Zurück in die Zukunft, nach Griechenland: Castoriadis und der ‚Keim‘ des alten Athen

Die politische Geschichte des alten Griechenlands zu erzählen war für den Philosophen Cornelius Castoriadis (1922-1997) kein Selbstzweck. Sein Interesse galt der Antike vielmehr als Ressource für eine kritische Diagnose der Gegenwart: einer Zeit, die von liberalen repräsentativen Demokratien im Bann gehalten wird, hinter denen sich in Wahrheit ‚maskierte Oligarchien‘ verbergen, und in denen das ‚Projekt der Autonomie‘ im Niedergang begriffen ist. Für Castoriadis enthält die griechische Vergangenheit hingegen ‚Anhaltspunkte der Möglichkeit‘, die er als unzeitgemäß ansah – ganz im Sinne dessen, was Nietzsche darunter verstand:

„Ich wüßte nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.” (Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben)

Gegen jede Sakralisierung der Vergangenheit identifiziert Castoriadis in der griechischen Kultur die Fähigkeit, „sich selbst in Frage zu stellen, indem man sich mit anderen Kulturen und anderen Gesellschaften vergleicht“. Das antike Griechenland zu betrachten, heißt gleichsam, „sich zu fragen, wie, unter welchen Bedingungen, auf welchen Wegen die menschliche Gesellschaft sich in einem bestimmten Fall als fähig erwiesen hat, mit jener Schließung (clôture) zu brechen, dank derer die Gesellschaft allgemein überhaupt erst existiert“ (Castoriadis 1986: 262f.).

Laut Castoriadis ist diese Haltung weder automatisch noch universell, sondern eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte menschlicher Gesellschaften. So versteht Castoriadis seinen Rückgriff auf Griechenland als weit mehr als eine bloß historische Interpretation oder als eine rein theoretische Arbeit mit historischem Bezug; es geht ihm vielmehr um eine politische Lesart der Vergangenheit:

„Wenn wir mit der Geburt der Demokratie und der Philosophie zu tun haben, dann ist das, worum es geht, unsere eigene Aktivität und unsere eigene Transformation (der Gesellschaft und des Subjekts) […]. Es war Griechenland, das die Möglichkeit für ein solches Projekt des Verstehens geschaffen hat: ein Verstehen unserer eigenen Geschichte, das es uns ermöglicht, uns zu verändern.“ (Castoriadis 2004: 52f.)

Hieran wird deutlich, was Castoriadis im Sinn hat, wenn er das antike Griechenland als einen „Keim“ bezeichnet und nicht als ein Modell. Angesichts der Ausgrenzung von Frauen, versklavter Menschen und der Metöken (Nicht-Bürger) ist es alles andere als erstrebenswert, die Demokratie des antiken Athens als ein Modell zu verstehen, das es einfach zu kopieren gälte. Was es jedoch zu reaktivieren lohnt, ist die Dynamik einer Kritik, die sich aufgrund von Gründungshandlungen in einer instituierten Ordnung widerspiegelt: ein andauernder Prozess der Selbstinstitution, den die attische Demokratie nicht nur erfunden hat, sondern auch in der Lage war, ihn über eineinhalb Jahrhunderte am Leben zu halten. Zugleich bedeutet Castoriadis’ politische Lesart der Antike, dass diese Bewegung der Selbstinstitution in der Gegenwart neu zu erfinden wäre – unter den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Moderne. Der Gedanke eines „Keims“ erlaubt es Castoriadis, die Suche nach neuen Möglichkeiten hervorzuheben, was notwendigerweise neue Formen der kollektiven Selbstschöpfung erforderlich macht.

            Auf der Grundlage dieser politischen Lesart des antiken Griechenlands wird es nun möglich, im Dialog mit Castoriadis drei Pfade aufzuzeigen, die im heutigen Kontext in die Richtung einer reaktivierten Vision von direkter Demokratie weisen könnten. Erstens beinhaltet Demokratie – oder das Projekt der Autonomie – die Idee ihrer eigenen Ausweitung auf die Gesamtheit der Lebensform einer Gesellschaft. Wie Castoriadis zurecht unterstreicht, steht in der Gefallenenrede (431/30 v. Chr.) die Lebensform und der Ethos der Athener Polis im Vordergrund, welche Perikles als vollständig vom demokratischen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit geprägt darstellt. Doch für Perikles sind es vor allen Dingen zwei Aktivitäten, die das Ziel der demokratischen Lebensform ausmachen: „Wir leben die Liebe zum Schönen in unserem alltäglichen Leben und wir philosophieren, ohne zu ermüden.“ (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg: II, 49, 1 (meine Übersetzung)) Castoriadis erblickt in dieser Formulierung die „Antwort“ der Athener auf die Frage: „Was soll die Institution von Gesellschaft verwirklichen?“ Für Castoriadis ist Autonomie somit kein Selbstzweck, sondern wiederum relativ: Sie ist der „Schöpfung von Menschen“ untergeordnet, „die mit Weisheit leben und das Gemeinwohl lieben“ (Castoriadis 1986: 306).

