Verfassung und Recht sind zurück im Fokus politikwissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die grassierenden Krisenszenarien vom Ende, der Erosion oder dem Sterben der liberalen Demokratie haben auch die Diskussion um die Bedeutung des Rechts neu entfacht. Denn als eine der zeitgenössischen Pathologien liberaler Demokratien gilt manchen ihre zunehmende Verrechtlichung. So wird seit einiger Zeit die Auseinanderentwicklung von Liberalismus und Demokratie (Mounk) bzw. die Entstehung eines demokratiearmen (Zürn) oder sogar autoritären (Menéndenz) Liberalismus prognostiziert. Im Zentrum dieser Diagnosen steht auch die Begrenzung demokratischer Handlungsspielräume durch Recht und der Bedeutungsgewinn sogenannter nichtmajoritärer Institutionen, allen voran Gerichte. Was kann die Politische Theorie zu dieser Debatte um die Entpolitisierung der liberalen Demokratie beitragen? Meine Antwort lautet: Wir müssen uns dem Recht selbst zuwenden und aus politiktheoretischer Perspektive neu über Begriff, Funktion und Bedeutung von Recht in liberalen Demokratien verständigen.
Um das Politische im Recht wiederzugewinnen und zu verteidigen, bedarf es zunächst der Konturierung seiner politischen Dimension. Dazu muss das vorherrschende, einseitige Verständnis von Verfassung und Recht als Grenze der Politik überwunden werden. Auszugehen ist vielmehr von der ordnungstheoretischen Doppelfunktion des Rechts, nämlich Politik zu begrenzen und zugleich aber überhaupt erst zu ermöglichen, die sich besonders mit Blick auf die Verfassung zeigt. In dieser Perspektive tritt nämlich deutlich hervor, dass die Grammatik des modernen Rechts eine eminent politische ist, deren Wesen darin besteht, Raum für politisches Handeln zu eröffnen. Und diese Grammatik wiederum eröffnet politischen Akteur*innen Strategien der Politisierung.
Internationale Verrechtlichung und „turn to constitutionalism“
Dass sich Politik und Recht auseinanderentwickeln, zeigt sich zugespitzt auf der notorisch um Legitimität ringenden suprastaatlichen Ebene. Hier wird bereits seit längerem ein „growing drift between law and democracy“ (Dobner) registriert. Gemeint sind damit internationale Konstitutionalisierungsprozesse, die in der Regel eine große juristische Sensibilität und Stringenz aufweisen, deren demokratische Legitimation aber bislang prekär geblieben ist. Die Entwicklung verlaufe, so konstatiert Nico Krisch, „in favour of a liberal model that emphasizes the rule of law over democratic concerns“. Beispielhaft wird in diesem Kontext auf die Entwicklung der Europäischen Union verwiesen, wo die rechtliche Integration inzwischen die politische Integration gewissermaßen überholt zu haben scheint. Den Grundstein für die europäische Konstitutionalisierung legte überhaupt erst der EuGH, der in zwei aufeinanderfolgenden Entscheidungen zu Beginn der 1960er Jahre die Europäischen Verträge kurzerhand wie eine Verfassung auslegte, nämlich mit Geltungs- und Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht, und damit ein rechtliches Vehikel für die Vertiefung der europäischen Integration schuf. Die politische Setzung des Rechts wurde hier abgelöst von einer evolutionären judiziellen Rechtserzeugung durch Interpretation.
Die Skepsis gegenüber der anfänglich begrüßten Konstitutionalisierung ist inzwischen nicht mehr zu überhören, Beobachter*innen aus Politik- und Rechtswissenschaft kritisieren vermehrt die „over-constitutionalization“ der EU. Aus politiktheoretischer Perspektive ist an der suprastaatlichen Konstitutionalisierung besonders problematisch, dass die für den Aufstieg des modernen Konstitutionalismus wirkmächtige Verbindung von Verfassung und politischer Selbstbestimmung dabei in den Hintergrund tritt. Die Grundidee des modernen Konstitutionalismus ist es, Recht und politische Ordnung auf die politische Selbstbestimmung des pouvoir constituant zu gründen und diese Idee in Gestalt des Verfassungsrechts zu institutionalisieren. Der Konstitutionalismus geht von der Machbarkeit politischer Ordnung aus, Recht und Ordnung werden nicht vorgefunden, sondern beruhen auf aktiver politischer Setzung. Daraus bezieht das Recht seine Autorität und Legitimität.
