Althusius am Wegesrand – Gedanken aus der Peripherie

Schulze-Haus in Diedenshausen, Fachwerkhaus und Geburtshaus von Althusius
Geburtshaus von Johannes Althaus

Die Wittgensteiner Wisente sind nach lang andauernden Kontroversen heutzutage vermutlich bekannter als der calvinistische Denker Johannes Althusius. Aber nicht zu den Wisenten, sondern zu Althusius’ Geburtshaus nach Diedenshausen (Bad Berleburg), tief ins Wittgensteiner Land, führte die jüngste Wanderung des Siegener Seminars für Sozialwissenschaften. Auf den Spuren von Althusius bzw. Johannes Althaus begibt man sich allerdings nicht nur geographisch, sondern auch im Kanon der politischen Ideengeschichte in die Peripherie. Zwar ist der Name vielen geläufig, auch das ein oder andere Schlagwort ist bekannt, doch lesen und kennen ihn, gerade in Deutschland, nur wenige. Warum sollte man sich also auch jenseits des wunderbar gepflegten Örtchens mit seinen Fachwerkhäusern mit Althusius beschäftigen? 

Seinen Anhänger:innen gilt er als einer der ersten systematischen Denker der Politik und des Politischen, als einer der ersten Verfechter der Volkssouveränität und als Begründer des Föderalismus. Andere betonen dagegen skeptischer auch die teils mittelalterlich anmutende, teils streng calvinistische Prägung seiner Schriften (Nitschke 2007). Betrachtet man zentrale Bausteine von Althusius politischer Theorie genauer, ergeben sich ein komplexes Nebeneinander und Zusammenspiel etablierter und neuer Ideen. Dies macht die Lektüre nicht einfacher. Es eröffnet aber anregende Perspektiven auf ein Zeugnis politischen Denkens im Kontext einer veritablen Zeitenwende: zwischen Bartholomäusnacht 1572 und dem Beginn des Dreißigjährigen Kriegs 1618. 

Johannes Althaus – Biographisches und Kontext 

Geboren 1557 in Diedenshausen studierte Althusius in Marburg, Köln und Basel und erwarb 1586 den Doktor beider Rechte. Im Anschluss lehrte er an den Hohen Schulen in Herborn und Burgsteinfurt, bevor er 1596 als Rektor an erstere Wirkungsstätte zurückkehrte, zunächst am Standort Siegen, später wieder in Herborn. Hier stellte er die erste Auflage seines Hauptwerks, der Politica, mit vollem Titel: Politik. Methodisch dargestellt und an geistlichen und weltlichen Beispielen erläutert, fertig. Mit ihr erhob er den Anspruch, die erste umfassende Theorie der Politik jenseits von Rechtswissenschaft und Theologie vorgelegt zu haben (Vorwort 1603). Ab 1604 wirkte der calvinistische Staatstheoretiker als Syndikus in Emden, dem ‚Genf des Nordes‘, auch politisch, verteidigte dessen städtische Autonomie gegen das lutherische Friesland und veröffentlichte parallel erweiterte Auflagen der Politica.

Mit Althusius befinden wir uns am Ende der Renaissance. Es ist die Zeit der Religionskriege, die auf die Reformation folgten. Als Vertreter des politischen Calvinismus führte Althusius nicht zuletzt Argumente der sogenannten Monarchomachen fort, die Argumente lieferten, um Widerstand gegen Könige und Tyrannenmord zu rechtfertigen. Explizit wandte er sich damit gegen die absolutistische Souveränitätslehre Jean Bodins (1572, s. Politica, Vorwort 1603).  

