theorieblog.de | Zwei Überlegungen zu Stuttgart 21

4. Oktober 2010, Voelsen

Der Streit um den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs, zunächst bloß ein mäßig unterhaltsames lokalpolitisches Scharmützel, hat sich in den letzten Tagen noch einmal zugespitzt. Am vergangenen Donnerstag kam es zu Konflikten zwischen der Polizei und Demonstranten, die zu mehr als hundert Verletzten auf Seiten der Demonstranten führten, darunter viele Schülerinnen und Schüler. In einem in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Interview verteidigte der baden-württembergische Innenminister das Vorgehen der Polizei: Grundsätzlich müsse der Staat demokratisch gefällte Entscheidungen notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. Gestern dann legte der Bahnchef Rüdiger Grube noch einmal einen drauf: „Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht“. Persönlich halte ich Stuttgart 21 für völlig überteuert und unnötig. Darum soll es hier aber gar nicht gehen; vielmehr denke ich, dass dieser Vorfall exemplarisch zwei demokratietheoretisch bedeutsame Probleme aufwirft: Wie können demokratische Verfahren mit Pfadabhängigkeiten umgehen? Und welche Mittel darf der Staat nutzen, um demokratische Entscheidungen durchzusetzen?

1. Pfadabhängigkeiten. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Entscheidung für Stuttgart 21 in einem korrekten demokratischen Verfahren gefällt wurde. Ziel eines solchen Verfahrens ist der vorläufige Abschluss einer politischen Diskussion, deren Ergebnis durch die Umformung in positives Recht auf Dauer gestellt wird. Dieses Auf-Dauer-Stellen bedeutet zwar nicht, dass eine solche demokratische Entscheidung niemals widerrufen werden kann, wohl aber dass man die Ergebnisse demokratischer Verfahren vorläufig akzeptiert und sich anderen Fragen zuwendet. Wie das funktioniert kann man nach jeder Wahl am Beispiel der Steuergesetzgebung erkennen.
Die Möglichkeit, eine einmal gefällte Entscheidung zu repolitisieren und am Ende möglicherweise durch neues Recht zu ersetzen, ist eines der wirksamsten Mittel gegen die vielgefürchtete „Tyrannei der Mehrheit“. Auch wenn ich heute in der Minderheit bin, gibt mir das demokratische Verfahren zumindest eine Chance, später einmal als Mehrheit bestehende Regelungen zu ändern. Was passiert aber nun, wenn einmal gefällte Entscheidungen so starke Pfadabhängigkeiten kreieren, dass eine spätere Änderung gar nicht mehr möglich ist. Das Geld, das jetzt für Stuttgart 21 ausgegeben wird, kann man in zehn Jahren nicht zurückholen. Und den alten Bahnhof auch nicht.
Eine mögliche Reaktion wäre, Entscheidungen solcher Größenordnung mit der Demokratie als insgesamt unvereinbar zu erklären. Dann hätte Deutschland aber wahrscheinlich eine ganze Menge Bahnhöfe weniger, und wäre auch nicht Mitglied der EU. Eine plausiblere Alternative scheint mir zu sein, für Vorhaben dieser Art die Rechtfertigungsanforderungen besonders hoch anzulegen. Vielleicht könnte man hier sogar über die Notwendigkeit einer 2/3-Mehrheit nachdenken, entscheidend wäre aber in jedem Fall, dass solche Vorhaben sich auf eine breite Zustimmung stützen können. Der anhaltende Protest wäre zumindest ein Indiz dafür, dass dies in Stuttgart nicht der Fall ist. Der Verweis auf eine formal korrekte Entscheidung vor vielen, vielen Jahren allein reicht auf jeden Fall nicht. Dies gilt im konkreten Fall umso mehr, wenn sich in der Zwischenzeit die Umstände geändert haben. Was früher einmal schön und sinnvoll erschien, ist angesichts zunehmend knapper Kassen vielleicht heute nicht mehr so toll. Oder, wie es ein Kommentator bei Twitter schön zusammengefasst hat: „Die Befürworter monieren, ich hätte 1994 noch nicht protestriert, da war ich 11. Und heute meckern sie über demonstrierende Kinder.“

2. Verhältnismäßigkeit. Nach den vorherigen Ausführungen erscheint mir die Legitimationsbasis der baden-württembergischen Landesregierung im Fall Stuttgart 21 sehr dünn. Dadurch wird ein zweites Problem für mich noch umso brisanter: Darf der Staat, um noch einmal den Stuttgarter Innenminister Rech zu zitieren, „einfache körperliche Gewalt“ anwenden, um den Umbau eines Bahnhofes zu erzwingen?
Grundsätzlich darf der Staat als letztes Mittel seine Polizeikräfte einsetzen, um demokratische Entscheidungen durchzusetzen schützen. Das mag mir als Minderheit nicht immer gefallen, gehört aber innerhalb bestimmter menschenrechtlich geschützter Grenzen dazu. Ansonsten könnten wir uns all die aufwändigen demokratischen Verfahren auch schenken. Dabei muss der Staat aber genau abwägen, welche Mittel er für welchen Zweck einsetzt. Plant eine terroristische Gruppe einen Anschlag auf den Reichstag, rechtfertigt dies ein robusteres, wenn auch selbst dabei nicht völlig schrankenloses Vorgehen. Widersetzen sich hingegen Berliner Kneipiers dem Rauchverbot, werden ihnen zunächst finanzielle Sanktionen auferlegt. Und erst wenn sie sich diesen über einen langen Zeitraum hinweg versagen, kann es zu einer Zwangsschließung durch die Polizei kommen.
Ebendiese Abwägung ist der baden-württembergischen Landesregierung nicht gelungen. Laut Polizeiangaben wurden am vergangenen Donnerstag 116 Menschen verletzt, darunter vier Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren. Warum hat man nicht versucht, den Kritikern doch noch wenigstens ein bisschen entgegenzukommen? Warum hat man nicht mit dem Bau ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen gewartet, um der Diskussion noch ein bisschen Raum zu geben? Warum hat die Polizei nicht wenigstens versucht, die Demonstranten wegzutragen, ohne sie dabei zu verletzen?


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