Corona und die Grenzen der Kontingenz?

Die Feststellung, dass die Corona-Pandemie gewichtige politik- und demokratietheoretische Probleme aufwirft, scheint mittlerweile eigenartig banal. Das betrifft auch radikaldemokratische Theorien – und zwar auf ganz grundlegender Ebene. Denn die globale Pandemie stellt einen Leitgedanken dieser Theorien in Frage: die Kontingenz des Politischen und der Politik. Das wurde nicht zuletzt auch durch die umstrittenen Einlassungen Giorgio Agambens  deutlich. Das Politische als kontingent zu fassen bedeutet, dass Politik nicht auf außerpolitischen Fundamenten, letzten Gründen und notwendigen Wahrheiten beruht. Es muss vielmehr als ein offener Möglichkeitsraum gefasst werden. Genau deswegen darf es eine „Absolutsetzung“ nicht geben; auch nicht die sich nun angeblich vollziehende absolute Reduktion auf das „nackte Leben“. Die letztlich einzig zulässige Notwendigkeit im Politischen ist im radikaldemokratischen Verständnis also diejenige der Kontingenz. Zu Recht?

Entgegen der Behauptung Agambens scheint die Kontingenzthese gerade ja fast im Stundentakt bestätigt. Denn im derzeitigen öffentlichen Diskurs widersprechen sich angebliche „Alternativlosigkeiten“ merkwürdig oft. Es zeigt sich immer mehr, dass mit den ergriffenen Maßnahmen nicht einfach Sachzwänge in die Tat umgesetzt, sondern Abwägungen getroffen werden – etwa, wenn es um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie geht. Dass es bei immer auch anders möglichen Abwägungen im Gegensatz zur Umsetzung von Sachzwängen bleiben muss, offenbart gerade das Politische der gegenwärtigen Lage. Zeigt sich die Kontingenz des Politischen hier nicht gerade in aller Deutlichkeit? Wo ziehen die aktuellen Entwicklungen die Statuierung des Politischen als kontingent also in Zweifel?

Es wäre verwegen, zu behaupten, diese Fragen zu diesem Zeitpunkt eindeutig beantworten zu können. Viel mehr als sie aufzuwerfen und zu skizzieren, wo und wie sie sich stellt, ist hier nicht möglich. Denn trotz der täglichen Flut von Eilmeldungen und Expertisen fehlen wohl schlicht ausreichend Sachinformationen und die Distanz, um die rasanten Verschiebungen von Machbarkeits- und Sagbarkeitsfeldern wirklich kohärent einordnen und so auch den jeweiligen politiktheoretischen Standpunkt daran ausrichten zu können. Möglich bleibt aber zu zeigen, warum sich diese Fragen nach der Kontingenz des Politischen derzeit stellen können und warum sie gerade jetzt von Belang sind.

Zunächst zu den radikaldemokratischen Theorien und zur Vermutung, dass sie die aktuelle Lage relativ akkurat erklären können: Oliver Marchart hat mit seinem Gedanken der politischen Differenz den gemeinsamen Nenner dieser Denkströmung (zumindest für ihre „links-heideggerianische Spielart) treffend herausgearbeitet, weswegen seine Gedanken hier der Veranschaulichung dienen können. Die politische Differenz (in Anlehnung an Martin Heideggers ontologische Differenz) markiert eine unüberbrückbare Spannung zwischen dem Politischen – verstanden als abwesender Grund der Gemeinschaft – und der Politik, die aufgrund dieser Abwesenheit immer nur eine unvollständige Realisierung und Institutionalisierung eines solchen Grundes sein kann. Kurzum: Wahrheit und Politik sind, wie schon Hannah Arendt meinte, zu trennen. Der Politik zugrunde liegende Absolutheiten, welcher Form auch immer, gibt es nicht. Aufgrund dieser Abwesenheit unterliegen die gesellschaftlichen Fundamente daher immer der kontingenten, politischen Veränderung. Sie können immer nur temporär stabilisierte und keine absoluten sein.

Radikaldemokratische Theorien gehen zumeist mit Jacques Derrida davon aus, dass (politische) Wirklichkeiten darauf angewiesen sind, durch ihre ständige performative Aktualisierung bestätigt zu werden, um als wirklich gelten zu können. Ein paradoxes Unterfangen, das jedoch nicht in einem Relativismus mündet. Denn die Abwesenheit letzter Grundlagen bedeutet hier nicht, dass Streben nach solchen Fundamenten aufzugeben. „Fundamentalistische“ Ontologien – Ontologien, die auf letzten metaphysischen oder religiösen Setzungen beruhen – werden abgelehnt. Hieraus folgt aber kein einfacher Anti-Fundamentalismus, sondern eine politische Ontologie des Post-Fundamentalismus, die gerade aufgrund der Kontingenz der letzten Gründe des Politischen das Potential radikaldemokratischer Politik eröffnet sieht.

