Philosophieren mit Charles Mills

Es bedarf heutzutage keines besonders geschärften Blicks, um zu sehen, dass die Debatten der akademischen Philosophie in Deutschland eklatant weiß sind. Wer gelesen wird und wer Philosoph:in werden kann, ist einer kleinen – überwiegend weißen – Gruppe vorbehalten. Der strukturelle Rassismus unserer Gesellschaft spiegelt sich darin ebenso wider wie die „weiße“ Einseitigkeit des traditionell produzierten, philosophischen Wissens, die nicht zuletzt das Denken in rassistisch geprägten Kategorien perpetuiert.

Einer der Denker:innen, die diese Einseitigkeit der Philosophie aufgedeckt hat, ist im letzten Jahr überraschend verstorben: Charles Mills (1951-2021) zeigte in seinem bekanntesten Werk The Racial Contract (1997) die ideologisch-rassistischen Auswirkungen einer liberalen politischen Theorie, die im Kontext des europäischen Kolonialismus entstanden ist und dessen theoretische Legitimationsgrundlage darstellt: Die für die westliche Philosophie grundlegenden Vertragstheorien seien, trotz ihres Anspruchs auf Neutralität und Gleichheit, eigentlich rassistische Verträge („racial contracts“), da sie zwischen Weißen über Nichtweiße „geschlossen wurden“ und somit das Grauen des Kolonialismus und die globale weiße Vorherrschaft legitimieren.

Unter dem Titel “Philosophieren mit Charles Mills” veranstalteten Kristina Lepold (HU Berlin), Robin Celikates (FU Berlin) und Deborah Mühlebach (FU Berlin) im Juli dieses Jahres einen Workshop zu Ehren des kürzlich verstorbenen Denkers. Das selbsterklärte Ziel der Veranstaltung war es, disziplinübergreifend an dessen Werk anzuschließen, die von Mills mitbegründete Theorierichtung der Critical Philosophy of Race stärker in Deutschland zu etablieren und die davon ausgehenden Anstöße weiterzudenken. Im Rahmen der Veranstaltung wurden Beiträge von Daniel James (HHU Düsseldorf), Nicki Weber (Universität Augsburg), Ruth Sonderegger (AbK Wien) und Jennifer Page (Universität Zürich) zu Fragen der Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ästhetik und politischen Philosophie vorgestellt, die von den studentischen Teilnehmenden eines begleitenden Seminars an der HU bei Kristina Lepold kommentiert wurden. Die Relevanz eines solchen Workshops zeigte sich deutlich an den vielen (auch bewusst) offen gebliebenen Fragen der angeregten Diskussion, die sich grob in konzeptuelle, normative und strategische differenzieren lassen und hier überblickshaft nochmals aufgegriffen werden sollen.

 

Konzeptuelle Fragen

Um Rassismus adäquat zu thematisieren, fehlt es der deutschen Sprache noch deutlich an notwendigem Rüstzeug – dies fängt schon bei den erheblichen Schwierigkeiten an, das Konzept „Race“ angemessen zu übersetzen. Besonders in Anbetracht der Möglichkeit eines „Rassismus (auch) gegen Weiße” – wie etwa Antislavismus oder Antisemitismus – wirken traditionelle Konzeptualisierungen porös. James schlug in seinem Vortrag daher vor, anstatt von „Race“ von „(teilweiser) Rassifizierung” zu sprechen: Die Anders- bzw. Schlechterbehandlung einer Gruppe als wären sie eine „Race” womit sich auch die Position derer mitdenken ließe, die „white, but not quite” sind (etwa Jüd:innen, Slav:innen, LatinX, Roma).

