Nach vielfältigen Beiträgen unserer Debatte um den Begriff der Sorge diskutiert Jasmin Behrends zum Abschluss Sorge als universelle zwischenmenschliche Praxis und rückt dabei die Situation an den EU-Außengrenzen ins Blickfeld.
Vielen ist das Thema Sorge, Fürsorge oder Care in deutschsprachigen, sozialwissenschaftlichen Debatten als eine Kernfrage feministischer Politik bekannt, welche häufig entlang vergeschlechtlichter Ungleichheitsverhältnisse in klassisch feminisierten und gesellschaftlich abgewerteten Arbeitsbereichen der Kinderbetreuung, der Pflege, der Bildung und der Hausarbeit diskutiert wird. Neben diesen etablierten Care-Debatten zeigen aktuelle Werke wie das Care Manifesto des The Care Collective wie der Strang der Care-Ethik aus der feministischen Moralphilosophie einen anderen, universellen Sorgebegriff prägt. Die Autor:innen Joan C. Tronto und Berenice Fisher betrachten Sorge auf diese Weise als ubiquitäre Handlung, die sich in einer Vielzahl unserer alltäglichen Praktiken wiederfinden lässt und eine essenzielle Grundlage menschlichen Lebens in einer interdependenten Welt ist. Ausgehend von einem Begriff der Sorge, der diese als universelle zwischenmenschliche Praxis versteht und das Aufeinander-angewiesen-sein als lebensnotwendig in den Vordergrund theoretischer Überlegungen stellt, lässt sich aus einer machtkritischen Perspektive die Frage diskutieren: wer kümmert sich in einer bestimmten Situation / Konstellation um wen und wer wird von Sorge ausgeschlossen?
Ein blinder Fleck, der sich in Auseinandersetzung um Sorgebeziehungen identifizieren lässt, zeigt sich im Bereich von Flucht und Migration. Die Perspektive der kritischen Care-Ethik eröffnet uns die Möglichkeit, die gewaltvollen Grenzpraktiken an den EU-(Außen-)Grenzen und ihre Auswirkungen auf Geflüchtete neu zu diskutieren. Hierbei gehe ich davon aus, dass Geflüchtete durch das Verlassen ihrer Heimat und damit ihrer bestehenden sozialen Netzwerke in besonderer Art und Weise für ihr (Über)Leben auf Unterstützungsnetzwerke und Sorge angewiesen sind. Ich argumentiere deshalb, dass ein universeller Sorgebegriff eine kritische Perspektive auf Ein- und Ausschlusslogiken innerhalb von staatlichen Fürsorgenetzwerken und den daraus resultierenden prekären Lebensbedingungen von Geflüchteten ermöglicht. Die Ausschlüsse von Geflüchteten aus wohlfahrtsstaatlichen Strukturen wie der Gesundheitsversorgung, einer ausreichenden Lebensmittelversorgung, dem Bildungssystem oder dem Zugang zu menschenwürdigen Wohnverhältnissen werden aus diesem Blickwinkel zur strategischen Exklusion aus lebensnotwendigen Sorgestrukturen.
Sorge und die Ethik der Verwundbarkeit
Theoretischer Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist hierbei die Definition von Tronto und Fisher, die Sorge definieren als: „alle menschlichen Handlungen, die zum Erhalt, der Reparatur oder der Fortführung der gemeinsamen Welt beitragen und damit ein gutes Leben für Alle ermöglichen“. Sorge wird zur gelebten Praxis zwischen Subjekten, die Bestandteil einer Vielzahl oft unsichtbarer Routinen und Handlungen im interpersonellen Kontakt ist. Jeder Mensch ist im Laufe des Lebens auf Sorge angewiesen und praktiziert Sorge für Andere. Diese holistische Perspektive auf Sorge stellt diese in das Zentrum menschlichen Lebens und baut auf einem philosophischen Menschenbild auf, das Individuen als verletzlich und abhängig voneinander versteht. Die Interdependenzen innerhalb des Sozialen rücken in den Blick der Analyse und stellen gleichzeitig neoliberale Vorstellungen von Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit in Frage. In der konkreten Ausgestaltung finden Sorgepraktiken nach Tronto immer zwischen sorgegebenden und sorgeempfangenen Personen statt und basieren auf reziproken Beziehungen, in denen Bedürfnisse verhandelt werden. Darin offenbart sich jedoch ebenfalls der konflikthafte Charakter von Sorgebeziehungen, da sie durch ihre Asymmetrie zwischen den involvierten Subjekten stetig Gefahr laufen, paternalistische Handlungen zu reproduzieren.
