Nachruf auf Rainer Schmalz-Bruns

Am 31. März 2020 ist Rainer Schmalz-Bruns nach schwerer Krankheit in Lüneburg gestorben. Mit ihm hat die Politische Theorie in der Bundesrepublik einen ihrer klügsten Köpfe und haben viele Kolleginnen und Kollegen im Fach einen guten Freund verloren. Rainer Schmalz-Bruns hat mit seiner Reflexiven Demokratie (1995), seinen Beiträgen zur Internationalen Politischen Theorie und seinem Einsatz für die Disziplin Politische Theorie prägend gewirkt.

Als Rainer Schmalz wurde er am 11. September 1954 in Lüneburg geboren. Er machte 1973 am dortigen Johanneum das Abitur und verbrachte die folgenden beiden Jahre bei der Bundeswehr. Seit 1975 studierte Rainer Schmalz-Bruns an der Universität Hamburg Politikwissenschaft, Literatur- und Erziehungswissenschaften und schloss das Studium 1980 mit dem 1. Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Im gleichen Jahr heiratete er Heidrun Bruns, 1982 wurde der gemeinsame Sohn Oliver geboren. Als junger Familienvater, ehemaliger Bundeswehrsoldat und gemäßigter Sozialdemokrat wich er in seinem Habitus, man denke nur an sein heute undenkbares Pfeiferauchen in Seminaren, von seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen ab, entschied sich dann aber gegen das Referendariat und für den Versuch einer Universitätskarriere. Zu seinen prägenden akademischen Lehrern an der Hamburger Universität gehörten Udo Bermbach und während der Promotionszeit auch Herbert Schnädelbach. Bedeutsam waren aber auch die Erfahrungen mit seinen ‚peers‘. Zusammen mit einer Gruppe von Mitstudierenden gehörte er in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren zur selbstorganisierten Hamburger Lese- und Diskussionsgruppe „TbT“ (Theorie beim Tee), aus der in den Folgejahren eine ganze Reihe an Professoren in verschiedenen Fächern hervorgehen sollte. Die damaligen Lektüren und Diskussionen haben nicht nur einen Kreis neuer Freundschaften für ihn begründet, sondern auch ganz wesentlich seinen akademischen Argumentationsstil beeinflusst. Es ging immer darum, sich an starken Autorinnen und Autoren abzuarbeiten und schon damals spielte die skrupulöse Lektüre der Texte von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann eine zentrale Rolle in seiner akademischen Sozialisation.

Seine Dissertation von 1986 verfasste er allerdings über ein scheinbar ganz anderes Thema, über die französische Praxistheorie. Diese Arbeit, sie erschien 1989 als Buch unter dem Titel Alltag – Subjektivität – Vernunft, deutete bereits sein späteres Interesse an einer konstruktiven Synthese aus sozialphilosophischen, gesellschaftstheoretischen, begrifflichen und genuin politikwissenschaftlichen Perspektiven an. Ausgehend von einer Defizitanalyse des Habermasschen Handlungsmodells werden damals vor allem in Frankreich diskutierte neomarxistische Theorien des Alltagslebens systematisch daraufhin befragt, ob und wie mit ihrer Hilfe die von ihm diagnostizierte Lücke gefüllt werden kann. Typisch für viele seiner späteren Arbeiten fällt das negative und zugleich instruktive Resümee dieser Prüfung aus: Als systematische Ergänzung eigneten sich die untersuchten Theorien zwar nicht, ihre Subjektemphase lasse sich aber auf andere Weise konstruktiv in das Modell des kommunikativen Handelns integrieren.