Während Althusius‘ Denken in calvinistisch-reformierten Kreisen wohlbekannt war, setzten sich infolge des Westfälischen Friedens 1648 andere Ideen durch. Althusius’ Werk geriet in Vergessenheit. Die erste Übersetzung der Politica ins Englische entstand erst in den 1960er Jahren; erst seit 2003 sind größere Teile der Schrift ins Deutsche übersetzt. Systematisch gelesen wird er weiterhin eher selten. Und dennoch finden sich regelmäßig Verweise auf Althusius‘ Denken. Carl Joachim Friedrich und Daniel Elazar lesen ihn als Klassiker der Föderalismustheorie und Thomas O. Hueglin legt seine Lektüre nahe, wenn es um Entwicklungsperspektiven für die EU geht. Verweise auf Althusius tauchen zudem in Arbeiten zum Prinzip der Volkssouveränität auf. Kalyvas erkennt bei Althusius gar schon die Idee der Volkssouveränität als konstituierende Macht des Volkes. War Althusius also doch ein ungemein moderner Denker?  

Politische als föderale Ordnungen 

Althusius’ Denken ist durch eine Vielzahl von Einflüssen geprägt. Seine Anthropologie hat aristotelische Züge; der Mensch ist als politisches Wesen auf ein Leben in Gemeinschaft angelegt (Politica I, §32f.). Sein Gesellschaftsverständnis, das die Vielzahl sozialer Institutionen und Körperschaften, aber auch ihre natürliche hierarchische Ordnung betont (Politica I, §34f.), spiegelt die Gegebenheiten des Heiligen Römischen Reiches wider (Nischke 2007: 177ff.). Im Politikverständnis schließlich mischen sich aristotelische und früh-neuzeitliche mit calvinistischen Argumentationslinien, wenn beispielsweise das gute Leben zum frommen Leben wird:   

„Gegenstand der Politik ist die Lebensgemeinschaft (consociatio), in der die Symbioten sich in einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag (pactum) untereinander zur wechselseitigen Teilhabe all dessen verpflichten, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist.
Das Ziel des symbiotischen politischen Zusammenlebens der Menschen ist eine fromme (sancta), gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft, der es an nichts Notwendigem oder Nützlichem mangelt.“ (Politica I, §2f.) 

Eine politische Ordnung ist zugleich auch eine verfasste bündische Ordnung. Sie wird gebildet, wo sich Familien und Dörfer, Gilden, Kollegien und Zünfte zu Städten, zu Provinzen und schließlich zur universellen Gemeinschaft zusammenschließen und einander Teilhabe und Unterstützung garantieren (Politica IX, §1ff.). Gesellschaft und politische Ordnung sind holistisch gedacht, aber im Unterschied zum mittelalterlichen Denken ‚von unten‘ konstruiert. Jede politische Ordnung hat einen (kon-)föderalen Charakter.  

Handlungsfähigkeit und Stabilität erhält diese pluralistische Ordnung nicht durch einen Souverän, der sie regiert, sondern durch das Zusammenspiel der pluralen Körperschaften, die von unten nach oben auf der jeweils höheren Ebene in Rat bzw. Senat repräsentiert werden und dort Regierende wählen bzw. bestimmen. Durch das Zusammenspiel der Teil-Körperschaften und Entscheidungen ihrer Repräsentanten wird letztlich auch die Autorität der Ephoren und des Königs bzw. Fürsten als ‚höchsten Magistrats‘ begründet. Da parallel die Autonomie subsidiärer Einheiten gewährleistet wird und Entscheidungen in Prozessen der Kommunikation und geteilten Entscheidens getroffen werden, bleibt letztere an die Autorität der unteren Ebenen und Körperschaften zurückgebunden (Hueglin 2008: 111ff.). Dennoch sind Elemente des Feudalismus dabei aber klar erkennbar, auch wenn sie neben Beteiligungsformen bestehen, die der freien und gleichen Wahl von Repräsentanten näherkommen (Politica XIX, §70ff.). 

Volkssouveränität … but it’s complicated 

Althusius‘ Kritik am absolutistischen Souveränitätsverständnis erklärt sich einerseits vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von politischen als (kon)föderalen Ordnungen. Andererseits entwickelt er, die monarchomachische Argumentation zugunsten des Widerstandsrechts weiterführend, eine Konzeption von Volkssouveränität, die die Herrschaftsmacht des ‚obersten Magistrats‘ einschränkt, unabhängig davon, ob es sich um König, Fürst oder Kollegium handelt. 