Politik ist in diesem Verständnis immer nur eine bestimmte Version oder ein bestimmtes Abbild des Politischen. Dieses Abbild wird durch Machtbeziehungen sowohl gefestigt und damit hegemonial; es kann aber durch sie auch gestört und unterlaufen werden. Damit sind auch der Konflikt bzw. die in Agonismen überführten Antagonismen notwendiges Merkmal demokratischer Politik. Das Politische ist durch unauflösbare Widersprüche (Antagonismen) gekennzeichnet, die in demokratische Institutionen getragen werden müssen, um dort in friedlicher Gegnerschaft (Agonismen) ausgetragen werden zu können. Demokratisch ist Politik daher nur dann, wenn sie ihre eigene kontingente und konfliktvolle Natur bejaht. Verschleiert sie diese, so ebnet sie den Weg für eine anti-demokratische Politik, die immer schon einen konstitutiven Widerspruch enthält, nämlich genau durch die Leugnung ihrer eigentlich kontingenten Natur. Machtbeziehungen verkehren sich dann in Herrschaftsbeziehungen.

Die Radikaldemokratie ethisch supplementieren?

Nicht zuletzt in Ungarn zeigt sich aktuell, wie akut die Gefahr dieser Verschleierung ist. Durch die nahezu vollständige Entmachtung des Parlaments zerstört Viktor Orban genau den Ort, der für das Offenhalten der Kontingenz des Politischen auf institutioneller Ebene lebensnotwendig ist (diese Charakterisierung des Parlaments würden wohl nicht alle Radikaldemokrat*innen mitgehen). Auch in scheinbar weniger drastischen Kontexten besteht diese Gefahr überall dort, wo Alternativlosigkeit suggeriert wird bezüglich der Maßnahmen, die es gegen die Verbreitung von Covid-19 zu ergreifen gelte. Auf die Machtverhältnisse aufmerksam zu machen, die dieses Diktum der Alternativlosigkeit stabilisieren und auch auf Räume jenseits des Sachzwangs zu pochen, muss natürlich Maxime einer jeden Position bleiben, die sich kritisch und demokratisch nennt.

Und dennoch stellt sich an genau dieser Stelle die Frage, ob dem Gedanken der Kontingenz des Politischen tatsächlich in aller Radikalität gefolgt werden sollte. Denn auch wenn das Corona-Virus teils dazu genutzt wird, nicht nur auf die Naturgesetzlichkeiten des Virus aufmerksam zu machen, sondern auch die eigene Politik zu einem Naturgesetz zu stilisieren, muss doch Eines unbestritten bleiben: Mit dem Corona-Virus widerfährt den Menschen etwas, das sich zu einem guten Teil ihrer Verfügbarkeit entzieht. Es ist eine Größe auf den Plan getreten, die die Menschen zu Reaktionen nötigt, die eben nicht ganz beliebig sein können, sondern sich vor allem auch nach den Geboten des Faktischen zu richten haben. Das gilt nicht nur dann, wenn es um die Mittel geht, sondern auch und vor allem dann, wenn es um den Zweck der zu treffenden Maßnahmen geht: die Rettung möglichst vieler Menschenleben und die Wahrung der Würde eines jeden Einzelnen.

Es stellt sich daher die Frage: Besteht hier eben deshalb nicht die Notwendigkeit, auf ein Fundament zurückzugreifen, das dem (radikal-) demokratischen Diskurs ein Stück weit enthoben sein muss? Damit sind nicht so sehr die medizinischen Notwendigkeiten gemeint, sondern vielmehr ein ethisches Moment, das unhintergehbar bleiben muss und aus dem sich ja erst die medizinischen Notwendigkeiten ergeben. Denn resultiert, dass wir sie als Notwendigkeiten anerkennen, letztlich nicht aus unserer Anerkennung der Menschenwürde eines jeden Einzelnen?

Doch wenn im Kontingenzdenken der Radikaldemokratie jedes Fundament und jede Norm darauf angewiesen sein sollen, stetig performativ aktualisiert zu werden, um wirksam zu bleiben, dann gilt das für alle Fundamente und Normen. Das ist zunächst eine banale Feststellung, doch muss man sich bewusst machen, was das im Ergebnis heißt: Selbst die Menschenwürde als diejenige Singularität, aus der sich im Grundgesetz letztlich die ganze Pluralität freiheitlich-demokratischer Normen speist, würde dadurch zur Disposition gestellt. Sie eignet dem Menschen dann nicht von Natur aus an als Sphäre unantastbarer Autonomie. Sie besteht dann nicht von vornherein, sondern nur in einem politischen Raum der Ebenbürtigkeit, in dem, in Hannah Arendts Worten „das Recht, Rechte zu haben“ gewährleistet ist. Die Möglichkeit ihres Verlustes besteht. Die Norm der Menschenwürde zeigt dann nur die Möglichkeit derselben an. Sie bedeutet dann nicht die Wirklichkeit, sondern nur einen Anspruch an die Wirklichkeit, der enttäuscht werden kann. Dieser Anspruch wird in Frage gestellt, wenn etwa durch Empfehlungen zur Triage utilitaristische Herangehensweisen bemüht werden, die den Wert eines Menschenlebens an der Anzahl der verbleibenden Lebensjahre bemessen und damit zwangsweise unmenschliche Folgen zeitigen.