                  In Abgrenzung zu Hannah Arendt sieht es Castoriadis als notwendig an, in den Blick zu nehmen, wie die Sphären des Sozialen und des Politischen interagieren und miteinander artikuliert werden können. Gerade weil es zu einfach und letztlich irregeleitet wäre, dem Slogan „alles ist politisch“ zu folgen, stellt sich die Aufgabe, besser zu verstehen, wie der vielfach erhobene Ruf nach direkter Demokratie heute vor allen Dingen entlang der Grenzen des traditionellen Raumes der Politik erhoben wird: In Sozialkämpfen, die ein politisches Verständnis dessen verteidigen, was andere auf bloß „private“ Angelegenheiten reduzieren wollen: von der Wohnungswirtschaft über die Ernährung hin zu intergenerationaler Gerechtigkeit, um nur drei Themenfelder zu nennen.

Ein zweiter Pfad, der in der Auseinandersetzung mit Athen in die Richtung eines Neudenkens direkter Demokratie weist, entspringt der Notwendigkeit, den Begriff der Institution von dem der Repräsentation zu trennen. Eine Lebensform schafft es nicht einfach so, eine Demokratie am Leben zu halten: Dafür braucht sie bestimmte, dauerhafte politische Institutionen. Anders gesagt stehen wir heute vor der Herausforderung, neu zu lernen, wie die Institutionen direkter Demokratie aussehen könnten und wie eine solche Vision praktisch umgesetzt werden könnte – im Geist der antiken griechischen Demokratie, aber in ihren Formen radikal von ihr unterschieden. Doch sind es heute gerade Theoretiker:innen der sogenannten ‚radikalen Demokratie‘, die oft alle Formen von Institutionalisierung en bloc ablehnen: Vertreter:innen der radikalen Demokratietheorie assoziieren Institutionen mit einer Politik der Politiker (la politique politicienne) und der Herrschaft von Pseudo-Eliten, d. h. also notwendigerweise im Sinne der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Doch die Tatsache, dass die Bewegung der Plätze in den Jahren nach 2011 außer Atem geraten ist, hat deutlich gemacht, dass es nicht weiterführt, an eine „spontane“ Wiedergeburt der Demokratie zu glauben. Dass die Rede der Bürger:innen frei sein soll, dass Bürger:innen sich in einer Versammlung begegnen und miteinander diskutieren: Dies sind notwendige, aber keine ausreichenden Bedingungen von Demokratie. Castoriadis trifft diesen Punkt mit einer recht trockenen Bemerkungen:

„Wenn wir von ‚Demokratie‘ sprechen, dann sollten wir nicht bloß an eine Versammlung denken, die diskutiert und dann konsensuell entscheidet; noch nicht einmal an die bloße Abwesenheit von Herrschaft, im faktischen Sinne der Herrschaft einer sozialen Gruppe. Die griechische Schöpfung von Demokratie, von Politik, ist die Schöpfung einer Aktivität expliziter, kollektiver Selbstinstituierung.“ (Castoriadis 2004: 59)

Es ist darum auch unzureichend, zu meinen, dass das Losverfahren allein in der Lage wäre, eine Form direkter Demokratie wieder einzuführen. Das Losverfahren schafft noch keine Demokratie, sondern es ist ein Werkzeug innerhalb eines komplexen Institutionengefüges, in dem die Bürger:innen selbst langfristig die treibende Kraft sein müssen. Diese Dauerhaftigkeit ist fundamental, denn erst durch andauernde Beteiligung entsteht so etwas wie eine andauernde politische Bildung. Wenn in Athen jeder Bürger, der per Losverfahren für ein bestimmtes Amt ausgewählt wurde, auch fähig war, dieses Amt auszuüben, dann lag dies darin begründet, dass derselbe Bürger zuvor in wöchentlichen Versammlungen die Möglichkeit hatte, sein Verständnis öffentlicher Angelegenheiten zu schulen (jedenfalls insofern wir Aristoteles Darstellung der Athener Verfassung folgen). Die Bürger Athens nahmen regelmäßig an Versammlungen teil und hatten so die Gelegenheit, ganz praktisch über Jahre hinweg durch die Beteiligung an der Diskussion und am Votum über die unterschiedlichsten Themen eine politische Bildung zu erwerben. Castoriadis geht noch weiter, wenn er schreibt, „in Athen Politik zu betreiben, war Philosophie in Aktion.“ Denn zu fragen, ob ein Gesetzesvorschlag gerecht oder ein Städtebauprojekt schön sei, wirft immer auch zugleich die Frage auf, was wir überhaupt unter ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Schönheit‘ verstehen.

