Universalismus der Menschenrechte revisited

Menschenrechte sind universal. Das heißt, sie gelten für alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von Merkmalen, „such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status“, wie in der Allgemeinen der Erklärung der Menschenrechte der UNO 1948 (Art. 2) formuliert. Dennoch wird der Universalismus der Menschenrechte vielfach und stets erneut bestritten. Im Folgenden möchte ich die Kritik am Universalismus punktuell aufgreifen und den Universalismus in Form eines vermittelten Universalismus plausibilisieren und damit verteidigen.

 

Widerstand gegen den Universalismus 
 
Widerstand gegen den Universalismus zeigt sich zuallererst praktisch im Sinne der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen weltweit. Verletzungen ihrer Rechte erleiden Menschen unter anderem durch staatliche Repressionen, durch entgrenztes Wirtschaften, durch Korruption, Armut und Gewalt, durch die Ausnutzung gesellschaftlicher Machtasymmetrien und solchen zwischen Staaten, durch die mutwillige Zerstörung der Natur und von Lebensräumen. 
 
Darüber hinaus trifft der Universalismus auf Widerstand vonseiten der Theorie, die mit der Praxis aufs Engste zusammenhängt. Die Kritik am Universalismus reicht historisch weit hinter die Allgemeine Erklärung zurück, sie begleitet die Menschenrechte von Anfang an (Mende 2021). Ihre Stoßrichtung ist dabei sehr unterschiedlich und reicht von der völligen Ablehnung der Menschenrechte bis zu Reformulierungen des Universalismus im Interesse, die Menschenrechte weiter zu stärken. Ein Beispiel für letzteres ist der Einspruch von Olympe de Gouges gegen die Verengung des menschenrechtlichen Subjekts auf den Mann und Bürger in der französischen Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1789). ‚Homme‘ bedeutet zwar ‚Mensch‘ und ‚Mann‘. Faktisch wird der ‚Mensch‘ allerdings allein vom ‚Mann‘ in der Déclaration repräsentiert. Auch andere exklusive Attribute sind historisch mit der Vorstellung vom Rechtssubjekt verknüpft: erwachsen, europäisch, weiß, wohlhabend, nicht-behindert. 
 
Bei der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung gut 150 Jahre später legte man ebenfalls zunächst die Formulierung ‚all men‘ fest. Auf den Einspruch der Frauenrechtlerin Hansa Metha hin, die als indische Delegierte an der Ausarbeitung beteiligt war, sowie durch die Lobbyarbeit der UN-Frauenrechtskommission und die Unterstützung des UN-Sekretariats gelang es, die missverständliche Formulierung abzuändern, zu ‚all human beings‘ (Huhle 2023: 221). Bis die Frauenrechte in einer eigenständigen Konvention festgehalten wurden, dauerte es weitere 30 Jahre. Und bis heute gibt es zahlreiche Staatenvorbehalte gegen die UN-Frauenrechtskonvention (1979) oder einzelne ihrer Artikel. 
 
Dies ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass mit einer Universalie – in dem Fall: ‚homme‘ oder ‚man‘ – keine gleichen, sondern ungleiche Rechte – in dem Fall: die (Vor)rechte des Mannes – verbunden sein können. Aktuell macht besonders die postkoloniale Kritik auf weitere Verengungen aufmerksam, die aus der Kolonialherrschaft kommend bis heute nachwirken (Samour 2023). 

 

Der Kritik begegnen: der vermittelte Universalismus 
 
Lassen sich die Verengungen des Universalismus auf Grundlage des Universalismus kritisieren? Kann der Universalismus die eigenen blinden Flecken aufdecken? Ich meine, es ist möglich – vorausgesetzt, der Universalismus steht nicht in abstrakter Weise der Partikularität gegenüber. Das bedeutet zweierlei. Zum Ersten ist der Universalismus stets in Begriffen formuliert, die aus bestimmten philosophischen Traditionen stammen. Anders können wir den Universalismus gar nicht formulieren. Dies gilt es anzuerkennen, statt den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, den Universalismus irgendwie ‚unabhängig‘ – und in dieser Weise abstrakt – zu begründen. Zum Zweiten konkretisiert sich der Universalismus hinsichtlich bestimmter Menschenrechtsträger*innen und deren Belange. Wir formulieren Kinderrechte, weil Kinder spezifischen menschenrechtlichen Herausforderungen ausgesetzt sind, die eigens zu adressieren sind. Es reicht nicht, das Kind unter den Allgemeinbegriff Mensch subsumiert zu wissen, und davon auszugehen, man hätte dessen Subjektivität und Ansprüche damit bereits ausreichend berücksichtigt. 
 
