Zwei Überlegungen zu Stuttgart 21

Der Streit um den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs, zunächst bloß ein mäßig unterhaltsames lokalpolitisches Scharmützel, hat sich in den letzten Tagen noch einmal zugespitzt. Am vergangenen Donnerstag kam es zu Konflikten zwischen der Polizei und Demonstranten, die zu mehr als hundert Verletzten auf Seiten der Demonstranten führten, darunter viele Schülerinnen und Schüler. In einem in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Interview verteidigte der baden-württembergische Innenminister das Vorgehen der Polizei: Grundsätzlich müsse der Staat demokratisch gefällte Entscheidungen notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. Gestern dann legte der Bahnchef Rüdiger Grube noch einmal einen drauf: „Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht“. Persönlich halte ich Stuttgart 21 für völlig überteuert und unnötig. Darum soll es hier aber gar nicht gehen; vielmehr denke ich, dass dieser Vorfall exemplarisch zwei demokratietheoretisch bedeutsame Probleme aufwirft: Wie können demokratische Verfahren mit Pfadabhängigkeiten umgehen? Und welche Mittel darf der Staat nutzen, um demokratische Entscheidungen durchzusetzen?

1. Pfadabhängigkeiten. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Entscheidung für Stuttgart 21 in einem korrekten demokratischen Verfahren gefällt wurde. Ziel eines solchen Verfahrens ist der vorläufige Abschluss einer politischen Diskussion, deren Ergebnis durch die Umformung in positives Recht auf Dauer gestellt wird. Dieses Auf-Dauer-Stellen bedeutet zwar nicht, dass eine solche demokratische Entscheidung niemals widerrufen werden kann, wohl aber dass man die Ergebnisse demokratischer Verfahren vorläufig akzeptiert und sich anderen Fragen zuwendet. Wie das funktioniert kann man nach jeder Wahl am Beispiel der Steuergesetzgebung erkennen.
Die Möglichkeit, eine einmal gefällte Entscheidung zu repolitisieren und am Ende möglicherweise durch neues Recht zu ersetzen, ist eines der wirksamsten Mittel gegen die vielgefürchtete „Tyrannei der Mehrheit“. Auch wenn ich heute in der Minderheit bin, gibt mir das demokratische Verfahren zumindest eine Chance, später einmal als Mehrheit bestehende Regelungen zu ändern. Was passiert aber nun, wenn einmal gefällte Entscheidungen so starke Pfadabhängigkeiten kreieren, dass eine spätere Änderung gar nicht mehr möglich ist. Das Geld, das jetzt für Stuttgart 21 ausgegeben wird, kann man in zehn Jahren nicht zurückholen. Und den alten Bahnhof auch nicht.
Eine mögliche Reaktion wäre, Entscheidungen solcher Größenordnung mit der Demokratie als insgesamt unvereinbar zu erklären. Dann hätte Deutschland aber wahrscheinlich eine ganze Menge Bahnhöfe weniger, und wäre auch nicht Mitglied der EU. Eine plausiblere Alternative scheint mir zu sein, für Vorhaben dieser Art die Rechtfertigungsanforderungen besonders hoch anzulegen. Vielleicht könnte man hier sogar über die Notwendigkeit einer 2/3-Mehrheit nachdenken, entscheidend wäre aber in jedem Fall, dass solche Vorhaben sich auf eine breite Zustimmung stützen können. Der anhaltende Protest wäre zumindest ein Indiz dafür, dass dies in Stuttgart nicht der Fall ist. Der Verweis auf eine formal korrekte Entscheidung vor vielen, vielen Jahren allein reicht auf jeden Fall nicht. Dies gilt im konkreten Fall umso mehr, wenn sich in der Zwischenzeit die Umstände geändert haben. Was früher einmal schön und sinnvoll erschien, ist angesichts zunehmend knapper Kassen vielleicht heute nicht mehr so toll. Oder, wie es ein Kommentator bei Twitter schön zusammengefasst hat: „Die Befürworter monieren, ich hätte 1994 noch nicht protestriert, da war ich 11. Und heute meckern sie über demonstrierende Kinder.“