Eine intersektionale Perspektive macht außerdem sichtbar, dass Sorge eingebettet ist in bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse von gender, race und class, welche ebenso in Sorgepraktiken reproduziert werden. Deanna Dadusc und Pierpaolo Mudu werfen aus diesem Grund einen kritischen Blick auf Care. In ihrer Arbeit Care without Control weisen sie auf den Zusammenhang zwischen Fürsorge in Flüchtlingslagern als vermeintlichen Schutzort und den Kontrollmechanismen der humanitären Grenze, welche das europäische Grenzregime und dessen gewaltvolle Grenzpraktiken stützen. Diese Auseinandersetzung verdeutlicht, welche Fallstrike und Ambivalenzen sich in Praktiken der Sorge abbilden. Sorge sollte dementsprechend weder romantisiert noch als selbstloser Akt der Liebe verstanden werden. Trotz seiner Ambivalenzen und der Frage, ob und wie Reziprozität konkret in Praktiken umgesetzt werden kann, bietet das weite Verständnis der Care-Ethik einen wertvollen Ansatz, um über soziale Gerechtigkeit, Machtverhältnisse und den Schutz von Leben im Kontext einer interdependenten Welt nachzudenken.
Einen in diesem Kontext ebenfalls fruchtbaren Ansatz liefert Judith Butler in ihrem Werk Raster des Krieges. Auch wenn ihr Ansatz nicht den Begriff der Sorge aufgreift, fordert Judith Butler eine neue Ontologie der Körper und betont darin die egalitäre Verletzlichkeit dieser. Während Tronto und Fisher grundlegender über die menschliche Angewiesenheit auf Sorge nachdenken, spitzt Butler mit ihrer Ethik der Verwundbarkeit und ihrem Begriff des Prekär-Seins den Zusammenhang zwischen einer universellen Verletzlichkeit menschlicher Körper und einer Hierarchisierung von Leben zu. Der Begriff des Prekär-Seins betont die politische Dimension von Sorge, indem er aufzeigt, wie die Abhängigkeit der menschlichen Existenz von sozialen Netzwerken das Überleben oder Sterben von Individuen maßgeblich beeinflusst. Das Prekär-Sein von Subjekten wird in Herrschaftsverhältnissen strukturiert, wodurch diese Hierarchie darüber entscheidet, welches Leben das Privileg des Schutzes erfährt und welches nicht. Hiermit geht die Frage einher, welches Leben grundsätzlich als schützenswertes Leben anerkannt und welches systematisch abgewertet und entmenschlicht wird. Nach Butler teilen somit alle menschlichen Körper eine Verwundbarkeit und transnationale Abhängigkeit, die jedoch politisch strukturiert ist und somit individuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Die Struktur, die in der aktuellen historischen Situation darüber entscheidet, manifestiert sich in einem individualistischen, neoliberalen und kapitalistischen System, welches Abhängigkeiten, Verletzlichkeit und Schwächen durch die Vorstellung des autonomen Subjekts häufig unsichtbar macht.
Die Europäische Union und ihr gewaltvolles Grenzregime
Übertragen wir diese theoretischen Annahmen auf die aktuelle EU-Grenzpolitik, zeigt sich eine erschreckende Logik. Geflüchtete werden bspw. auf dem Mittelmeer, auf dem Balkan oder an der polnisch-belarussischen Grenze durch brutale und völkerrechtswidrige Grenzpraktiken wie Push-Backs, illegale Zurückweisungen ohne Prüfung von Asylansprüchen und die Unterbringung in menschenunwürdigen Lagern systematisch entrechtet. In diesen Praktiken manifestiert sich, im Sinne Butlers, die systematische Abwertung und Entmenschlichung des Lebens der Geflüchteten. Den Körpern dieser Menschen wird das Privileg des Schutzes abgesprochen, wodurch die gewaltvollen Grenzpraktiken die Geflüchteten in eine prekäre bis lebensbedrohliche Situation bringen. Das Ziel der europäischen Mitgliedsstaaten ist ein strikter Ausschluss von Geflüchteten aus staatlichen Fürsorgestrukturen. Die Strukturen des europäischen Grenzregimes hierarchisieren menschliches Leben sogar so weit, dass das Sterben an den Grenzen bewusst in Kauf genommen wird.