Heute stellt sich daher die Aufgabe, die institutionellen Rahmenbedingungen zu vervielfachen, in denen Bürger:innen sich direkt beteiligen können und zwar auf den verschiedensten politischen Ebenen und auf lange Sicht. Dabei sollten ihren Entscheidungen auch bindend sein. Denn allzu oft finden sogenannte ‚partizipative‘ Versammlungen statt, die am Ende eine rein konsultative Funktion erfüllen und daher von gewählten Vertreter:innen für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert werden können, wenn es ihnen passt und fallen gelassen werden, sobald Widerspruch laut wird. Direkt-demokratische Versammlungen würden schließlich ebenfalls Gelegenheiten bieten, jene kollektiven imaginären Bedeutungen zu hinterfragen, die unsere Form neoliberaler Gesellschaft konstituieren. Castoriadis sieht die Triebfedern dieser imaginären Formen in einem Verlangen nach „pseudo-rationaler Pseudo-Kontrolle“ über die Gesamtheit der Welt und in der Wertschätzung des unbegrenzten Konsums als Selbstzweck. Ein dritter Pfad deutet in die Richtung der Notwendigkeit, Konflikt und Selbstbegrenzung als gesellschaftliche Triebkräfte neu zu denken. Die dauerhafte politische Bildung (erwachsener, männlicher) Bürger ergab sich auf besondere Weise aus der Konflikterfahrung innerhalb der Versammlung, dem agon widersprüchlicher Meinungen. Doch Castoriadis identifiziert noch eine weitere politische Institution, die eine zeitgenössische Neuformulierung inspirieren könnte: die Tragödie, die in den Theatern der Athener polis eine wichtige Funktion für politische Bildung erfüllte. Laut Castoriadis handelte es sich hierbei um eine Institution der Selbstbegrenzung: In der Tragödie findet sich ein notwendiger Zusatz zur kollektiven Autonomie, was heute zu oft vergessen wird. Wenn die Kollektivität der Bürger sich ihre eigenen Institutionen geben kann, wenn sie der Schöpfer nicht nur ihrer eigenen Gesetze, sondern auch ihrer Werte und Ziele ist, dann muss sie auch in der Lage sein, in Freiheit die Grenzen dieser Selbstschöpfung zu bestimmen. Mitglieder einer autonomen Gesellschaft müssen ihre eigenen kollektiven Grenzen selbst ziehen können: Solche Grenzen sind nicht einfach aufoktroyiert, als kämen sie von außen, von einer transzendentalen Ebene, die als letzter Grund und Garant von Sinn ins Spiel gebracht würde (wie es in heteronomen Gesellschaften der Fall wäre). Über alle ideologischen Schubladen hinweg besteht die riskante Wette der tragischen Paideia in einer Bildung zur Kritik ohne Letztbegründung: Sie geht auf, wenn Bürger:innen dauerhaft den vorherrschenden Common Sense in Frage stellen und neue Bedeutungen hervorbringen. Gerade in Zeiten von Pandemie-bedingten Einschränkungen, in denen Theater und viele Orte des kulturellen Lebens für über ein Jahr geschlossen waren, erweist sich die Aktualität dieser Einsicht als ungebrochen: Kritische Institutionen von Kultur und Kunst – verstanden als politische Institutionen, die sich einer neoliberalen Privatisierungslogik widersetzen – bleiben notwendige Bedingungen für jedes Wiederaufleben des Projekts der Autonomie.

(aus dem Französischen übersetzt von Niklas Plätzer)

Sophie Klimis ist Lehrstuhlinhaberin für Philosophie an der Universität von Saint-Louis, Brüssel. In ihrer Forschung verbindet sie ein Interesse an antiker Philosophie mit zeitgenössischer politischer Philosophie und Ästhetik. Sie ist Mitglied der Association Castoriadis, Kurdirektorin der Castoriadis-Forschungsgruppe (Groupe de Recherche Castoriadis) sowie Mitherausgeberin der Cahiers Castoriadis. Zuletzt von ihr erschienen ist Le penser en travail. Castoriadis et le labyrinthe de la création humaine. Polis. De la société capitaliste à la cité des Athéniens, Paris: Presses universitaires de Paris Nanterre, 2020 sowie Éveiller à la pensée. Au détour des Grecs. Entretiens avec Frank Pierobon, Louvain-la-Neuve: Presses universitaires de Louvain, 2021.

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