Lesenotiz zu Maximilian Pichls „Law statt Order“

Wer im deutschen Sprachgebrauch ‚Rechtsstaat‘ sagt, betritt die Arena eines stark umkämpften Begriffs. Von den einen gefeiert als die Errungenschaft liberaler Staatlichkeit und aufklärerischer Bemühungen, Gewalt zu bündeln, zu legitimieren und – vor allem – zu begrenzen, wird der Begriff und die damit verbundene institutionelle Struktur von anderen mit Skepsis beäugt. Die skeptische Perspektive versteht Appelle an den Rechtsstaat oft als eine weitere Art, autoritäre Bestrebungen im Kleid der Legitimität durchzusetzen. Wer Rechtsstaat sagt, so die kritische Lesart, sagt auch Polizeieinsatz gegen Aktivist*innen, Pushbacks an den Außengrenzen, und nicht-öffentliche Schnellverfahren. Maximilian Pichls jüngst erschienener Beitrag zu dieser Debatte, Law statt Order, spielt bereits im Titel auf die Spannungen zwischen beiden Lesarten an.

Laut Pichl wird seit geraumer Zeit eine höchst einseitige Version des ‚Rechtsstaats‘ immer wieder rhetorisch heraufbeschworen sowie praktisch durchgesetzt. Ursprünglich wurde das Konzept Rechtsstaat zur Einschränkung staatlicher Macht und Verteidigung individueller Freiheitsrechte entworfen. In der neuerdings beschworenen Version, die Pichls besorgniserregend findet, wird das ‚ordnungsstaatliche‘ Element über die anderen Elemente gestellt. Dieser Prozess führt dazu, dass liberale, die Staatsmacht begrenzende Aspekte an den Rand gedrückt oder ganz ausgehebelt werden. Nach der ‚ordnungsstaatlichen‘ Lesart geht es bei Rechtsstaatlichkeit primär um die Herstellung einer oft autoritär konnotierten sozialen Ordnung, die mithilfe einer großzügigen Anwendung des Gewaltmonopols gegen Bürger*innen und Schutzsuchende durchgesetzt wird. Diese Version, so Pichl, ist sowohl unvollständig als auch normativ falsch, da sie den ‚Rechtsstaat‘ zum Erfüllungsgehilfen der Exekutive degradiert. Der Autor hingegen möchte die staatsbegrenzenden Elemente der Rechtsstaatlichkeit stärken und weist auf zahlreiche juristische und politische Kämpfe hin, die diese Version des Rechtsstaat entgegen der ordnungsstaatlichen betonen und sich in Gerichtssälen und auf den Straßen (weniger im Parlament) für sie einsetzen. Pichl stellt im letzten Kapitel klar, dass er seinen Beitrag als einen sieht, der „die vielgestaltigen autoritären Strategien zur Aneignung des Rechtsstaates und die Erosionen von Rechtsstaatlichkeit“ (226 f.) sichtbar macht.

Der Text ist reich an Beispielen. Im Mittelpunkt seiner gegenwärtigen, innenpolitischen Betrachtungen stehen die Proteste und Mobilisierungen gegen die Aufnahme vor allem syrischer Geflüchteter im Jahr 2015, das aggressive Vorgehen gegen Klimaaktivist*innen, und die Reaktionen auf Forderungen zur Aufarbeitung rassistischer Polizeigewalt. Im Zusammenhang mit der ‘Flüchtlingskrise’ 2015 verweist Pichl auf die Vielzahl an rechten Stimmen, die der Regierung Merkel III unter anderem einen „Putsch von oben“ (136) vorwarfen und wiederholt behaupteten, die damalige Bundesregierung habe geltendes Recht gebrochen (136f.). Gegenüber Klima-Aktivist*innen, vor allem jenen der Letzten Generation, sieht Pichl eine autoritäre Auslegung der Versammlungs- und Demonstrationsrechte (115). Hier zitiert er zum Beispiel Alexander Dobrindt, der die Gruppe als „Klima-RAF“ (114) bezeichnete und entsprechende gerichtliche und polizeiliche Reaktionen forderte. Wenn es um fundierte Kritik an rassistischen Polizeikontrollen und –Gewalt geht, hebt Pichl hervor, dass die Polizei zusehends mit dem Rechtsstaat in eins gesetzt wird. Dies sei „eine bemerkenswerte begriffliche Kombination, wenn man sich vor Augen führt, dass der Rechtsstaat einst als Antipode zum Polizeistaat entstand“ (83). Für Pichl gehört eine Kritik an staatlicher Gewalt zur Aufrechterhaltung des Rechtsstaats, nicht etwa zu seiner Gefährdung (84f.). Auf EU-Ebene beschäftigt sich Pichl primär mit den vielen Verstößen gegen und Beschneidungen internationaler (Menschen-)Rechtsstandards zum Schutz geflüchteter Menschen und den Reaktionen auf autoritäre Verfassungsprojekte in einigen EU-Ländern. Durch die große Zahl von Beispielen, die vielen politisch interessierten Leser*innen bekannt sein dürften, ist der Text auch für Nicht-Jurist*innen gut zugänglich. Pichls Betonung der Verstrickung nahezu des gesamten deutschen politischen Spektrums in die ordnungspolitische Rechtsstaatsinterpretation und -Mobilisierung trägt außerdem dazu bei, dass das Argument nicht leicht in eine einfache Dichotomie zwischen den ‚guten‘ Liberalen und den ‚bösen‘ Rechten rutscht. Ähnliches gilt für die Beobachtungen auf EU-Ebene: Nur zu gerne akzeptieren sogenannte liberale Demokratien die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit, wenn es um die Wahrung der eigenen Interessen und hier vor allem wirtschaftlicher und migrationsbegrenzender Anliegen geht. In Pichls Europa geschieht die Unterwanderung liberaler (geschweige denn explizit progressiver) Rechtsstaatlichkeit entlang eines Spektrums und auf mehreren, oft ineinander verschränkten Ebenen.

