Kritische Theorie des Wandels im Wandel – ein Tagungsbericht

Revolutionen tragen ein aktives und ein passives Moment in sich; damit sie gelingen, braucht es nicht nur den guten Willen der Handelnden, sondern auch objektive Bedingungen, die einen radikalen sozialen Wandel erst ermöglichen. Dies ist das wohl anschlussfähigste Theorem des historischen Materialismus und der Revolutionstheorie von Karl Marx (vgl. von Redecker 2018: 20; Marx 1976 [1844]: 386). Das Theorem findet sich auch in der Gliederung des vom Centre for Social Critique organisierten Workshops „Change2: The Disruptions of Social Change“ wieder, der am 20. und 21. Februar in Berlin stattfand.

Die ersten zwei Panels drehten sich um die Frage der sozialen Reproduktion, zielten also auf ein adäquates Verständnis des passiven Moments der Revolution; die letzten drei Panels hingegen beschäftigten sich mit dem aktiven Element der Revolution, den „Agents of Change“, sprich: den revolutionären Subjekten.

Im Bezug auf das passive Moment ist eine schon im Titel des Workshops mit „Change2“ kryptisch angedeutete These der Organisator*innen: Sozialer Wandel geschieht nie vor einem stabilen Hintergrund, einer statisch verstandenen oder sich reibungslos reproduzierenden Gesellschaft. Change2 soll heißen: Wandel im Wandel. In Frage steht die Möglichkeit radikalen, mithin emanzipatorischen Wandels in einer sich immer schon im Wandel befindenden Gesellschaft (vgl. Jaeggi 2017: 217). Eine Möglichkeit zu sagen, was radikaler (im Gegensatz zu oberflächlichem) Wandel umfassen muss, findet sich in Fred Neuhousers an Hegel angelehnter Konzeption von ethisch-funktionalem Wandel.

1 Soziale Pathologien: Neuhousers Revival einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie

Neuhousers neu erschienenes Buch Diagnosing Social Pathologies. Rousseau, Hegel, Marx, and Durkheim war die Gesprächsgrundlage des ersten Panels. Sein Argument entwickelte er in kritischer Rekonstruktion der funktionalistischen Gesellschaftstheorie Durkheims. Dieser bescheinigte er eine Einseitigkeit, insofern sie die Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, allein materiellen Prozessen vorbehalte. In einem all zu mechanischen Modell gehe Durkheim davon aus, dass neue Formen sozialer Organisation allein durch verändertes Bevölkerungswachstum und zunehmende Bevölkerungsdichte eröffnet werden. Die Moral hingegen passe sich den neuen sozialen Bedingungen nur an, moralischer Fortschritt sei also immer als Funktion materieller Prozesse zu denken.

Wenn aber soziale Krisen zugleich moralische Krisen sind, so Neuhousers zentraler Einwand, dann müssen auch die Lösungen für diese Krisen sowohl sozial als auch moralisch sein. Leider führte Neuhouser seine Lösung dieses Problems im Vortrag nur andeutungsweise aus; wer hier Ausführlicheres wissen will, sei auf Kapitel 11 bis 13 seines neuen Buches verwiesen. In diesen versucht Neuhouser, Hegels Philosophie des objektiven Geistes für ein Verständnis ethisch-funktionalen Wandels fruchtbar zu machen. Er liefert damit einen auf vielversprechende Weise zwischen Voluntarismus und Ökonomismus navigierenden Vorschlag dafür, was es bedeutet, von sozialen Pathologien und deren Überwindung zu sprechen. Denn Pathologien sind damit nicht nur ethische oder funktionale Pathologien sondern beides zugleich und ihre Überwindung kann sich weder allein in einer ethischen Reorientierung noch in einer funktional-äquivalenten Ersetzung erschöpfen, wenn sie nachhaltig erfolgreich sein soll.