Letztere basiert, in calvinistischer Tradition, die auch die hugenottischen Autoren de Mornay und Languet oder der schottische Prediger John Knox vertreten, im Unterschied zur Idee des Gottesgnadentums auf einem Herrschaftsvertrag, dem ein Bund zwischen Gott und frei geborenen Menschen und ein Bund unter den (Mit)Gliedern des Volkes vorangehen (Hueglin 2008: 104f.). Dieser Herrschaftsvertrag zwischen Volk und Herrschenden verbindet die Pflicht der Mitglieder des Volkes zu Gehorsam mit der Pflicht der Herrschenden, Politik zum Wohle der Gemeinschaft zu machen. Politische Herrschaft und Gehorsamspflicht sind damit an Bedingungen gebunden (Politica XIX, §6ff., s.a. XX). Herrschende, die diesen Vertrag verletzen, werden zu Tyrannen und dürfen bekämpft werden – wenn auch ausschließlich von den Ephoren, die die Herrschenden als Kollegium bei der Regierung beraten, sie aber auch kontrollieren und, als letzte Möglichkeit, eben auch bewaffneten Widerstand anführen können (Politica XX, §1). 

Grundlegend ist dabei die Idee, dass die Souveränität nicht beim Herrscher, sondern beim Volk bzw. bei der Gemeinschaftskörperschaft liegt (Politica XIX, §12). Diese Gesamtkörperschaft des Volkes, „Reich oder Republik & Volk“ (regno seu Republicae & populo) ist souverän (Politica, Vorwort 1603). Sie kann die Verwaltung und Ausübung der Rechte der Souveränität den Herrschenden übertragen, ihre Souveränität aber nicht grundsätzlich entäußern:  

„Als Verwalter, Statthalter und Lenker der Rechte der Souveränität erkenne ich den Herrscher an. Als Eigentümer und Nutznießer der Souveränität aber keinen anderen als das gesamte Volk, das aus mehreren kleineren Gemeinschaften zu einem symbiotischen Körper vereinigt ist. […] Auch ihre Verwaltung, die einem einzigen sterblichen Menschen, einem Herrscher nämlich oder obersten Magistrat übertragen worden ist, kehrt im Falle des Todes oder der Amtsenthebung zu dem aufgrund der ununterbrochenen Generationenfolge unsterblich genannten Volk wieder zurück […].“ (Politica, Vorwort 1614) 

Das Volk, das hier zum Fluchtpunkt legitimer Politik wird, ist als politisches Artefakt durch eine Reihe zunächst privater, dann öffentlicher Bünde geschaffen. Es ist eine Körperschaft pluraler Körperschaften, die dennoch, durch deren Zusammenspiel in der (kon-)föderalen Ordnung, zu einer Einheit und zu einem Akteur mit erkennbarem Willen wird (Politica IX, §12),als solche souverän ist und damit Reichsrecht begründen und sich ihm verpflichten kann (Politica IX, §16ff.).  

Parallel sind drei Aspekte zu beachten, die Althusius Konzeption von Volkssouveränität dennoch deutlich von heutigen unterscheiden:  

(1) Als Mitglieder des Volkes versteht Althusius nicht die Individuen, sondern die Glieder des Reiches, die privaten und öffentlichen Körperschaften, die die Grundeinheiten der politischen Ordnung bilden, und die zusammen souverän sind (Politica IX, §5, §18). Althusius‘ Lesart beinhaltet somit nicht die Souveränität eines Kollektivs Freier und Gleicher. Auf höheren Ebenen werden nicht Individuen, sondern die korporative Identität der je kleineren Einheiten repräsentiert. Eine Begründung von Volkssouveränität ausgehend von individueller Freiheit oder Autonomie ist ihm fremd.  

(2) Parallel ist Althusius‘ Bild vom „gemeinen und gesamten Volk“ nicht das Beste. Auch wenn er sich an anderer Stelle von Machiavelli abgrenzt (Politica XXX, §33), erinnern einige Passagen der Politica, die ebenfalls als Empfehlungen an den obersten Magistrat geschrieben sind, eher an Machiavellis Darstellungen des Volkes in Il Principe als an eine Verteidigung des Prinzips der Volkssouveränität (insb. Politica XXIII, §21ff.).  