Auch die Angemessenheit der deutschen Übersetzung von Mills Konzept der „White Ignorance” als „Weißes Nichtwissen” wurde thematisiert. Grundlegend handelt es sich hierbei um die Marginalisierung nicht-weißer Erfahrungsschätze und Wissenszugänge und die Perpetuierung falscher, verzerrender Überzeugungen in der westlichen Philosophie-Tradition. Die Rede von “Nichtwissen” nimmt für Weber jedoch das Individuum aus der Verantwortung. Betreffendes Wissen und Erfahrungen sind nicht einfach schwer zugänglich, sondern sie werden ausgeblendet, also aktiv vom „epistemischen Atmen“ abgehalten und somit erstickt. Der Begriff der „Weißen Ignoranz“ hingegen würde die akteurszentrierte Ebene im Gegenteil zu stark in den Vordergrund stellen und die strukturelle Dimension dieser hermeneutischen Ungerechtigkeit aus den Augen verlieren, der nur durch eine Pluralisierung der Philosophie und ihrer Bezüge adäquat beigekommen werden kann. Mithilfe der kritischen Diskussion und Reflexion der Theorien von Miranda Fricker und José Medina über das Konzept der hermeneutischen Ungerechtigkeit ließe sich, Weber zufolge, Mills Konzept des weißen Nichtwissens als im Wechselspiel zugleich strukturell und individuell erklären.

 

Normative Fragen

Der Vorwurf der mutwilligen, weißen Ignoranz an die traditionelle Philosophie hat normative Konsequenzen für die gesamte Disziplin: Schwarze Studien – mit dezidiert wissenschaftlichem Fokus auf Schwarzen Erfahrungen und Perspektiven – müssen institutionalisiert werden (insbesondere in Deutschland), um mehr Raum für marginalisierte Positionen zu schaffen und den Austausch unterschiedlicher Wissensformen zu fördern. Es geht hierbei sowohl um die Produktion neuen Wissens als auch um dessen Revitalisierung durch die Aufarbeitung von (verlorenen) Archiven. Das ist notwendig in Bezug auf alle Aspekte des Racial Contract, der nach Mills nicht allein eine politische, sondern auch eine normative, epistemologische, moralische, ökonomische und, wie Sonderegger in ihrem Vortrag hinzufügte, eine ästhetische Dimension umfasst.

Diese verdeutlichte sie anhand einer Diskussion von Kants Kritik der Urteilskraft. Sie zeigte auf, dass in Kants Konzeption der Urteilskraft selbst ein ideologisch-ästhetisches Fundament für den Racial Contract angelegt ist. Insbesondere basiert diese auf der Proklamation einer wesenhaften Unterscheidung: In Kants Verständnis seien alleine „zivilisierte“, ‚autonome Menschen‘ ästhetischer Urteile fähig, während rassifizierten „Untermenschen“ diese Fähigkeit abgesprochen wird. Dies veranschaulicht laut Sonderegger zugleich ein Problem in Mills Verteidigung eines politischen Liberalismus, an dessen Kernideen Freiheit und Gleichheit er trotz aller Kritik in der realen ‚Umsetzung‘ letztlich festhielt, der schließlich wesentlich auf dem Fundament des kantschen Autonomiebegriffs und dessen Unterteilung zwischen Mensch und Natur, verschiedenen Menschengruppen und gesellschaftlichen Teilbereichen aufbaut. Ein solcher Autonomiebegriff ist von Herrschaft und Ausschluss jedoch schwer zu trennen; für Sonderegger müsste daher in der Philosophie stattdessen Begriffen wie Abhängigkeit, Vulnerabilität und Affiziertheit eine größere Relevanz beigemessen werden.

 

Strategische Fragen

Trotz der Kritik Mills an den klassischen Vertragstheoretikern verwirft er deren Ideen, wie bereits angedeutet, nicht vollständig, sondern kritisiert in erster Linie deren Scheitern darin, den eigenen Idealen gerecht zu werden. Tatsächlich erhält Mills in seinem Denken sowohl die Vertragstheorie als Analysewerkzeug als auch eine liberale Grundhaltung. Angesichts dessen stellte sich in der Diskussion die Frage, inwieweit dieser Rückbezug als reine Strategie begriffen werden kann oder doch auch inhaltlich motiviert ist. Der strategische Vorteil einer Aneignung des philosophischen Mainstreams liegt auf der Hand: Auf diese Weise kann ein breiteres Publikum leichter angesprochen und überzeugt werden, wie auch Weber in seinem Beitrag hervorhob. Page hielt in der Diskussion dagegen, dass die Annahme einer strategischen Motivation keinen zwingenden Widerspruch zu einer philosophischen Begründung darstellt. Die thematisierte Zentralität des Autonomiebegriffs für Mills Philosophie und die Verwobenheit seiner Ideen mit liberalen Werten spreche für eine konzeptuelle Motivation.