2. Verhältnismäßigkeit. Nach den vorherigen Ausführungen erscheint mir die Legitimationsbasis der baden-württembergischen Landesregierung im Fall Stuttgart 21 sehr dünn. Dadurch wird ein zweites Problem für mich noch umso brisanter: Darf der Staat, um noch einmal den Stuttgarter Innenminister Rech zu zitieren, „einfache körperliche Gewalt“ anwenden, um den Umbau eines Bahnhofes zu erzwingen?
Grundsätzlich darf der Staat als letztes Mittel seine Polizeikräfte einsetzen, um demokratische Entscheidungen durchzusetzen schützen. Das mag mir als Minderheit nicht immer gefallen, gehört aber innerhalb bestimmter menschenrechtlich geschützter Grenzen dazu. Ansonsten könnten wir uns all die aufwändigen demokratischen Verfahren auch schenken. Dabei muss der Staat aber genau abwägen, welche Mittel er für welchen Zweck einsetzt. Plant eine terroristische Gruppe einen Anschlag auf den Reichstag, rechtfertigt dies ein robusteres, wenn auch selbst dabei nicht völlig schrankenloses Vorgehen. Widersetzen sich hingegen Berliner Kneipiers dem Rauchverbot, werden ihnen zunächst finanzielle Sanktionen auferlegt. Und erst wenn sie sich diesen über einen langen Zeitraum hinweg versagen, kann es zu einer Zwangsschließung durch die Polizei kommen.
Ebendiese Abwägung ist der baden-württembergischen Landesregierung nicht gelungen. Laut Polizeiangaben wurden am vergangenen Donnerstag 116 Menschen verletzt, darunter vier Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren. Warum hat man nicht versucht, den Kritikern doch noch wenigstens ein bisschen entgegenzukommen? Warum hat man nicht mit dem Bau ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen gewartet, um der Diskussion noch ein bisschen Raum zu geben? Warum hat die Polizei nicht wenigstens versucht, die Demonstranten wegzutragen, ohne sie dabei zu verletzen?

2 Kommentare zu “Zwei Überlegungen zu Stuttgart 21

  1. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings bleiben zu später Stunde 2 Fragenkomplexe offen: 1. Gibt es Konkretisierungen für das Auf-Dauer-Stellen und das vorläufige Akzeptieren einer demokratisch zustandegekommenen politischen Entscheidung? Wie sähe die im Fall S21 aus? Ab wann kann man das Thema wieder auf die Agenda setzen? Und wäre es im Fall eines Bahnhofumbaus nicht äußerst unklug, lange damit zu warten, da ja die Folgekosten für einen Baustopp bzw. die Revision umso höher liegen, je länger man die Beschlüsse vorläufig akzeptiert. Dies führt zu
    2., dem Verhältnis der Rechtsform zur Demokratie, bzw. der Permanenz, die das positive Recht gewährleistet und der latenten Disposition, die der Demokratie eingeschrieben ist. Ist die Rechtsform der Demokratie vorgelagert, weil sie erst die demokratische (Mit-)Bestimmung ermöglicht und die Umsetzungen der demokratisch zustande gekommenen Entscheidungen garantiert? (Das entsprechen umgekehrte systematische Verhältnis ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll). Oder gibt es hier eine normative Vorgelagertheit der Demokratie, in dem Sinne, dass der Wert der Demokratie, also auch der latenten Disposition aller Entscheidungen, im Allgemeinen höher (im Sinne von wertvoller) eingeschätzt wird, als die Sicherheitsleistungen des perpetuierten Rechts. In diesem Fall gäbe es allerdings Zweifel an der Irreversibilität der Artikel 1-20 GG. Die Annahme, es handelt sich hier um ein Komplementärverhältnis würde von beiden Seiten des Konfliktes als unnütz bei Seite geschoben werden oder mit der Reaktion „Aber unser Anteil ist der wichtigere“, an den Anfang der Überlegung verwiesen werden.
    PS: „Die Verträge sind gemacht…“, doch so richtig lachen will keiner, denn steht ja hier ein bedeutender Rechtsgrundsatz zu Diskussion: „pacta sunt servanda“. Doch was, wenn die Voraussetzungen, unter denen die Verträge einst abgeschlossen wurden, sich so verändert haben, dass sich zumindest 1 Vertragspartner nicht mehr an ihn gebunden fühlt? Die amüsante Debatte, wann eine Differenz vom Quantitativen ins Qualitative umschlägt gab es bereits bei der AKW-Verlängerung. Hier wird das BVG darüber entscheiden, im Falle von S21 wird das wohl auch das Mittel der Wahl.

  2. schöner artikel. hab in meinem blog auch über das thema geschrieben. über die polizeigewalt wurde schon viel geschrieben, auch deshalb ist für mich jetzt die demokratische legitimierung besonders interessant.

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