Der Universalismus der Menschenrechte zeigt sich daher als ein vermittelter Universalismus, nämlich als Universalismus, dessen Ausdrucksformen historisch-kulturell bedingt sind und der hinsichtlich bestimmter Träger*gruppen und bestimmter Belange konkretisierungsbedürftig ist. Für diesen Universalismus verwenden Autor*innen unterschiedliche Formulierungen: „concrete universality“ (Gould 2004: 51), „embedded universalism“ (Hogan 2015: 101), „vermittelter Universalismus“ (Mende 2021: 181), „universalism from within“ (Bielefeldt 2022: 74). Des Weiteren wird der Prozesscharakter des Universalismus betont, der mit dem politischen Kampf zur Durchsetzung der Menschenrechte aller verbunden ist. Es handelt sich um ein „Projekt fortschreitender Universalisierung“ (Pollmann 2022: 156), um einen „universalism in the making“ und einen „universalism on probation“ (beide Bielefeldt 2022: 76). 
 
In einer Perspektive der Vermittlung erscheint schließlich auch das Subjekt der Menschenrechte, so etwa in der sozial-relationalen Perspektive der Beiträge, die Haaf/Müller/Neuhann/Wolf (2023) versammeln. Die Vermittlungsfigur beziehen Autor*innen dabei aus höchst unterschiedlichen philosophischen Quellen: von Hegels Logik, über die Ethik von Judith Butler, bis hin zum ubuntu-Konzept, der Moraltheorie und -praxis aus dem südlichen Afrika mit Fokus auf die Gemeinschaft.

 

Konsequenzen eines vermittelten Universalismus

Mit dem Konzept des vermittelten Universalismus sind mehrere Konsequenzen verbunden. Zunächst: Die Vermittlung ist eine Inbezugsetzung, die das Neben-, oder auch Gegeneinander von Partikularität und Universalität überwindet. Entsprechend schließen sich universale Geltung und deren Formulierung in den Begriffen einer bestimmten Tradition nicht aus. Der universale Anspruch wird nur verletzt, wenn die Menschenrechte als exklusiver Bestand der eigenen Tradition oder als inkompatibler Bestandteil einer wesentlich fremden Tradition alle Anschlussmöglichkeiten für andere abschneiden.

Grundsätzlich zeichnen sich die Menschenrechte durch einen offenen Zugang auf der Begründungs- bzw. Rechtfertigungsebene aus. Es gibt natürlich Kernprinzipien, ohne die die Menschenrechte nicht funktionieren: Menschenwürde, Freiheit des Einzelnen, Gleichheit an Würde und Rechten. Diese können aber im Lichte verschiedener Philosophien, Weltanschauungen und Religionen plausibel gemacht werden. Der Konfuzianismus geht dazu einen anderen Weg und begegnet dabei anderen Hürden als der Hinduismus oder indigene Kosmovisionen. Selbiges gilt für den Liberalismus oder den Sozialismus. Wichtig ist, dass die verschiedenen Strömungen einen Zugang zu den menschenrechtlichen Prinzipien finden und so die Menschenrechte auf ihrem eigenen Boden anerkennen. So wird das Bekenntnis bekräftigt, das die allermeisten Staaten mit der Unterzeichnung der verbindlichen Menschenrechtsverträge, allen voran des UN-Zivilpakts (1966) und UN-Sozialpakts (1966), abgelegt haben.

Nach dem vermittelten Universalismus lässt sich außerdem die Explikation der menschenrechtlichen Belange von einzelnen Träger*innen als notwendige Vertiefung des Universalismus erkennen. Es geht um eine Reformulierung der Universalität der Menschenrechte anhand spezifischer Belange. Ausgangspunkt sind die Unrechtserfahrungen, die Menschen machen. Die Unrechtserfahrungen zeigen eine Lücke im Menschenrechtsschutz an, wobei geklärt werden muss, ob die Lücke ‚bloß‘ in der defizitären Anwendung rechtlich bereits hinreichend kodifizierter und gerichtlich grundsätzlich erstreitbarer Rechte besteht, oder ob die Lücke eine mangelnde Ausdifferenzierung des Menschenrechtsanspruchs beschreibt.

Ich teile die Ansicht von vielen NGOs und dem Deutschen Institut für Menschenrechte, dass letzteres für die Rechte Älterer der Fall ist, für deren Schutz eine neue UN-Konvention ausgearbeitet werden soll. Die Lücken betreffen unter anderem den Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und Vereinsamung etwa in den sozialen Einrichtungen, aber auch die Geschlechtergerechtigkeit (Gender Pension Gap).

In der Vermittlung mit partikularen Kontexten und Belangen ‚lernt‘ der Universalismus dazu. Er schärft darin seine menschenrechtlichen Prinzipien. Ein Beispiel dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention (2006), in der die individuelle Autonomie mit der sozialen Inklusion verknüpft wird. Autonomie ist demnach keine Angelegenheit eines angeblich atomistischen, sondern des vergemeinschafteten Individuums. Dies ist bloß eine der zahlreichen ‚Lernerfahrungen‘, die längst in den Universalismus-Begriff eingegangen sind. Weitere müssen folgen. 

 

Marco Schendel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik des Instituts für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

 

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