(3) Schließlich haben Herrschaftskontrolle und Vorbeugung tyrannischen Machtmissbrauchs bei Althusius deutlich mehr Gewicht als Mitbestimmung bei der Gestaltung der politischen Ordnung: Das Volk kann, ist der Herrschaftsvertrag erst einmal geschlossen, nur noch eingeschränkt und vermittelt über die Ephoren Einfluss nehmen. Es bedarf zudem eines eindeutigen Verstoßes des Herrschers gegen den Herrschaftsvertrag, um Widerstand zu legitimieren (Politica XXXVIII, §28ff.). Ob aber ein solcher Ansatz, der primär das Widerstandsrecht begründet, schon als Volkssouveränität im vollen Sinne und als Ausdruck konstituierender Macht gewertet werden sollte, darf bezweifelt werden.  

Und dennoch: Althusius hat Souveränität systematisch nicht bei Person und Amt des Herrschers, sondern beim politischen Gemeinwesen und Volk verortet und dabei das Volk, verbunden mit der sozialen und politischen Ordnung, als politisch handlungsfähigen korporativen Akteur etabliert (Skinner 2002: 388ff.). Damit hat er wertvolle Beiträge zur Entwicklung der Theorie der Volkssouveränität und des modernen Staatsverständnisses geleistet. Gerade weil sie in Abgrenzung zum absolutistischen Souveränitätsverständnis und zu der Zeit formuliert wurden, als das moderne Staatsverständnis sich erst entwickelte, erklärt sich zudem, dass Althusius‘ Denken für heutige Debatten um Verständnisse von Volkssouveränität und Handlungsfähigkeit in Föderationen bzw. komplexen Mehrebenenordnungen wieder Anregungen bietet. 

Denker einer Zeitenwende 

Dennoch überzeugt es nicht, Althusius primär als Denker zu verstehen, der seiner Zeit weit voraus war, ja die Moderne vorweggedacht habe. Die Verbindung von Volkssouveränität und feudalistischem Gesellschaftsverständnis, der Verzicht auf eine individualistische Grundlegung demokratischer Ordnungen und die calvinistisch aufgeladene Moralität – Tyrann ist so auch „derjenige, der die Sitten des Volks verdirbt, indem er Gast- und Wirtshäuser sowie Bordelle einrichtet oder anderem unehrenhaften Zeitvertreib Vorschub leistet“ (Politica XXXVIII, §12) – sind heute nicht tragfähig.  

Stattdessen fällt, wenn man in die Politica mit ihren Spannungen und Ambivalenzen hineinliest, etwas Anderes ins Auge: Althusius hat in einer Zeit geschrieben, die von grundlegenden Krisen geprägt war. Dies scheint stellenweise auch in seiner Argumentation durch. Aber weder legte er allein eine Klage über die Krisen seiner Zeit noch einfache Alternativantworten vor. Stattdessen präsentiert er sich als Denker, der gerade in der Krise teils etabliertes, jahrhundertealtes Wissen sammelt, teils neue zeitgenössische Ideen ausformuliert und weiterdenkt, der beides nebeneinanderstellt, systematisiert und synthetisiert und so zur Grundlage seines politischen Denkens und seiner Antworten auf die Herausforderungen seiner Zeit macht. Damit repräsentiert sein Werk auch eine differenziertere Herangehensweise an politische Krisen und Transformation als die, die in unserer Gegenwart vorzuherrschen scheinen. Vielleicht kann der Ausflug in die geographische wie ideengeschichtliche Peripherie gerade deshalb eine Anregung sein, auch unsere Blickwinkel zu justieren, wenn wir im Laufe des Sommers die Krisen unserer Zeit debattieren. 

Ein Kommentar zu “Althusius am Wegesrand – Gedanken aus der Peripherie

  1. Vielen Dank für die örtliche und gedankliche Wanderung zum altvorderen Althusius.
    Ihre Darstellung verbindet fein argumentiert die Frage nach dem Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte.

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