Die Geschichte einer antidemokratischen Idee 

Pichls Buch beschäftigt sich mit der Genese der ordnungspolitischen Interpretation des ‘Rechtsstaats‘ und ihren rechtlichen und politischen Erscheinungsformen. Im ersten Kapitel skizziert der Autor die Erfindung und Mobilisierung des Konzepts ‘Rechtsstaat’ von liberalen, anti-obrigkeitsstaatlichen Akteuren im späten 18. und 19. Jahrhundert bis hin zum bundesrepublikanischen Verständnis in den 80er Jahren. In Deutschland entstand der Begriff des Rechtsstaats als Reaktion des aufsteigenden Bürgertums auf „despotische[…] Ordnungssysteme[…]“ (23). Kernbestandteile des Rechtsstaats waren in diesem Zusammenhang   „der Schutz des Einzelnen vor dem neu entstandenen Gewaltmonopol, vor willkürlichen Eingriffen der Exekutive ohne gesetzliche Grundlage, freiheitliche Garantien und Rechte gegenüber dem strafenden Staat sowie das Bestimmtheitsgebot“ (24) demnach Gesetze so klar wie möglich formuliert werden müssen. Anschließend verweist Pichl auf die ordnungsstaatliche Umdeutung und anti-sozialdemokratische und anti-kommunistische Mobilisierung unter Bismarck sowie in der Weimarer Republik und letztendlich deren vollkommene Aushöhlung unter den Nazis. Nach dem Krieg setzte sich das Verfassungsgericht primär für eine freiheitliche Auslegung ein, wenn auch politische Akteur*innen immer wieder und seit den 80ern noch stärker die ordnungspolitische Deutung heraufbeschworen.

Der Sprung zwischen der amerikanischen ‚Law and Order‘-Strategie, der ordnungspolitischen Umdeutung des Rechtsstaats in Europa heute, und der längeren Geschichte autoritärer Staatlichkeit in Deutschland wirkt auf die Leserin etwas hastig. Vor allem die historischen Besonderheiten der deutschen Rechtsstaatlichkeit sind in letzter Zeit eingehend untersucht worden (Meierhenrich 2018, 75-94). Für das Verständnis des Wiederaufflammens der ordnungsstaatlichen Interpretation war nicht gleich ersichtlich, warum der US-Diskurs um ‚law and order‘ größeren Erklärungsgehalt besitzt als etwa das tiefsitzende demokratie-skeptische Staats- und Rechtsverständnis in der frühen Bundesrepublik (Maier 2019) oder die explizit rassistische Mobilisierung des Rechtsstaats im Zuge einer vielfältig werdenden Gesellschaft.

Die vielen Gesichter des Liberalismus 

Im letzten Kapitel fordert Pichl eine kritische „Allianz für Rechtsstaatlichkeit“ (230), deren Ziel die Umsetzung der selbstgesetzten, liberalen Normen ist (als ein deutlicher Fortschritt gegenüber aktuellen Entwicklungen, 236). Allerdings soll sie sich sowohl um eine vorläufige Verteidigung kümmern als auch einen größer angelegten Umbau anstreben. Der Autor beginnt, diesen größeren Umbau zu skizzieren, könnte allerdings klarer benennen, welches Rechts- und Demokratieverständnis einem solchen Projekt zugrunde liegen könnte. Hier würde es gerade politisch engagierten Leser*innen helfen, noch deutlicher herauszustellen, was genau an progressiven Elementen liberaler Rechtsstaatlichkeit in eine anti-autoritäre Welt hinübergerettet werden sollte und welche Facetten liberaler Rechtsstaatlichkeit möglicherweise zu der Situation, in der wir uns momentan befinden, beigetragen haben. Wenn wir die Verstrickung der liberalen Rechtsstaatlichkeit in Momenten autoritärer Umdeutung oder Aushöhlung nicht verstehen, laufen wir Gefahr, zwar gegen grobe Verstöße vorzugehen, ihnen jedoch institutionell nicht mehr entgegensetzen zu können als einen recht breiten Appell für „eine Verklammerung heterogener Kämpfe“ (242). Pichl ist sich der Gefahr eines naiven Rechtsdenkens bewusst (236), hebt allerdings nur leise hervor, was genau auch – vielleicht gerade – an liberalem Rechtsdenken eher hinderlich für seine angestrebte, anti-autoritäre Rechtsstaatlichkeit ist, jenseits kurzer Hinweise auf den übermäßigen „Schutz des Eigentums“ (243).