Vielleicht zeigt sich aber gerade deshalb und gerade jetzt, dass demokratische Deliberation niemals ohne die Setzung eines unantastbaren Absoluten, nämlich dem Fundament der Menschenwürde, dem Menschen als Selbstzweck (Kant), auskommt. Vielleicht ist die beste Reaktion auf ein uns unverfügbares Widerfahrnis (Wilhelm Kamlah) das Pochen auf eine ebenso unverfügbare Sphäre der Menschenwürde, auch wenn diese Sphäre durch ihre Verletzung in der Wirklichkeit oft nur als Fiktion dasteht. Vielleicht muss die Kontingenz des Politischen also in gewisser Hinsicht durch die Setzung einer notwendigen Fiktion beschränkt werden. Vielleicht macht das Virus deutlich, dass es dem Vertrauen auf eine ethisch-normativen Autorität bedarf. Diese liegt niemals in einer Person, sondern in der (grundgesetzlich festgeschriebenen) Anerkennung der Würde eines jeden Einzelnen, ohne die sich jede demokratische Deliberation in ihr Gegenteil verkehren würde. Dass sie verletzt wird, kann und darf also nichts an der Wirklichkeit ihres Bestandes ändern.

Vielleicht hat die Diskussion rund um Agambens Ausführungen deutlich gemacht, dass es gerade jetzt Sinn macht, die Radikaldemokratie auf ihre ethischen Grundlagen zu befragen. So darf man etwa gespannt sein, auf Oliver Marcharts im Laufe diesen Jahres erscheinendes Buch „Der demokratische Horizont“. Denn schon der Untertitel („Politik und Ethik radikaler Demokratie“) zeigt an, dass sich radikale Demokratietheorien notwendigerweise auch zur Ethik zu verhalten haben. Ohne solide ethische Grundlagen kommen sie jedenfalls nicht aus. Die Frage nach Kontingenz und Notwendigkeit in der Sphäre des Politischen ist dabei mitnichten eine neue Frage. Neu ist wohl die Schärfe, in der sie sich jetzt stellt.

 

Fabian Marx studiert Politik und Recht (B.A.) an der Universität Münster. Sein Studienschwerpunkt liegt vor allem in der Politischen Theorie, insbesondere in der Demokratietheorie.

 

 

Ein Kommentar zu “Corona und die Grenzen der Kontingenz?

  1. „Kontingenz“ scheint in der Tat ein Schlüsselbegriff zu sein, dessen Sprengkraft sich gerade in Zeiten externer Krisen offenbart. Um den Gedanken zu dem im Artikel treffend platzierten Beispiel der Triage aufzugreifen: es handelt sich dabei nicht um eine politische, sondern um eine medizinische Entscheidung, die gewissen Sachzwängen unterworfen ist (gegebene Kapazitätsgrenzen). Diese Sachzwänge wiederum haben ihren Ursprung aber in vorgeschalteten politischen Entscheidungen. Auf dieser Ebene kommt die Kontingenz ins Spiel, die in Zeiten zunehmenden Risikos und abnehmender kalkulierbarer Kausalitäten wächst. Die entscheidende Frage scheint dabei weniger – und das verstehe ich unter der „neuen Schärfe“ von der am Ende des Artikels gesprochen wird -, wie weit politische Kontingenz gehen kann, sondern vielmehr, wie weit das Politische in einer Demokratie gehen darf, um der Kontingenz zu begegnen, sie also, so gut es eben geht, einzuhegen. Diese Frage berührt schließlich die deliberativen Prozesse, da ihre Antwort gleichzeitig deren Offenheit beeinflusst. Wenn wir also von dem attraktiven Gedanken ausgehen, bspw. die Menschenwürde als Absolutes zu setzen, ergibt sich notwendigerweise das Folgeproblem, wie stark einschränkend auf den diskursiven Prozess dieses Prinzip von vornherein wirken darf, um dem Anspruch einer Konzeption radikaler Demokratie noch gerecht zu werden. Dies nur einige offene Gedanken, die mir bei der Beschäftigung mit dem instruktiven Artikel sogleich in den Sinn gekommen sind.

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