Mit Engeln und paradiesischen Zuständen, so Günter Frankenberg, ist in säkularen Gesellschaften nicht zu rechnen. Wohl aber mit Konflikten aller Art. Wenn Sicherheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt werden, dann verlieren meist zwei unbeteiligte Dritte: Rechtsstaat und Demokratie. Sind die erst einmal erodiert, dann stellt sich schnell die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Die Anschläge vom 13.11.2015 in Paris und die politischen Reaktionen auf den Terror bieten eine gute Gelegenheit, dieser Frage aus gouvernementalitätskritischer Perspektive nachzugehen.
Politik im Ausnahmemodus
Bei der Inanspruchnahme besonderer Kompetenzen durch die Exekutive ist analytisch betrachtet weniger das Was von Belang. Denn zeitgenössische repräsentative Demokratien, wie Frankreich, zeichnen sich durch die Eigenschaft aus, kollektiv bindende Entscheidungen gegenüber den Rechtsadressaten zu begründen. In demokratisch-normativer, aber auch in legitimatorischer Perspektive ist demnach dem Was jeder policy das Wie des öffentlichen Plausibilisierens – also ein Begründen in einem weiten Sinne – vorgeschaltet. Der Routinemodus öffentlichen Plausibilisierens folgt dabei den Vorgaben einer Verfassung. Diese setzt die Regeln und Grenzen des Politischen. Das politische System kann jedoch durch eine Krisensituation unter derart großen Reaktionsdruck geraten, dass sich die Exekutive gezwungen sieht, die Grenzen des bestehenden Regelwerkes zu übertreten. Eine solche Übertretung, wie sie von François Hollande vor dem Kongress und von Premierminister Manuel Valls vor der Assemblée Nationale gefordert und bekräftigt worden war, muss hohen Legitimationsansprüchen gerecht werden. Denn durch die Verhängung eines Ausnahmezustandes wird die Verfassung in ihrer Geltung und Schutzfunktion derart eingeschränkt, dass die Grenze zur Nicht-Demokratie überschritten werden kann. Um die politische Praxis einer ausgeweiteten Exekutivmacht zu plausibilisieren, haben sich Regierungen repräsentativer Demokratien bislang vier unterschiedlicher Muster bedient, die als Situation der Äußerlichkeit, Freund-Feind-Unterscheidung, Effizienz und Notwendigkeit beschrieben werden können. Sind Plausibilisierungen entlang dieser Muster erfolgreich, ermöglichen sie binnen kürzester Frist die öffentlich akzeptierte Ausrufung eines Ausnahmezustandes und die Umsetzung entsprechender Exekutivmaßnahmen, selbst wenn diese zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger gereichen, etwa indem sie deren Freiheitsrechte beschneiden.
Das Neue am Ausnahmezustand
Die Demokratie habe, so hat Präsident Hollande betont, die Fähigkeit zu reagieren. In dieser Einschätzung spiegelt sich all die Entschlusskraft der öffentlichen Auftritte der Spitzen der Exekutive wider. Die politischen Reaktionen erfolgten unter dem unmittelbaren Eindruck der zunächst kaum überschaubaren und weiter eskalierenden Ereignisse. In der Nachschau legen die diskursiven Vermittlungen der Exekutivexpansion die Einschätzung nahe, dass die Plausibilisierung des Ausnahmezustands eine neue Ebene erreicht hat. Inwiefern ist das der Fall? Und was folgt daraus – für die Freiheit, die politische Kultur der Republik, die Demokratie selbst? Ein Blick in die einschlägigen Interventionen von Hollande und Valls zeigt dreierlei:
(1) Die Plausibilisierungsmuster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung sind analytisch schlechterdings nicht zu trennen. Das sagt viel aus über den Schock, den Frankreich und seine Regierung erlitten hat, einen Schock, der in eine Vernichtungskriegsrhetorik mündet, die jeden Plausibilisierungsversuch des État d’urgence dominiert. Derart unbedingt gewollt und existenziell aufgeladen, wird er instrumentell betrachtet zu einem totalen Ausnahmezustand. Die Exekutive treibt die kriseninduzierte Expansion ihrer Kompetenzen nicht nur bis an deren rechtliche Grenzen – sie meint, noch weiter zu müssen, denn sie wähnt sich im Krieg. Der sogenannte Krieg gegen den Terror war indes schon nach 9/11 nicht zu gewinnen, und nach 11/13 sieht das kaum anders aus: Weltweit dem Terrorismus den Krieg zu erklären, war ein schrecklicher Fehler und er ist zum Scheitern verdammt, hat Louise Richardson einmal über die gescheiterte Krisenbewältigung der Bush-Administration geurteilt. Denn etwas einen Krieg zu erklären, so Richardson, das letztlich nur eine Strategie ist, ergebe offensichtlich wenig Sinn. Niemand käme auf die Idee, beispielsweise Präzisionslenkwaffen den Krieg zu erklären. Auch wenn mit dem sogenannten Islamischen Staat in der aktuellen Situation eine Konfliktpartei bereitsteht, der sich von Seiten der französischen Regierung durchaus der Krieg erklären ließe, so ist fraglich, ob mit militärischen Maßnahmen alleine der terroristischen Bedrohung angemessen beizukommen ist.
