Gegenwart und Zukunft der Kritischen Theorie – ein Diskussionsbericht

Vom 28. September bis zum 2. Oktober fand in Münster der XXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie mit dem Thema „Geschichte – Gesellschaft – Geltung“ statt. Schon im eröffnenden Plenarvortrag brachte Philip Pettit das Kongressthema auf den Punkt: „Philosophy without history is empty and history without philosophy is blind.“ Fünf Tage lang ging es den rund 1.000 Philosophen in diesem Sinn um die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte, um die Bedeutung der deutschen Sprache als lingua scientia sowie um eine Standortbestimmung speziell der deutschen Philosophie. Im Vordergrund sollte hierbei jedoch nicht eine singulär historistische Betrachtung von Philosophie in Form einer Debatte um Positionen und Schulstreitigkeiten stehen, sondern vielmehr eine Reflexion über die Bedeutung von historischen Analysen für die Beantwortung systematischer Gegenwartsfragen und damit auch die Interdisziplinarität und Positionierung einer gegenwärtigen Philosophie im Dickicht der Einzelwissenschaften.

Einen Höhepunkt aus Sicht der politischen Philosophie stellte das von Rahel Jaeggi und Robin Celikates konzipierte Roundtable-Gespräch zum Thema „Gegenwart und Zukunft der Kritischen Theorie“ dar, an dem neben Celikates (der das Gespräch moderierte) und Jaeggi noch Amy Allen (Dartmouth), Maeve Cooke (Dublin) und Rainer Forst (Frankfurt) teilnahmen.

Amy Allen machte anfangs gleich deutlich, dass es nicht um eine Historisierung der Kritischen Theorie gehen könne, sondern um ihre Öffnung für gegenwärtige Fragestellungen. Man müsse um die Aufdeckung von Mechanismen wie Macht und Zwang bemüht sein, weshalb sie den Kreis der kritischen Theoretiker erweitern wolle um Autoren wie Foucault und Arendt, auch wenn diese selbst niemals in Frankfurt gelehrt hätten.

Maeve Cook hingegen betonte vor allem die Gefahr eines Autoritarismus, welcher sich u.a. durch die Zielsetzung des Programms einer kritischen Theorie ergeben könne. So wären bereits die autoritären Züge im Werk von Horkheimer nicht zu übersehen, weshalb eine selbstreflexive Beurteilung der kritischen Theorie zu jedem Zeitpunkt unverzichtbar sei.

Rainer Forst schließlich verwies auf die historisch angelegte Funktion einer Verbindung von philosophischer und sozialwissenschaftlicher Wissenschaftspraxis, welche sich eben in der normativen und sozialwissenschaftlichen Reflexion zeige. Wie Allen betonte auch Forst, dass jedoch auch hier der Begriff der Macht im Zentrum stehen müsse. Macht sei für ihn „das Vermögen, den Raum der Gründe von Rechtsfolgen für andere abzuschließen“. Im Sinne einer Dekonstruktion von Macht wendet Forst sich deshalb gegen apolitische Ansätze von Gerechtigkeit oder Menschenrechten, welche nur im Sinne einer technokratischen Güterverteilungslogik betrachtet würden. Die wahre Rechtfertigung, so Forst, sei die des Sozialen, weshalb Probleme wie das der Entfremdung unter obigen Gesichtspunkten bisher ein defizitäres Rechtfertigungsprogramm sei.

Rahel Jaeggi kritisierte zunächst in Anlehnung an Forst die Marginalisierung qualitativ-sozialwissenschaftlicher Arbeit. Ziel und Aufgabe der kritischen Theorie, müsse der transformierende Gestus philosophischer Beschäftigung sein und nicht allein das Wiederherstellen von sozialen Normen wie etwa im Kommunitarismus. Vielmehr gehe es um die Entnaturalisierung von Lebensverhältnissen. Ohne die Vorstellung jedoch, wie ein solcher Erfahrungsprozess sich auszeichnen solle, würde es auch für die Zielsetzung schwierig. Kritische Theorie dürfe daher nicht als eine Theorie über, sondern als ein immanenter Teil von sozialen Kämpfen verstanden werden. In diesem Sinne versucht Jaeggi an die praktische Relevanz der theoretischen Beschäftigung mit sozialer Emanzipation an Horkheimer anzuschließen. Ihr Plädoyer schloss Jaeggi mit der Feststellung ab, dass es sich zuletzt nicht um einen singulären Kampf, sondern um eine Pluralität von sozialen Kämpfen handle.