Wie Karen Ng in ihrem Kommentar zu Neuhousers Vortrag hervorhob, vermeidet Neuhouser dabei bekannte Fallstricke des Funktionalismus: Erstens sieht er keine Rückkehr zu einem vermeintlich gesunden Zustand des nun kranken gesellschaftlichen Organismus vor. Zweitens versteht Neuhouser Funktionalismus nicht als totale Beschreibung eines funktional integrierten Gesamtsystems, in dem höchstens oberflächlicher Wandel denkbar ist, sondern deutlich lokaler, in dem Sinne, dass man einzelne gesellschaftliche Phänomene nicht ohne ihre Funktion in weiteren Zusammenhängen verstehen kann. Durch diesen schwachen Holismus bleibt Platz für Orte innerhalb der Gesellschaft, die nicht oder nicht stark funktional integriert sind, wodurch tiefgreifender, funktional-ethischer Wandel beispielsweise durch die Herausbildung interstitieller Praktiken, also Praktiken, die in gesellschaftlichen Nischen vollzogen werden, möglich wird. Fraglich bleibt nur, ob einem solch abgeschwächten Funktionalismus der Organismus als Metapher noch taugt. Eva von Redecker schlug in der Diskussion vor, anstelle des Organismus das Ökosystem als Metapher zu wählen, wie auch bereits Erik Olin Wright in Envisioning Real Utopias (2010: 323 Fn. 3).

Wie genau Akteure sozialen Wandels entstehen oder wie sich Wandlungsprozesse vollziehen, lässt Neuhouser offen. Die Arbeit seines Buches lässt sich vielmehr als eine Theorie von Krisen verstehen, deren Vor- und Nachteil es ist, kaum Antagonismen aufzumachen: Vorteil, da ein weit geteiltes Krisenverständnis zur Ermöglichung breiterer Allianzen beitragen kann, Nachteil jedoch, wie Daniel Loick anmerkte, da gesellschaftliche Asymmetrien und Machtverhältnisse weniger sichtbar werden.

2 Heroische Individuen oder soziale Bewegungen? Die Akteure sozialen Wandels

Die letzten drei Panels beschäftigten sich mit dem aktiven Element des radikalen Wandels, den „Agents of Change“, sprich: den revolutionären Subjekten. Von Hegel einst als diejenigen erkannt, deren „partikuläre Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist“ (Hegel 1995 [1831]: 165), wird heute kaum jemand mehr mit Hegel in der Frage übereinstimmen, auf wen denn diese Beschreibung zutrifft. Doch nicht nur Hegels „welthistorische Individuen“ sind als revolutionäre Subjekte unglaubwürdig geworden, auch Marx‘ Vorschlag, das Klasseninteresse des Proletariats mit dem Interesse an einer emanzipativen Revolution zu identifizieren, wurde schon 1937 von Horkheimer in Zweifel gezogen (Horkheimer 2009 [1937]: 187f.). Auch nicht mehr ganz neu, aber theoretisch weiterhin hochaktuell, sind hingegen Vorschläge, die soziale Bewegungen als Akteure sozialen Wandels ausmachen – man denke mit Frantz Fanon an antikoloniale Kämpfe (vgl. Fanon 1961) oder mit Jürgen Habermas an Schüler*innen- und Student*innenbewegungen (vgl. Habermas 1968: 520). Dass soziale Bewegungen und nicht Einzelpersonen oder der technische Fortschritt den sozialen Wandel vorantreiben, war auch die von den meisten Anwesenden geteilte Überzeugung, mit der nennenswerten Ausnahme des Philosophen und politischen Aktivisten Thomas Seibert, der in einem existentialistischen Exkurs versuchte, das heroische Individuum als revolutionäres Subjekt zu plausibilisieren. Ansonsten war man sich einig darin, sozialen Bewegungen als Akteuren sozialen Wandels die Aufmerksamkeit zu schenken. Uneinigkeit bestand dann in den Detailfragen: Welchen Beitrag leisten soziale Bewegungen für den sozialen Wandel? Werden sie zurecht dafür gepriesen, neue Praktiken zu kreieren und einzuüben (vgl. Haslanger 2022: 17)?