Von 1986 bis 1987 war Rainer Schmalz-Bruns als wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg tätig. Seinem Doktorvater Udo Bermbach hatte es Rainer Schmalz-Bruns danach zu verdanken, dass es nach Ende der Promotion nahezu bruchlos mit dem akademischen Karriereweg im Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte weitergehen konnte. Auf Empfehlung Bermbachs erhielt er 1987 bei Gerhard Göhler am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 1985 hatte die sich gerade wieder aufrappelnde Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte in der DVPW mit dem ambitionierten Vorhaben begonnen, sich mit dem Thema „Theorie politischer Institutionen“ bei der DFG für die Förderung eines Schwerpunktprogramms zu bewerben. Rainer Schmalz-Bruns war als Mitarbeiter von Udo Bermbach von Beginn an dabei, als die DFG 1985 die Aufforderung zur Interessenbekundung aussprach. Seit dem Bochumer DVPW-Kongress im Herbst 1985 wurden unter Federführung von Gerhard Göhler Projektskizzen aus dem gesamten Fach gesammelt und zu Positionspapieren verdichtet. Dabei bereitete den Beteiligten das geforderte Forschungsprogramm deutlich weniger Mühe als eine akzeptable Darstellung des Forschungsstandes – es gab dazu angesichts der neuartigen Frage nach einer umfassenden Theorie politischer Institutionen nicht genügend einschlägige Vorarbeiten. In dieser Situation schlug die Stunde von Rainer Schmalz-Bruns. Denn nun war seine bewundernswerte Fähigkeit zur Sichtung enormer Literaturbestände, zur Bewertung des Aufbaus und der Architektur von Theorien und zur Identifikation von theoretisch aussichtsreichen Ansätzen gefragt. Er arbeitete in einem von Göhler geleiteten DFG-Projekt den gesamten sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zur Institutionentheorie erstmals systematisch auf; eine kompilierte Fassung erschien 1989 in Buchform unter dem Titel Ansätze und Perspektiven der Institutionentheorie. Vermittels der von ihm erarbeiteten Zwischenergebnisse und der inzwischen eingegangenen 57 Projektskizzen konnte nun nach einer abschließenden Besprechung auf einer Tagung der DVPW-Sektion in Tutzing der umfangreiche Großantrag gestellt werden. Im Herbst 1988 bewilligte die DFG das Schwerpunktprogramm „Theorie politischer Institutionen“ für fünf Jahre von 1989 bis 1994 und verlängerte es später noch einmal; insgesamt konnten 27 Projekte aus allen Teilgebieten der Politikwissenschaft mit einer Laufzeit von zwei bis vier Jahren gefördert werden. Die Theoriesektion der DVPW avancierte auf diese Weise zum ‚Musterschüler‘ der gesamten Fachvereinigung.

Im Anschluss an diese aufreibenden Arbeiten war Rainer Schmalz-Bruns von 1989 bis 1994 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr Hamburg, der heutigen Helmut-Schmidt-Universität, tätig und begann neben weiteren Publikationen zur Theorie politischer Institutionen mit den Arbeiten an seiner Habilitationsschrift. Die Habilitation erfolgte 1994 an der Universität Hamburg und die Veröffentlichung seiner Studie mit dem Titel Reflexive Demokratie im Jahr 1995 ist später zu Recht als ein Markstein in der deutschsprachigen Politischen Theorie wahrgenommen worden. Rainer Schmalz-Bruns führte darin eine Reihe bislang in Aufsatzform erschienener Beiträge zu einer fulminanten Erneuerung und Erweiterung des Vernunftversprechens der Demokratie zusammen. Er ging dabei in zentralen Punkten über das von Jürgen Habermas 1992 in Faktizität und Geltung präsentierte deliberative Demokratiemodell hinaus und sorgte für eine konzeptionelle Radikalisierung der Demokratietheorie, oder, wie er es an einer Stelle im Buch formulierte, für eine „metapolitische Radikalisierung partizipatorischer Demokratie“. Seine Konzeption deliberativer Politik überführte die damals aufkommenden zivilgesellschaftlichen Demokratiepotentiale in neue institutionelle Formen, lange bevor die Konjunktur der ’Mini Publics‘ begonnen hatte. Die zentrale Idee einer „Demokratisierung des Zusammenspiels unterschiedlicher Formen von Demokratie“ (164/165) setzte darauf, partizipative Formen mit majoritären und nicht-majoritären Institutionen der Demokratie kunstvoll zu verknüpfen. An die von ihm entwickelte Position ließ sich später einerseits auch für Kontexte jenseits des Staates anknüpfen, wie er in einem heute als Klassiker geltenden Aufsatz aus dem Jahre 1999 mit dem Titel Deliberativer Supranationalismus darlegte. Zugleich schuf sein kognitivistisches Modell Anknüpfungsmöglichkeiten für spätere Konzeptionen einer epistemisch angelegten transnationalen Demokratie. Zudem war dieser Aufsatz einer der ersten deutschsprachigen Beiträge zu einer Annäherung von Politischer Theorie und Internationalen Beziehungen, aus der schließlich die Subdisziplin Internationale Politische Theorie erwachsen ist.

Peter Niesen hat in einer späteren Würdigung der Reflexiven Demokratie auf dessen damalige Bedeutung innerhalb des gesamten Faches hingewiesen. Während der politiktheoretische mainstream an den Universitäten zwar eine durchaus positive, aber abstrakte Pro-Einstellung zur Demokratie pflegte, fehlte es dem Fach bis dato an Modellen, welche gleichermaßen das Ausbuchstabieren der normativen Gehalte auf dem Niveau professioneller Sozialwissenschaften erlaubt hätten und die politischen Theorien angesichts des erreichten Niveaus gesellschaftlicher Komplexität als Anregung für empirische Arbeiten wirksam werden lassen könnten. Das Buch hat ganz wesentlich zur erneuerten Anschlussfähigkeit von normativer Theoriebildung für die anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft beigetragen und Rainer Schmalz-Bruns hat diesen Willen zur Verständigung im gesamten Fach auch in seinen Diskussionsbeiträgen personifiziert.

Nach Professurvertretungen in Gießen und Darmstadt übernahm er 1997 die Theorieprofessur am Institut für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt als Nachfolger von Michael Th. Greven. Er war dort einer der maßgeblichen Träger eines sehr modernen und forschungsstarken Instituts, das ganz wesentlich auch durch die gute Zusammenarbeit im Kollegium getragen wurde.

Rainer Schmalz-Bruns hat in diesen ersten Jahren seiner Professur großen Wert auf Nachwuchsförderung und Mitarbeit in den Gremien der DVPW gelegt. Er war insgesamt zwölf Jahre im Vorstand der Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte und hat die Sektion von 1997 bis 2003 geleitet. 2000 wurde er für eine Amtsperiode in den Vorstand der DVPW gewählt. Von 2010 bis 2016 war er geschäftsführender Leiter der Redaktion der Politischen Vierteljahresschrift. Als langjähriger Herausgeber der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte veröffentlichte er zahlreiche Sammelbände, darüber hinaus mit „Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland – Möglichkeiten und Grenzen“ auch einen Band, der von der Bundeszentrale für politische Bildung übernommen und als Standardwerk zu diesem Thema breit gestreut wurde.

Im Jahre 2005 erfolgte der Wechsel auf die Professur für Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik an der Leibniz Universität Hannover. Sein Theoriekolloquium entwickelte sich zum zentralen Diskussionsort gerade auch der jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Fach Politische Theorie, hier wurden die neuesten Arbeiten kritisch besprochen, hier entstanden wissenschaftliche und persönliche Netzwerke, die heute die Zusammenarbeit in der Disziplin tragen.

Die Publikationen dieser Jahre erfolgten in der Form von bis ins Detail durchkomponierten Aufsätzen. Wie kaum ein anderer Vertreter aus dem Bereich der Politischen Theorie verschaffte er sich mit diesen Arbeiten den Respekt prominenter Fachvertreter aus anderen Teilbereichen unseres Faches. Und immer wieder lag er seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Politischen Theorie darin in den Ohren, über die Freuden an der politischen Ideengeschichte und die Wohlgestimmtheiten in der Politischen Philosophie den Blick auf die systematische Theorieproduktion nicht aus dem Blick zu verlieren. In seinen politikwissenschaftlichen Arbeiten der vergangenen 30 Jahre hat Rainer Schmalz-Bruns nicht nur wesentlich dazu beigetragen, die Theorie der deliberativen Demokratie konzeptionell zu konturieren, normativ zu begründen und institutionell auszubuchstabieren. Auch in seinen Analysen zur französischen Praxistheorie und zur Institutionentheorie, seinen Beiträgen zur Theorie der Zivilgesellschaft und zur Kommunitarismusdebatte, seinen kritischen Thesen zur Internet-Politik, seinen Überlegungen zu Grundbegriffen der Politischen Theorie wie Gemeinwohl, Vertrauen, Volkssouveränität oder Globalisierung und nicht zuletzt in seinen Beiträgen zur Theorie des kommunikativen Handelns im Kontext der IB-Forschung sowie zum Thema Staat und Staatlichkeit im Kontext von Global Governance und zur Rechtstheorie wird dieses systematische Interesse immer wieder deutlich. Die illustren Namen der Beitragenden zur anlässlich seines 60. Geburtstages erschienenen Festschrift dokumentieren diesen Respekt und diese Anerkennung. Letztere zeigt sich auch in den Einladungen zu Gastaufenthalten am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2002-2003), am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main in Bad Homburg (WS 2011/12) und am Wissenschaftszentrum Berlin (2013).