(2) Bemerkenswert ist die institutionelle Aufteilung der Plausibilisierung entlang der Funktionsposten in der Exekutive. Während Hollande in seiner Rede primär die Muster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung bedient und damit die Richtung der Politik vorgibt, ist Valls als Premierminister auf das Muster der Effizienz festgelegt, in dessen Rahmen er das Klein-Klein der als erforderlich erachteten gesetzlichen ‚Modernisierungen’ abhandelt.
(3) Im Zuge der Schaffung möglichst optimaler Bedingungen für ein befreites Exekutivhandeln tritt ein Plausibilisierungsmuster auf, das auf die Expansion des Ausnahmezustandes drängt. Hierin liegt das Neue der Situation nach dem 13.11.2015: Es handelt sich um einen Erzählzusammenhang, der aus drei Schritten besteht. Während zunächst die Notwendigkeit des Ausnahmezustandes bekräftigt wird, wird gleichsam seine eigentliche Unwirksamkeit beklagt und daraus die Erfordernis abgeleitet, ihn zu ‚modernisieren’, sprich: ihn zu verschärfen. Damit enthält seine Plausibilisierung erstmals eine Art Beobachtung zweiter Ordnung, die noch dazu nicht jenseits, sondern unmittelbar in der auslösenden Krise anhebt.
Demokratie im Ausnahmezustand 2.0
Was folgt aus diesen Befunden? Carl Schmitt hat einmal geschrieben, der Ausnahmezustand habe für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung, wie das Wunder für die Theologie. Analog dazu ließe sich die begründete Befürchtung formulieren, dass die repräsentative Demokratie mit dem Ausnahmezustand ihr blaues Wunder erleben könnte. Das kann passieren, wenn sie sich zu sehr auf die immer weitergehende Expansion der Exekutivbefugnisse kapriziert, und dabei das vernachlässigt, was auch und in noch viel wesentlicherem Maße seit der Aufklärung ihr Erbe ausmacht: die Besinnung auf das Recht und die durch das Recht überhaupt erst ermöglichten Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Dreht die Exekutive indes weiter an der Schraube des Ausnahmezustands, dann droht an Stelle dieser Werte immer häufiger das zu treten, was Dirk Kurbjuweit im Spiegel unlängst eine „Politik der Leere“ genannt hat. Sie war wenige Tage nach den Pariser Anschlägen im Stadion von Hannover auf bedrückende Art und Weise zu besichtigen. Statt Leere und Rückzug seien jedoch, so Kurbjuweit weiter, Mut und Präsenz vonnöten, die eine demokratische politische Kultur und ihren Gestaltungswillen erst ausmachten. Im Sinne dieser politischen Kultur, und nur in diesem Sinne, sollte auch nach den Anschlägen des 13.11.2015 gelten, was Charlie Hebdo schon in seiner Ausgabe vom 25.2.2015 ebenso trotzig wie entschlossen getitelt hat: „…c’est reparti!“.
Matthias Lemke hat seine Habilitationsschrift zur Plausibilisierung von Ausnahmezuständen in repräsentativen Demokratien verfasst. Derzeit ist ein Sammelband zum Thema in Vorbereitung. Eine ausführliche Analyse des Ausnahmezustands in Frankreich nach dem 13.11.2015 erscheint in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie.
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