In ihrer Antwort auf die erste Frage wies Hannah Meißner anhand der geschlechtlichen Aufteilung von Haushaltsaufgaben in heterosexuellen Paarbeziehungen auf eine Individualisierung und Privatisierung von moralischen (und politischen) Fragen hin, die zu einem ‚atomisierten Subjekt‘ führen würden. Gleichermaßen würden politische Belange auf diese Weise depolitisiert und erschienen als persönliche Entscheidungen, die sich jeglicher Kritik entzögen, wenngleich es sich um kollektive und tradierte Erfahrungen und Entscheidungshorizonte handele. Das emanzipative Potential sozialer Bewegungen lokalisiert sie dann darin, diese vermeintlich individuellen Erfahrungen auf einer öffentlichen Bühne kollektiv zu artikulieren. So würden individualisierte Erfahrungen repolitisiert, die einer politischen Antwort benötigen. Auch von Redecker verortete die Möglichkeit für sozialen Wandel in sozialen Bewegungen. Diese agieren ihr zufolge als Korrektiv für soziale Veränderungen und politische Entscheidungen und bewahren heroische Individuen, Gesetzgeber und Institutionen davor, in die falsche Richtung zu kippen. Sie argumentiert außerdem, dass transformatives Handeln erst im Kollektiv möglich wird, da Handlungsfähigkeit auf sozialen Strukturen basiert. Die Aufgabe von sozialen Bewegungen sei es dann, soziale Probleme dringlich zu machen, indem sie schwelende Konflikte in konkrete Krisen verwandeln. Sobald diffuse Konflikte zu Krisen gemacht werden, werden sie lösbar und fordern eine politische Reaktion ein. Robin Celikates betonte in seinem Vortrag das demokratiekonstituierende Element sozialer Bewegungen. Indem sie politische Entscheidungsprozesse kritisieren und (Neu-)Verhandlungen politischer Fragen einfordern, können sie die Demokratisierung existierender Demokratien vorantreiben. Sie weisen damit darauf hin, dass Demokratien inhärent konflikthaft sind und fortwährend einem Aushandlungsprozess unterliegen. Damit sind soziale Bewegungen eben jener außerinstitutionellen Kritik und einer Praxis des Dissens imstande, die nötig ist, um strukturelle Defizite in der repräsentativen Demokratie auszugleichen.

Besonders kontrovers wurde die zweite Frage, die nach der Rolle und Möglichkeit genuin neuer Praktiken, diskutiert. Während Michele Moody-Adams wie auch Haslanger dies als eine zentrale Tätigkeit und Rolle sozialer Bewegungen ansah, fragte Rahel Jaeggi nach den Ursprüngen und Ermöglichungsbedingungen dieses Neuen, vor allem eines Neuen, das nicht von den Schwierigkeiten des Alten gezeichnet bleibt.

3 Theory for the movement – Kritische Theorie für den Wandel

Wenn soziale Bewegungen als Akteure sozialen Wandels ausgemacht sind, bleibt die Frage, in welchem Verhältnis Theorie und Bewegung stehen. Was kann also die Kritische Theorie zum sozialen Wandel beitragen?

Ein erster Beitrag ist selbstverständlich, dass Kritische Theorie soziale Bewegungen als Akteure sozialen Wandels überhaupt erst sichtbar macht und auf deren oben genannte Beiträge jenseits von Agenda-Setting und vehementer politischer Willensäußerung hinweist. Kritische Theorie kann aber auch Grundlagen für Allianzen aufzeigen, unter anderem, indem sie Scheinwidersprüche zwischen verschiedenen Veränderungsbemühungen auflöst. Loick kritisierte in seinem Vortrag einen solchen, prominent von Nancy Fraser ausgearbeiteten, Versuch, über den Begriff der Arbeit Gemeinsamkeiten von sozialen Kämpfen herauszuarbeiten. Er befürchtete, dass dabei der Aspekt der Subjektivierung zu kurz komme. Diese geschehe glücklicherweise nicht nur über Arbeit, und solle auch nicht ökonomistisch darauf reduziert werden. Sein Gegenvorschlag ist, den Begriff struggle als Grundlage für Allianzen fruchtbar zu machen, denn wir alle seien de facto bereits täglich „am strugglen“. Unter diesem einenden Begriff gilt es dann, struggles mit emanzipatorischer Ausrichtung von nicht emanzipatorischen zu unterscheiden. Allerdings wurde Loick auf die Gefahr hingewiesen, dabei den Unterschied zwischen dem struggle des täglichen Lebens und dem struggle, der der Weg zu radikalem Wandel ist, zu unterschätzen.