In der anschließenden Diskussion zwischen den einzelnen Rednern, soviel wurde schnell deutlich, herrschteEinigkeit über den Gegenstand und das Ziel sowie die Aufgabe der Philosophie, welche Forst nicht ohne Ironie formulierte: „Philosophen können nur tun, was Philosophen tun können. Und wenn Philosophen etwas anderes tun als das was sie tun können, dann ist das nicht gut.“ Für alle Anwesenden bedeutete dies gleichermaßen: die Stärken der Philosophie auszuspielen und sich statt normativen Grundlagen verstärkt akuten Problemen mit gesellschaftstheoretischer Relevanz zuzuwenden, z.B. Kapitalismuskritik, Entfremdung oder einer Analyse spätkapitalistischer Lebensformen. In diesem Sinne, so Forst, müsse die Philosophie etwas Emanzipatorisches haben und ihr Grau in Grauverlassen und stattdessen am Puls der Zeit mitmischen. Was dies konkret für das Verhältnis von Theorie und Praxis bedeutet und inwiefern sich diese Neubestimmung der Philosophie mittels einer kritischen Theorie auf das Selbstverständnis derselben auswirkt, darauf vermochte Forst nur eine vorläufige Antwort zu geben: Eine politische Philosophie hat demnach die Aufgabe, die Rechtfertigungsverhältnisse zurückzugeben an diejenigen, die sich im Werk von Zwang und Macht diesbezüglich zu verantworten haben. Gleichzeitig sei die kritische Theorie jedoch auch nicht frei von diesen Verhältnissen. Sie müsse daher auch sich selbst sowie ihre Prämissen hinsichtlich dieser Funktionen überprüfen. Die Genealogie, so Forst, sei dafür das richtige Modell. Den Seitenhieb, dass gerade Münster mit seiner Vergangenheit um die Ritter-Schule ein pikanter Ort für solch eine Standortbestimmung ist, wollte sich Forst dann auch nicht verkneifen.

Schlussendlich war man sich einig, dass eine kritische Theorie unter den gegenwärtigen politischen sowie ökonomischen Voraussetzungen dringender nötig ist denn je. Darüber, was kritische Theorie ist, kam kurz vor Ende noch eine Diskussion auf, maßgeblich ausgelöst durch Stefan Müller-Doohms Einwand, das Projekt der kritischen Theorie bzw. der Begriff der Frankfurter Schule sei erst mit dem Positivismusstreit der 1960er-Jahre aufgekommen. Protagonisten wie etwa Jürgen Habermas würden diesem dabei oftmals übereilt und wenig differenziert zugeordnet, obwohl sie wie Habermas augenscheinlich für ein ganz anderes Paradigma stünden – in Habermas’ Fall das der kommunikativen Vernunft. Horkheimer und Adorno hingegen, so Müller-Doohm, hätten schlicht Soziologie gelehrt.

Was die Emanzipation für das Selbstverständnis von kritischer Theorie bedeutete, zeigte sich bei diesem Kolloquium eindrucksvoll: die dritte Generation der Frankfurter Schule ging mitunter auf Distanz zu ihren Begründern – speziell Horkheimer kam hierbei nicht immer gut weg – ohne jedoch die Bedeutung derselben zu trivialisieren. So verwies etwa Forst auf die Rolle der Kritischen Theorie kurz vor der Emigration Horkheimers und Adornos in die USA: die Kritische Theorie, so Forst, sei eine vor dem Hintergrund des Marxismus entwickelte revolutionäre Theorie gewesen, der das Proletariat abhanden gekommen sei. Anders als andere revolutionäre Gruppen, habe sie dies jedoch auch laut und deutlich gemacht. Das Programm der Zukunft müsse es daher sein, dies nicht nur historisch zur Kenntnis zu nehmen, sondern unter Einbeziehung aller Sozialwissenschaften zu zeigen, dass eine kritische Gesellschaftstheorie nicht unmöglich sei. Denn eben dies hätten bereits die alten Frankfurter bewiesen.


Maik Wöhlert studiert Philosophie, Geographie und Rechtswissenschaften an der Universität Greifswald.

Ein Kommentar zu “Gegenwart und Zukunft der Kritischen Theorie – ein Diskussionsbericht

  1. „Für alle Anwesenden bedeutete dies gleichermaßen: … sich statt normativen Grundlagen verstärkt akuten Problemen mit gesellschaftstheoretischer Relevanz zuzuwenden, z.B. Kapitalismuskritik, Entfremdung oder einer Analyse spätkapitalistischer Lebensformen.“
    Das sind keine akuten Probleme, vielmehr Probleme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Offensichtlich leiden die kritischen Theoretiker von heute unter akutem Realitätsverlust. Man kann Horkheimer und Adorno zu ihren Nachfolgern nicht gratulieren.

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