Auch die Artikulation von politischen Forderungen bedarf besonderer, strategischer Umsicht im postkolonialen Klima, wie aus Pages Diskussion der Reparationsdebatte hervorging. Für sie riskiert die Inszenierung von Reparationen als Problem einer Umverteilungsgerechtigkeit, diese als Wohltätigkeit (“charity”) abzutun und somit Stereotype über BIPOC zu bestätigen und noch zu befördern. So würden vergangene und gegenwärtige Ungerechtigkeiten nicht anerkannt, die doch den eigentlichen Ursprung der Reparationsschuld darstellen. Mit Mills hingegen ließen sich Reparationen als ein radikales wie auch notwendiges Mittel zur Transformation ungerechter Gesellschaftsstrukturen fassen.

 

Schluss

Das Philosophieren mit Charles Mills ist eine wertvolle Ressource um den strukturellen Rassismus in der (westlichen) Philosophie und dessen epistemische Auswirkungen offenzulegen. Doch bleiben offene Fragen, mit denen sich die akademische Philosophie noch befassen muss – seien es die Bedingungen und Möglichkeiten einer Übersetzung von Mills Philosophie in einen deutschen und europäischen Kontext, die hiesige Institutionalisierung Schwarzer Studien oder der adäquate Umgang mit Kolonialismus und seinen Ideologien, sowohl in der Philosophie als auch in der Gesellschaft als Ganze. Die radikale Thematisierung des Rassismus ist in viele Bereiche des philosophischen Denkens (in Deutschland) noch nicht vorgedrungen.

Eine Erkenntnis des Workshops ist daher, dass Mills Theoriegebäude sowohl in Hinblick auf die Realität der akademischen Institutionen als auch auf die inhaltliche Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen einen Startpunkt markiert, jedoch noch keinen Abschluss. Mit Mills zu philosophieren kann daher nicht bloße Rezeption bedeuten; es muss darum gehen, mit Mills über Mills hinaus zu philosophieren, also mögliche Leerstellen oder blinde Flecken seiner Theorie zu thematisieren und Fragen nachzugehen – ob es dabei um die Ausweitung des Rassismus-Begriffs geht, um „Weißes Nichtwissen“ und hermeneutische Ungerechtigkeit, die Notwendigkeit von Reparationen für die Transformation ungerechter Gesellschaften oder die Kritik vom kantischen Autonomiebegriff. So bleibt es z.B. noch ungeklärt, ob alternative Begriffe wie Abhängigkeit, Vulnerabilität und Affiziertheit dieselbe theoretische Arbeit wie Autonomie leisten können und sollen.

Letztlich stellte die angeregte Diskussionsatmosphäre des Workshops einen Spiegel für das Philosophieren mit Mills dar: Interesse und inhaltliche Fruchtbarkeit auf der einen Seite, offengebliebene Fragen und Diskussionsbedarf auf der anderen.

 

Rufus Busse, Stefan Gasser, Clara v. Hirschhausen, Johannes Hofmann, Tomer Moalem, Olivia Maegaard Nielsen und Balduin Weinmann studieren im Master Philosophie an der FU und HU in Berlin.

Ein Kommentar zu “Philosophieren mit Charles Mills

  1. Ich bin Charles Mills das erste Mal im Rahmen eines Online-Seminars für Philosophie begegnet. Seitdem lese ich viele seiner Werke interessiert. Dementsprechend wäre es toll, wenn ich an einem solchen Workshop zu Ehren von ihm teilnehmen könnte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert