Die aktuelle COVID-19-Pandemie stellt uns vor eine zweifache Herausforderung: Wir müssen die Ausbreitung der Krankheit verlangsamen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, und zugleich die zur Reproduktion unserer Gesellschaft notwendigen Prozesse, formal wie informal organisiert, aufrechterhalten. Dies führt zu schwierigen Güterabwägungen. Um die Ansteckungsrate möglichst niedrig zu halten, sind direkte Sozialkontakte auf ein Mindestmaß zu reduzieren, wie uns die Epidemiologie erklärt. Der gesundheitliche Schutz der Bevölkerung zieht empfindliche Einschränkungen des sozialen Lebens nach sich und greift tief in Freiheitsrechte ein. Dass die entsprechenden Güterabwägungen unter hohem Zeitdruck und auf unsicheren Wissens- und zum Teil Rechtsgrundlagen zu leisten sind, erschwert die Situation weiter.
Der gesundheitliche Schutz der Bevölkerung zählt zu den Kernaufgaben moderner Staaten. Auch wenn Menschen immer schon, zumindest in einem gewissen Umfang, für den morgigen Tag vorgesorgt haben dürften, um ihr Überleben zu sichern, kommt es seit der Aufklärung zu einer Ausweitung und Verstetigung sowie Verwissenschaftlichung und Professionalisierung präventiver Anstrengungen. Dies hängt mit einem Wandel von Gesellschafts- und Zeitstrukturen im Übergang zur Moderne zusammen. Reinhart Koselleck zufolge haben sich in den Dekaden um 1800, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ voneinander entfernt und schließlich entkoppelt. Man begann die Zukunft als grundsätzlich offen zu erleben. Das beflügelte nicht nur den Fortschrittsoptimismus, sondern schärfte auch den Sinn für Gefahren. Prävention lässt sich insofern als den Versuch betrachten, in einer Welt, die als zunehmend unsicher erfahren wird, erneut Sicherheit zu erlangen.
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Doch handelt es sich bei den gegenwärtigen Maßnahmen in Zeiten von Corona überhaupt noch um Prävention? Ist der Schaden nicht schon längst eingetroffen und der Versuch, „vor die Lage zu kommen“, gescheitert? Und teilen wir mit der Aufklärung noch den offenen, lichten Zukunftshorizont, oder hat sich dieser nicht vielmehr verfinstert in Anbetracht der nahenden Katastrophe? Die weltweite Ausbreitung des Virus zu verhindern, ist in der Tat missglückt. Die ergriffenen Maßnahmen waren zu halbherzig, wie man im Nachhinein feststellen kann. Das heißt aber nicht, dass keine Handlungsmöglichkeiten mehr bestünden und bereits Gewissheit über den Ausgang des gegenwärtigen Geschehens herrschte. Auch innerhalb einer Pandemie kann weiterhin Prävention betrieben und der Schaden begrenzt werden, indem man die Ausbreitungsgeschwindigkeit drosselt, das Gesundheitssystem vor Überlastung schützt und damit die Sterblichkeitsrate so gering wie möglich hält.
Dazu ist es nötig, die gesellschaftliche Reproduktion, sofern möglich, von körperlicher Ko-Präsenz zu entkoppeln, ohne sie dabei in ihren Kernabläufen zu gefährden. Diese Umstellung auf den Notbetrieb gleicht dem Umbau des Schiffs auf hoher See. Die Folge sind nicht nur vielfältige Organisationsprobleme, wie sie momentan den Alltag bestimmen. Es werden auch Handlungsroutinen und Strukturen sichtbar, die im gesellschaftlichen Normalbetrieb weitestgehend unbemerkt bleiben. Ähnlich wie für Gesundheit gilt auch für soziale Normalität: sie tritt zumeist erst dann ins Bewusstsein, wenn sie fehlt oder unmittelbar bedroht ist.
Damit zusammenhängend erlangen momentan Berufe, die als „essenziell“ oder „systemrelevant“ gelten, eine erhöhte Sichtbarkeit und auch Anerkennung. Dies umfasst neben dem Personal im Gesundheitswesen unter anderem Polizei, Feuerwehr und nicht zuletzt den von atypischen Beschäftigungsverhältnissen geprägten Lebensmitteleinzelhandel. Die unentgeltlich geleistete Sorgearbeit im Privaten ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Dass all jenen, die in diesen Bereichen unter gegenwärtig zum Teil schwierigsten Bedingungen arbeiten und dadurch die Grundversorgung sicherstellen, unser aller Dank gebührt, versteht sich dabei von selbst. Dennoch benötigen nicht nur jene Zweige der Gesellschaft, die unser körperliches Überleben sichern, sondern alle sozialen Institutionen der Pflege und Aktualisierung, ansonsten zerfallen sie. Unsere biologische Existenz ist nicht das einzige, was gesichert werden muss, um unsere Gesellschaft auf dem erreichten Differenzierungs- und Komplexitätsniveau am Laufen zu halten – und uns damit auch als geistige und soziale Wesen zu reproduzieren.
Reproduktion meint aber mehr als bloße Bestandserhaltung. Entwicklungsoffene Systeme wie Gesellschaften – um hier einen Gedanken Niklas Luhmanns aufzugreifen – reproduzieren sich im Modus permanenter Anpassung und Veränderung. Das Ergebnis ist eine „dynamische Stabilität“ und keineswegs die „Rückkehr in eine stabile Ruhelage nach Absorption von Störungen“ oder gar eine „Wiederholung der Produktion des Gleichen“. Gesellschaften sind, mit anderen Worten, historische Systeme, die sich allein aus ihrer Entwicklungsgeschichte heraus verstehen lassen. Krisen können dabei Lernprozesse einleiten und das „soziale Immunsystem“ stärken, was sich mittel- und langfristig positiv auf die Stabilität und Reproduktionsfähigkeit auswirkt. Sie können aber auch eine Wende hin zum Schlechteren bringen.
Für komplexe und in sich vielfach differenzierte Sozialsysteme wie ganze Gesellschaften sind nuancenreiche Mischungsverhältnisse zu erwarten. Dass nach der Krise „nichts mehr so sein wird wie zuvor“, ist eine Dramatisierungsformel und keine realistische Zukunftserwartung. Gerade in Zeiten von Krisen sollten sich die Sozialwissenschaften darum bemühen, das zu tun, was sie am besten können: in der Gesellschaft eine analytische Distanz zur Gesellschaft zu schaffen, um so auch praktische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Nur im Horizont alternativer Möglichkeiten ist Politik im emphatischen Sinn möglich.
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Vielen stellt sich daher im Augenblick – vielleicht verfrüht – die Frage, welche Lehren sich aus der gegenwärtigen Krise ziehen lassen, deren Höhepunkt wohl noch vor uns liegt. Neben einer besseren Vorbereitung auf Pandemien in der Zukunft zählen dazu zentral auch praktische Innovationen, die aus der Not geboren wurden, aber beibehalten werden sollten, wenn sich die epidemiologische Lage wieder etwas normalisiert hat (z.B. bezüglich der Organisation des Arbeitsalltags, neuer oder alter Formen der Nachbarschaftshilfe und praktischen Solidarität oder der Mobilitäts- und Emissionsreduktion im Reiseverkehr).
Wie realistisch diese Erwartungen und Hoffnungen sind, wird sich indes noch erweisen müssen. Trotz aller Dynamik und Entwicklungsoffenheit sind die Beharrungskräfte des Sozialen nicht zu unterschätzen. Gibt uns die Pandemie also einen Vorgeschmack darauf, wie schon bald unsere Arbeitswelt aussehen wird? Schafft ein Virus die Veränderungen herbeizuführen, die sich die Verfechter umfassender Digitalisierungsutopien in ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellen können? Die Antwort wird abermals differenziert ausfallen müssen. Präsenzzeiten im Büro erlauben eine andere Art (nicht unbedingt Intensität, so aber doch Qualität) von sozialer Kontrolle, als sie in der digital vermittelten Kommunikation möglich ist. Ähnliches wird man für soziale Nähe und die Möglichkeit spontaner Kommunikation zwischen Kolleginnen und Kollegen behaupten dürfen. Es steht meines Erachtens nicht zu erwarten, oder zu befürchten, dass Organisationen vollständig darauf verzichten werden, ihre Mitglieder regelmäßig zusammenkommen zu lassen. Fraglich scheint ferner, ob die uns derzeit klar vor Augen stehende globale Interdependenz und Vulnerabilität zu den notwendigen Maßnahmen im Bereich des Klimaschutzes führen wird, wie sich dies nun einige erhoffen. Eine sich rasch ausbreitende Pandemie erzeugt ein gänzlich anderes Bedrohungsempfinden als langsam ablaufende und komplexe, mehrdimensionale Kausalprozesse. Zudem werden deren Wirkungen wahrscheinlich erst dann den Alltag der Menschen in den Industrienationen spürbar einschränken, nachdem die kritischen Schwellen und Wendepunkte bereits überschritten sind.
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Dass der Politik bei alldem eine Schlüsselrolle zukommt, muss nicht eigens betont werden. Auf die Kapazität, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und mithilfe von Exekutivorganen effektiv durchzusetzen, sind Gemeinwesen in Notzeiten besonders angewiesen. Schnelles und zielführendes Handeln kann hier über Leben und Tod mitentscheiden. Wo die Steuerungskapazitäten tatsächlich liegen und wie weit sie praktisch reichen, erweist sich jedoch häufig erst dann, wenn sie benötigt werden. Denn das ist auch in der Krise sichtbar geworden: wie stark die Führungsrolle der Nationalstaaten in Europa weiterhin ist, wenn es darauf ankommt, drohende Gefahren abzuwenden. Auch in diesem Sinn scheint Prävention zu einem guten Teil immer noch Staatsaufgabe zu sein.
Das zeigt sich auch im Zusammenspiel zwischen UN-Mitgliedsstaaten und der Weltgesundheitsorganisation, die 1948 als Sonderbehörde der Vereinten Nationen gegründet wurde und seitdem zahlreiche Reformen durchlief. 2005 wurden die völkerrechtlich bindenden Internationalen Gesundheitsvorschriften novelliert, auf deren Grundlage der WHO-Generaldirektor am 30. Januar 2020 die COVID-19-Epidemie zu einer „gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“ erklärte. Das spricht aber keineswegs gegen die Führungsrolle der Nationalstaaten auf praktischer Ebene. Den WHO-Regularien zufolge haben die Mitgliedsstaaten zwar eine Melde- und Rechenschaftspflicht bei (drohenden) Pandemien, die letztendlichen Exekutivbefugnisse liegen aber weiterhin in der Hand der nationalen Regierungen und Behörden.
Wie gut die europäischen Staaten dieser Führungsrolle gerecht werden, muss sich in den kommenden Wochen erst noch erweisen. Zu den größten Herausforderungen gehört es dabei, den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, um die seuchenpolizeilichen Zügel wieder zu lockern. Dass alle Lösungen für dieses Problem suboptimal sind, macht die Situation nicht einfacher. Liberale, funktional differenzierte Gesellschaften können nicht dauerhaft von der Exekutive „durchregiert“ werden, ohne in ihren Strukturen Schaden zu nehmen, auch wenn dies der Gesundheitsschutz verlangt. Giorgio Agamben beschreibt den gegenwärtigen „Ausnahmezustand“ nicht gänzlich falsch, wenn er ihn – zugespitzt – durch einen Primat des „nackten Lebens“ gekennzeichnet sieht (Agambens ursprüngliche Position findet sich hier, eine differenziertere Version hier). Er verkennt dabei aber, dass die Umstellung auf den Notbetrieb aus objektiven Gründen geschieht und sieht damit nicht das Dilemma, in dem wir uns befinden. Wir müssen zwischen zwei Übeln abwägen. Dies kann jedoch nicht die Wissenschaft leisten und auch nicht die Philosophie. Es handelt sich vielmehr um eine genuin politische Aufgabe.
Verunsicherung und eine gewisse Orientierungslosigkeit kennzeichnen die Situation auch insgesamt. Das betrifft schon allein unser Unwissen darüber, wie viele Menschen sich mit dem Virus bereits infiziert haben. Wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich ist, wird derzeit kontrovers diskutiert. Auch sind die ökonomischen, politischen, kulturellen, sozialen und psychologischen Folgen der Corona-Krise noch keineswegs im Detail absehbar, was die gegenwärtige Proliferation von Einschätzungen und Prognosen erklärt. In Krisenzeiten muss man sich neu orientieren, weil die alten Handlungs- und Deutungsroutinen versagt haben. Bei dieser dringend angezeigten Neuorientierung dürfen die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft nicht vergessen werden. So ist die Situation von geflüchteten Menschen, die wie in Moria auf Lesbos in improvisierten Lagern leben, besonders prekär. Hier ist die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft mehr denn je gefragt, auch wenn sich in diesen schwierigen Zeiten der öffentliche Blick häufig zuerst nach innen richtet und die Probleme des eigenen Lands im Vordergrund stehen.
Matthias Leanza, Dr. phil., ist Oberassistent am Departement Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Historischen Soziologie, Kultursoziologie und Gesellschaftstheorie. 2017 ist sein Buch Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie bei Velbrück Wissenschaft erschienen.
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