Gerade politische Theoretiker*innen haben den Bruch mit dieser demokratischen Tradition des modernen Konstitutionalismus bemerkt und überstaatliche Konstitutionalisierungsprozesse, die ohne demokratische Autorisierung durch einen pouvoir constituant entstehen, klar als Usurpation benannt (Niesen). Sie haben damit zugleich die „verfassungspolitische Leerstelle“ (Patberg) der Konstitutionalisierungsdebatte zum Thema der politischen Theorie gemacht und mit dem Begriff der „konstituierenden Autorität“ einen Vorschlag zur politischen Legitimität überstaatlicher Ordnungen gemacht, der bereits auf dem theorieblog diskutiert wurde. Der „turn to constitutionalism“, den Alec Stone Sweet bereits vor einiger Zeit für unsere Nachbardisziplin der Rechtswissenschaft registriert hat, hat damit auch die Politische Theorie erfasst. Mit der Wiederentdeckung des pouvoir constituant wurde nicht nur ein längst überfälliger politiktheoretischer Zugang zum bislang weitgehend juridisch dominierten Feld der internationalen Normsetzung eröffnet, sondern zugleich die Aufmerksamkeit auf die genuin demokratische Idee der Autorisierung des Rechts durch einen demos gelenkt.
Genese und Geltung des Rechts
Im Vordergrund steht damit bislang vor allem die Konstitution des Rechts. Das Theorem des pouvoir constituant verweist auf die demokratische Begründung normativer Geltung durch Gründung; hier wird der demokratische Anspruch auf politische Selbstbestimmung mit dem Medium des Rechts verknüpft. Dass die Normgenese eine genuin politische Angelegenheit und damit zugleich Sache der Politischen Theorie ist, liegt also auf der Hand. Wie aber steht es um das dann in Geltung gesetzte Recht? Hier ist das Bild nicht mehr ganz so eindeutig. Das Begriffspaar der Genese und Geltung markiert nicht nur zwei Aggregatszustände einer Norm, sondern scheint auch die Zuständigkeiten der beteiligten Disziplinen zu verteilen: Während politiktheoretische Arbeiten die Konstitution und Autorisierung des Rechts in den Blick nehmen, also seine Genese, kümmert sich die Rechtswissenschaft um Interpretation, Fortbildung und Systematisierung des geltenden Rechts.
Problematisch ist diese Aufgabenverteilung, weil sie oftmals unter Verweis auf juridische Eigenlogiken den Eindruck erweckt, eindeutig politisch determiniert sei nur die Entstehung des Rechts, und damit in der Konsequenz einen eigenen politiktheoretischen Zugang zur Geltungsseite des Rechts erschwert. Verdeckt wird dabei, dass das geltende Recht selbst von einer politischen Grammatik bestimmt wird. Recht und ganz besonders Verfassungsrecht ist immer Instrument der Machtbildung, Ermöglichungsbedingung politischen Handelns und Kompetenzzuweisung und setzt darin zugleich der Politik Grenzen. Die systematische Entfaltung dieser politischen Dimension des Rechts ist bis heute ein Desiderat der Forschung geblieben. Das hat zur Folge, dass wir uns schwer damit tun, auf die aktuellen Diagnosen einer Entpolitisierung demokratischer Politik durch Verrechtlichung – in deren Zentrum ja das Verhältnis von Politik und geltendem Recht steht – eine politiktheoretische Antwort zu finden.
Dominanz eines negativen Konstitutionalismus
Diese Antwort erscheint indes umso dringender, als der überkommene, meist juristisch imprägnierte Blick auf das Verhältnis von Politik und Recht nach wie vor einseitig auf das Thema der Begrenzung fixiert ist. Vornehmste Aufgabe des Rechts soll es demnach sein, die Politik in Schach zu halten und ihr Grenzen zu setzen bzw. sie an letztverbindliche Prinzipien zu binden. Zur Begründung wird meist auf eine unterstellte epistemische Differenz zwischen Politik und Recht verwiesen: Recht scheint demnach mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Rationalität zu korrespondieren, wohingegen Politik weitgehend kontingent und erratisch erscheint. Im rechtsstaatlichen Paradigma begründet diese Differenz die Notwendigkeit rechtlicher Grenzen der Politik. Das Recht legt dann an die Politik einen Maßstab der Vernünftigkeit an, den diese aus sich selbst heraus vermeintlich nicht generieren kann.