Da der Autor sich auf recht weiter Flur bewegt und viele historische wie aktuelle Entwicklungen beschreibt, ist vollkommen klar, dass es zu weit führen würde, nun auch noch im Detail auseinanderzusetzen, wie man liberale von progressiver Rechtsstaatlichkeit unterscheiden kann und was für institutionelle Veränderungen gefordert sind, wenn man eben nicht nur ‚zurück‘ zur klassisch freiheitlichen Interpretation möchte. Ein paar klarere Anhaltspunkte allerdings, die hervorheben, welche liberalen Errungenschaften gestärkt, ausgebaut, und verteidigt werden müssen und welche ihrerseits besonders anfällig für eine autoritäre – oder ‚ordnungspolitische‘ – Umdeutung sind, würden Pichls Projekt mehr handlungsleitende Richtung geben.

Eine solche Spezifizierung der institutionellen, legislativen, und politischen Implikationen der Analyse könnte ebenfalls dazu beitragen, zu systematisieren, wann und wie die ordnungspolitische Interpretation gegen existierendes Recht verstößt und wann sie lediglich eine zwar autoritäre, aber rechtsstaatliche Interpretation bleibt. Dies könnte helfen, sowohl politische als auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu bündeln und näher zu definieren, in welchen Bereichen ungeahndete Rechtsbrüche wahrscheinlicher sind und in welchen autoritäre Auslegungen überwiegen. Pichls viele Hinweise auf die de facto Legalität behaupteter Rechtsbrüche (Flüchtlingskrise, Demonstrationsrecht etc.) und die de facto Illegalität ordnungspolitischer Maßnahmen (Finanzkrise, beschleunigte Abschiebungen) scheinen daran zu hängen, die liberale Interpretation als nicht nur eine Interpretation, sondern als richtiges, geltendes Recht zu postulieren. Die Schwierigkeit hier ist natürlich, dass Recht oft autoritär ausgelegt wird und sich in seinem Instrumentarium mehr als genug Mittel finden, die eine autoritäre Auslegung unterstützen. Wir wissen, dass „das Prinzip der Legalität oft einwandfrei mit legaler Unterdrückung kompatibel ist“ (Meierhenrich and Pendas 2017, 27, meine Übersetzung). Auf diese Tatsache kann nur überzeugend geantwortet werden, wenn die Parameter für Rechtsbrüche und die Grenzen des Hinweisens auf eben solche eindeutig etabliert werden.

Den Blick schärfen  

Maximilian Pichls Buch ist ein hilfreicher Blick auf die Kontroversen, die ein viel-mobilisiertes, aber häufig unverstandenes Konzept begleiten. Pichls Argument, seine Beispiele, und die vielen Hinweise darauf, dass nicht nur offen autoritäre Akteur*innen, sondern auch vielfach sogenannte Liberale und Sozialdemokrat*innen auf die ordnungspolitische Deutung zurückgreifen, verdeutlicht, wie wichtig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff ist. Überdies helfen Pichls Hinweise auf die freiheitliche, bürger*innen-schützende Funktion des Rechtsstaats, eine Parallel-Erzählung zu seiner autoritären Deutung zu sehen. Das Buch liefert ebenfalls eine wichtige Warnung gegen die oft naiv-selbstgerechte Haltung ‚liberaler‘ Parteien und Staaten gegenüber offensiven ‚Feinden‘ des Rechtsstaats, indem es vielfach darauf hinweist, dass die Verantwortung für die Aushöhlung des Rechtsstaats auf einem Spektrum liegt, das sich von links-liberalen bis zu extrem rechten Akteur*innen streckt. Die Fragen nach den Unterschieden zwischen deutscher Rechtsstaatlichkeit und amerikanischer Law-and-Order-Mobilisierung, dem Zusammenhang zwischen autoritären und progressiven Elementen in liberalen Deutungen des Rechtsstaats, und der Unterscheidung zwischen Rechtsbrüchen und subtileren, langsameren, oft formal einwandfreien autoritären Auslegungen geltenden Rechts zeigen, dass Pichl Teil einer wichtigen und anhaltenden Debatte ist. Gerade in Zeiten eines zunehmend autoritären gesamtgesellschaftlichen Diskurses ist eine Sensibilisierung für die staats-begrenzende Auslegung des Rechtsstaats vonnöten. 

Hedwig Lieback ist PhD-Kandidatin an der Columbia University und schreibt ihre Dissertation über theoretische und praktische Debatten zur Demokratisierung der Rechtsprechung und Kapitalismus-kritische Rechtsauslegungen in den USA und Deutschland im 20. Jahrhundert. Sie interessiert sich primär für den Zusammenhang zwischen Rechts- und Demokratietheorie, Politische Ideengeschichte, Theorien sozialer Bewegungen und die Balance zwischen Stabilität und grundlegender (Konflikt-)Offenheit.

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