Von Isaiah Berlin kennen wir die Figuren des Fuchses und des Igels als Metaphern aus der Welt der Tiere für unterschiedliche Arten des politischen Denkens. Wenn man den Arbeits- und Argumentationsstil von Rainer Schmalz-Bruns in der Politischen Theorie charakterisieren möchte, bietet sich ein anderes ungleiches Paar aus der uns umgebenden Fauna an: die Dohle und der Regenwurm. Um dem nach Synthesen drängenden Anspruch seiner Arbeiten gerecht zu werden, darf man allerdings keinesfalls dem inneren Drang nachgeben, sich für einen der beiden Bewohner weiter Felder entscheiden zu wollen, sondern muss sie beide gleichzeitig im Blick behalten. Denn im Stile der umsichtigen, klugen, aber zugleich unruhigen Dohle, wie wir über sie in Linnés Systema Naturae lesen können, fand Rainer Schmalz-Bruns im Überflug über das weite Feld der neu erscheinenden politikwissenschaftlichen Publikationen mit hoher Treffsicherheit die intellektuell lohnenswertesten Stücke; und im Stile des emsigen und unersättlichen Regenwurms aus Brehms Tierleben fraß er sich im Feld der kopierten oder ausgedruckten Aufsätze und zusammengesammelten Bücher solange durch die Papierberge, bis er schließlich seine eigenen Thesen und Argumente in der bescheiden anmutenden Form einer bloßen Rekonstruktion der Gedanken anderer Autoren zu präsentieren vermochte.

Sollte Rainer Schmalz-Bruns mit dieser Doppelstrategie das Ziel verbunden haben, seinen persönlichen Anteil an der Theorieentwicklung hinter der professionellen Maske des Herstellers systematischer Rekonstruktionen zur Aufhebung zu bringen, so ist er mit diesem Vorhaben gescheitert: Wer die von ihm diskutierte Literatur kannte, durfte schnell bemerken, dass seine Arbeiten die von ihm beigegebenen weiterführenden Komponenten nicht verbergen konnten. Er war ambitioniert in dem, was Politische Theorie heute leisten kann und leisten muss; zugleich war er bescheiden in dem, was er als seinen eigenen Anteil daran gelten lassen wollte.

Allerdings wäre es ein falsches Lob, wenn man behauptete, dass seine Arbeiten der schnellen und leichten Lektüre zugänglich sind; von den meisten Studierenden (und nicht wenigen Kolleginnen und Kollegen) sind der Schwierigkeitsgrad und die Satzlänge in seinen Arbeiten in gleicher Weise gefürchtet – fast mutet es an, als verlangte der Autor eine Art Eingangsprüfung von seinen Leserinnen und Lesern; wer diese Hürde aber erst einmal überwunden hatte, der wurde für die Mühen der Lektüre reichlich belohnt. Mit Rainer Schmalz-Bruns hat die Politische Theorie der Bundesrepublik die Inkarnation einer hochreflexiven, die Architektur von Theorien genauestens prüfenden Haltung verloren; für die, die ihn näher kannten, bedeutet sein Tod darüber hinaus den Verlust eines Menschen, dem freundschaftliche Loyalität und ein liebenswürdiges Miteinanderumgehen über alles ging. Für uns, die wir ihn schon im Studium an der Universität Hamburg bzw. in den 1980er Jahren bei den frühen Tagungen der Sektion kennenlernen durften, endet eine gemeinsame Denkwelt und eine große Freundschaft.

 

 

Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaften der Universität Greifswald.

Frank Nullmeier ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen.

Thomas Saretzki ist Professor für Politische Theorie und Politikfeldanalyse am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg.

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