Auf die Dominanz dieses „negative constitutionalism“ hat etwa Stephen Holmes bereits in den 1990er Jahren hingewiesen. Seine Kritik an einem allzu einseitigen Verständnis von Verfassungen als „preventive or inhibitory devices“ ist heute angesichts des Bedeutungsgewinns von Recht und Gerichten und dem öffentlichen Vertrauen in ihre Lösungskompetenz aktueller denn je. Das untergründige Verständnis von Politik und Recht beschrieb Holmes mit der Metapher des „Peter sober“ und seinem zügellosen Alter Ego „Peter drunk“: Während Verfassung und Recht nach verbreiteter Anschauung sinnbildlich für den nüchternen Peter stünden, glichen Bürger und Politik dem betrunkenen Peter. Die Schlussfolgerung daraus liegt auf der Hand, im Grunde geht ein einseitig auf Begrenzung fixiertes Rechtsverständnis von der Unzurechnungsfähigkeit von Bürger*innen und Politik aus, die es durch Recht zu domestizieren gilt. Von einer solchen Unzurechnungsfähigkeit demokratischer Politik scheint auch das Bundesverfassungsgericht bisweilen auszugehen. So hat es im vergangenen Jahr in seinem Urteil zur Kernbrennstoffsteuer dem Gesetzgeber ein „Steuererfindungsrecht“ verwehrt und damit nicht nur den Atomkonzernen viel Geld gespart, sondern die fiskalpolitische Gestaltungsfreiheit gleich ganz auf einen abschließenden Katalog an grundgesetzlich geregelten Steuerarten begrenzt.
Recht als politische Institution
Freilich leugnet diese Kritik nicht den Bedarf an (rechtlichen) Schranken der Politik. Die neuzeitliche Bedeutung der Verfassung liegt unbestrittenermaßen in ihrer Funktion, der Politik verbindliche Grenzen zu setzen. Aber darin erschöpft sie sich nicht. In der Überbetonung rechtlicher Grenzziehungen kommt vielmehr ein reduktionistischer Blick auf den „Verweisungszusammenhang von Politik und Recht“ (Lembcke) zum Ausdruck. Ein politiktheoretisches Verständnis des modernen Konstitutionalismus muss gerade von diesem Zusammenhang ausgehen. Denn die Verfassung ist die „Ordnung des Politischen“ (Ulrich K. Preuß) und als solche besteht ihre Kernaufgabe darin, die institutionellen Bedingungen zu gewährleisten, unter denen demokratische Politik ihre schöpferische Kraft entfalten kann. In der Demokratie hat Recht eine dienende Funktion. Seine Grundstruktur muss sich an dem Anspruch messen lassen, demokratisches Handeln zu ermöglichen. Und diese Handlungsperspektive ist es, die gegen die derzeit als ausweglos beschriebenen Tendenzen der Verrechtlichung durch Überkonstitutionalisierung politisierend in Stellung gebracht werden muss.
Dieser handlungsorientierte Zugang zum Recht lässt sich besonders gut mit Hilfe eines institutionentheoretischen Ansatzes entfalten, den gerade politiktheoretische Arbeiten stark gemacht haben. Es ist der Vorzug institutionentheoretischer Ansätze, dass sie den Blick freigeben auf zwei grundlegende Wirkungsdimensionen politischer Institutionen: instrumentelle Ordnung des Politischen und gesellschaftspolitische Orientierung durch ideelle Bedeutungszuschreibungen. Recht und Verfassung als politische Institutionen zu verstehen bedeutet demnach, sie nicht auf ihre Eigenschaft als Grenzen setzende Norm zu reduzieren, sondern ihre politische Dimension mit Hilfe der beiden Leitkategorien – Ordnung und Orientierung – zu adressieren, um ihre vielschichtige Bedeutung als Instrumente zur Ordnung des Politischen, als Manifestation politischer Leitideen und als Adresse gesellschaftspolitischer Sinnzuschreibungen zu verstehen.