Sabine Hess spricht gar von einer Nekropolitisierung an den EU-Außengrenzen. Sie bezieht sich damit auf ein Konzept Achille Mbembes, der Foucaults Begriff der Biopolitik aufgreift und mit dem Begriff der Nekropolitisierung diskutiert, wie das Leben und Sterben lassen entlang wirtschaftlicher Verwertbarkeit in staatlichen und neokolonialen Todespolitiken kalkuliert wird. Staaten und ihre Grenzen schaffen hiernach die Bedingungen für eine rassistische Politik, anhand derer verwertbares Leben ausgebeutet werden kann und anderes gezielt sterben gelassen wird.
Sorge als Widerstand
Dem versuchen verschiedene Graswurzelorganisationen und Initiativen wie bspw. No-Border Küchen entgegenzuwirken. Derartige Gruppen, die entlang der europäischen Außen- und Binnengrenzen aktiv sind, besorgen Lebensmittel und Kleidung, versuchen die hygienischen Bedingungen für Geflüchtete zu verbessern oder Zugang zu medizinischer Versorgung sowie rechtlicher Beratung zu ermöglichen. Sie bilden auf diesem Weg eine alternative Fürsorgestruktur außerhalb staatlicher Kontrolle.
Innerhalb dieser autonomen Unterstützungsnetzwerke, welche versuchen den Leerstellen der staatlichen Ausschlüsse entgegenzuarbeiten, lässt sich auch in der internen Organisierung ein interessanter Bezug zur Care-Ethik herstellen. Häufig setzen sich diese Gruppen mit dem Anspruch auseinander, zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb der eigenen Praxis kritisch zu reflektieren. Das Streben nach Augenhöhe und reziproken Beziehungen zwischen Aktivist:innen und Geflüchteten, die in extrem asymmetrische Positionalitäten eingebettet sind, lassen sich mit dem Sorgeverständnis von Tronto und Fisher fassen. Die privilegierteren Aktivist:innen besitzen einen Zugang zu Ressourcen und Entscheidungsmacht über die Gestaltung der Projekte vor Ort. Ziel der alternativen Fürsorgestruktur ist demgegenüber häufig die größtmögliche Autonomie der Geflüchteten.
In diesem Kontext finden asymmetrische soziale Beziehungen statt, die innerhalb bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verorten sind. So zeigt sich in Praktiken wie dem Austausch über gewünschtes Essen und gemeinsames Kochen zwischen Aktivist:innen und Geflüchteten, wie auf interpersoneller Ebene Bedürfnisse verhandelt werden. Eine solche Perspektive auf den Zusammenhang von Sorge und Aktivismus läuft jedoch leicht Gefahr, den konflikthaften und ambivalenten Charakter von Sorgebeziehungen aus dem Blick zu verlieren. Paternalistische Handlungen und Diskriminierungen sind Teil von Unterdrückungungsmechanismen innerhalb aktueller Gesellschaftsverhältnisse, denen innerhalb von Sorgebeziehungen durch Reziprozität und Reflektion aktiv entgegengearbeitet werden muss.
Mit einem universellen Verständnis von Sorge lässt sich so ein spezifischer Aspekt der Grenzgewalt fassen, indem die prekären Lebensbedingungen in den Grenzräumen mit einem bewussten Ausschluss von Menschen aus staatlichen Fürsorgestrukturen in Zusammenhang gesetzt werden. Ebenso wird mit einem holistischen Sorgebegriff sichtbar, wie das Unterstützen von Geflüchteten an europäischen Grenzen zu einer widerständigen Praxis gegen ein rassistisches Grenzregime wird. Neben all seiner Ambivalenzen ermöglicht das Konzept Sorge auf diese Art und Weise die Analyse von aktuellen politischen Phänomenen und bietet neue feministische Perspektiven auf Aktivismus sowie auf Flucht und Migration.
Jasmin Behrends (she/her) studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und beschäftigt sich hier besonders mit kritischer Migrationsforschung, Care-Forschung und Solidaritätsdebatten. Außerdem ist sie in verschiedenen aktivistischen Kontexten aktiv.
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