Ein weiterer Punkt, in welchem die Kritische Theorie zu sozialem Wandel beitragen kann, besteht darin, Vorarbeit für strategische Überlegungen zu leisten. Hier knüpfte Jaeggi in ihren Ausführungen dazu, was eine Theorie sozialen Wandels als  eine solche Vorarbeit strategischer Überlegungen leisten sollte, eng an Wright (2010: 273f.) an: Zunächst bedarf es eines Verständnisses von Prozessen sozialer Reproduktion, dem stetigen Wandel in ihnen, sowie den sich auftuenden Lücken und Widersprüchen. Darüber hinaus muss eine Theorie sozialen Wandels einen Ausblick auf weitere Verläufe nicht intendierten Wandels geben können. Aufbauend auf diesen Elementen lässt sich eine Theorie transformativer Strategien entwickeln; bei Wright ein Zusammenspiel aus den grundsätzlichen Herangehensweisen von radikalem Bruch, interstitiellen Praktiken und Reformen. Dies betrifft unmittelbar das Vorgehen sozialer Bewegungen.

4 Wie viel Theorie darf‘s sein?

Darüber, wie viel Gesellschaftstheorie für gelungene strategische Überlegungen sozialer Bewegungen nötig ist, gingen die Ansichten auf der Tagung allerdings auseinander. Während Jaeggi ihr großes Gewicht beimaß, betonte Celikates die gleichzeitigen Gefahren, die in Theorie lauern – von einer Depolitisierung durch eine gewisse Form von Scholastik bis hin zur Unsichtbarmachung von Phänomenen und Zusammenhängen, die nicht unmittelbar Gegenstand der theoretischen Debatte oder Teil eines konzeptuellen Framings sind. Am skeptischsten äußerte sich Arvi Särkelä, der provokant in den Raum stellte, dass vielleicht auch für kritische Theoretiker*innen die Zeit des Handelns gekommen sei. Hier wandte Jaeggi ein, dass zwar keine Theorie nötig sei, um zu wissen, was zu tun ist, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, aber Theorie durchaus ihren Platz habe, wenn es darum geht, welche Strukturen wie zu ändern sind, damit nicht immer wieder Tausende in Seenot geraten. Theorie ist notwendig, um Widersprüche und Lücken in den Strukturen sozialer Reproduktion auszumachen und ermöglicht damit, dass soziale Bewegungen ihre Energie gebündelt auf die ausgemachten Transformationspotentiale richten können. Die Tagungsteilnehmenden rangen um Konzepte und Bilder, diese Prozesse fassbar zu machen, vieles blieb jedoch programmatisch.

So wichtig Theorie für sozialen Wandel auch sein mag, kam doch auf dem Workshop wiederholt zur Sprache, dass die Kritische Theorie ihre Rolle im Geschehen nicht überschätzen sollte. Vieles wird in sozialen Bewegungen vorgedacht und erst zeitverzögert in der akademischen Debatte aufgegriffen – nicht immer ist der Bezug hier eng genug. Insbesondere Celikates mahnte an, dass die kritisch-theoretische Auseinandersetzung mit Rassismus immer noch zu wenig stattfinde. Auch ist Seiberts aus praktischer Erfahrung als Aktivist stammender Eindruck ernst zu nehmen, dass Transformationsarbeit in sozialen Bewegungen oft in erheblichem Maße ungleich verteilt ist. Die auf der Konferenz fast unisono artikulierte Begeisterung für die erstarkenden Bewegungen sollte nicht blind machen – etwa für die Gefahr einer Auffächerung in Kleinstbewegungen. Es ist das Potential von Kritischer Theorie, sich dem entgegenzustellen und Raum für Aushandlungsprozesse und notwendige begriffliche Vorarbeiten zu bieten.

 

Charlotte Ruble, Dominik Buhl, Hanna Hoffmann-Richter und Ian Stephan studieren Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Kritischer Theorie.

Ein Kommentar zu “Kritische Theorie des Wandels im Wandel – ein Tagungsbericht

  1. einige neue Aspekte zur kritischen Theorie. Der Diskurs gehrt also weiter. Vielen Dank dafür.

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