehr gern gelesen!
Danke, Robin, in der Tat eine echte Lücke, die er hinterlässt.