Begrenzung und Ermöglichung: die Doppelfunktion des Rechts
Das politiktheoretische Verfassungsdenken hat sich zuletzt besonders auf die Orientierungs- und Symboldimension der Verfassung kapriziert. Während die Orientierungs- und Symbolebene in politiktheoretische Fragestellungen der politischen Integration durch Verfassung übersetzt wurde, erscheint die konstitutionelle Ordnungsdimension gleichsam untertheoretisiert. Um dieses Defizit auszugleichen, muss die Politische Theorie wieder an die verstreute Tradition eines politischen Konstitutionalismus anknüpfen, wie er von so unterschiedlichen Autor*innen wie Hermann Heller, Hannah Arendt, Wilhelm Hennis, Ulrich K. Preuß, Richard Bellamy, Jeremy Waldron und Stephen Holmes vertreten wird. Ihnen gemeinsam ist, dass sie – mit Hermann Heller gesprochen – den „machtbildenden Charakter“ des Rechts hervorheben und damit die Konstitution des Politischen.
Als Ausgangspunkt politiktheoretischer Forschung ist der ordnungstheoretische Doppelcharakter der Verfassung als Schranke und Ermöglichung politischen Handelns zu setzen. Die institutionelle Dynamik des Verfassungsrechts, die aus Begrenzungen Handlungsmöglichkeiten hervorbringt, lässt sich mit dem scharfsinnigen Begriff der „enabling constraints“ (Holmes) treffend beschreiben: So wie die Regeln der Grammatik nicht Kommunikation behindern, sondern überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen miteinander kommunizieren können, so ermöglichen die Grenzziehungen des Verfassungsrechts überhaupt erst demokratisches Handeln. Diese Prozesse der Machtbildung sind dann wiederum darauf angewiesen, in Institutionen verstetigt zu werden.
Macht, Institution, Handeln, Partizipation – entlang dieser politischen Grundbegriffe haben die genannten Theoretiker*innen für einen politischen Konstitutionalismus gestritten und ihre Positionen stets als Interventionen in konkrete historische Lagen verstanden. Vermittels dieser Begriffe eröffnet sich ein spezifisch politiktheoretischer Blick auf aktuelle rechtliche Entwicklungen wie sie etwa unter dem Stichwort „strategic litigation“ diskutiert werden. Gemeint ist damit die gezielte Klageführung Einzelner, meist unterstützt durch NGOs oder Interessengruppen, um auf dem Weg gerichtlicher Entscheidungen politische Veränderungen anzustoßen. Hier offenbaren sich politische Mobilisierungspotenziale des Rechts, denen die Rechtswissenschaft noch weitgehend sprachlos gegenübersteht. In methodischer Hinsicht muss sich die Politische Theorie dabei einen problembezogenen, intervenierenden Zugriff erhalten, weil sie besonders kompetent dafür ist, gegenwärtige Verrechtlichungsprozesse nicht nur zu kritisieren, sondern solche politischen Mobilisierungspotenziale des Rechts vor dem Hintergrund demokratietheoretischer Fragen zu identifizieren und damit der Versuchung zu widerstehen, Liberalismus und Demokratie leichtfertig auseinanderzudividieren. Denn gleiche Freiheit war stets nur in der konstitutionellen Demokratie zu haben, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich daran auf absehbare Zeit etwas ändert.
Das ist ein wirklich interessantes Thema. Steht dahinter nicht auch die Frage, wie sich öffentliches und Privatrecht zueinander verhalten? Grob gesagt: Politische Theorie geht oft davon aus, dass bestimmte Angelegenheiten durch öffentliches Recht geregelt werden sollen, aber gerade in der internationalen Sphäre dominiert der Schutz von Privatrecht (konkret: Schutz von Eigentum). Ein Beispiel sind die transnationalen Schiedsgerichte, die durch TTIP öffentliche Aufmerksamkeit erfahren haben, aber eigentlich davon unabhängig sind und weiterhin munter in Kraft sind. Müssten sich vielleicht Politische TheoretikerInnen mit Öffentlich-RechtlerInnen zusammentun?
Unbedingt müssen Politische Theoretiker*innen das Gespräch mit der Rechtswissenschaft suchen, nur wenn wir verstehen, wie das Recht funktioniert, können wir daraus politiktheoretische Schlussfolgerungen ziehen. Und die Rechtswissenschaft ist genauso dazu aufgefordert, insbesondere die demokratietheoretischen Folgeprobleme ihrer aus normativ-juridischer Sicht schlüssig scheinenden Konstruktionen zu bedenken.