Nach vierzehn Wochen und über 600 Seiten Lektüre kommen wir zum Ende unseres Lesekreises zu Axel Honneths „Das Recht der Freiheit“. An dieser Stelle nochmal ganz herzlichen Dank an alle Beteiligten, besonders an die Autorinnen und Autoren der Einführungskommentare, den Suhrkamp Verlag, und das Team vom Theorieblog, aber auch an alle Leser und Kommentatoren!
In der letzten gemeinsamen „Sitzung“ wollen wir auf unsere Diskussion in den letzten Wochen zurückschauen und versuchen, die aufgeworfenen Fragen und Probleme in eine Gesamtperspektive einzuordnen – was hat sich geklärt, was blieb offen, was war besonders überzeugend, was nicht? Im Folgenden haben wir versucht, zentrale Punkte unserer Diskussion noch einmal als Ausgangspunkt für unsere Abschlussdiskussion zusammenzufassen. Offensichtlich muss dabei vieles ungenannt bleiben – ergänzt dementsprechend die Diskussion nach Belieben! Es geht nicht um den Versuch einer Synthese unserer Diskussion, sondern eher um eine Darstellung der zentralen Diskussionspunkte und Nachfragen. Es scheint aber, dass sich die grundlegenden Fragen zur Methode und zu Honneths Form der Gerechtigkeitstheorie im Hintergrund durch alle weiteren Teile gezogen haben, so dass wir hier gut ansetzen könnten.
Zusätzlich zu den Punkten hier wird hier auf dem Blog am Mittwoch auch noch ein Text von Susanne zu Honneths Gebrauch von Literatur und Film (siehe auch unten) erscheinen. Beste Voraussetzungen also für eine furiose Abschlussdiskussion – wir freuen uns auf rege Teilnahme!
Methodologische Fragen/ Normative Rekonstruktion
Fragen zur Methode der normativen Rekonstruktion (NR) haben sich durch beinahe alle Einzeldiskussionen hindurchgezogen. Lisa hatte schon früh darauf hingewiesen: „the proof of the pudding is the eating“ – inwiefern die NR überzeugen kann sollte sich also am Ende der Lektüre besonders gut feststellen lassen. Zentrale Fragen waren:
– Was genau ist das Objekt der NR? Honneth bezieht sich mal stärker auf wissenschaftliche/philosophische Diskurse, mal stärker auf realhistorische Entwicklungen. Auf welcher Ebene und durch wen werden die (zu rekonstruierenden) Werte und Normen geprägt? (vgl. etwa Volkers Nachfrage zu Honneths Diskussion von Arendt und Habermas zur demokratischen Öffentlichkeit).
– Inwiefern birgt die NR die Gefahr einer Apologie des Status Quo? Hier schließen mehrere Probleme an: a) Anhand welcher Kriterien kann die NR hinsichtlich der gegenwärtige existierenden Institutionen und Werte zwischen gerechten und ungerechten unterscheiden? Die Tatsache ihrer sozialen Reproduktion allein, so vielfach die Kritik, kann nicht als Kriterium dienen, da z.B. auch repressive Institutionen reproduziert werden können (siehe dazu Pauls Kommentar sowie die Diskussion um (soziale und normative) Reproduktion in der ersten Woche). b) Insofern die NR über den Status Quo hinausweisen soll, indem sie noch unrealisierte Praxispotentiale sichtbar macht: wie weit kann der Philosoph hier tatsächlich rein immanent vorgehen, und inwiefern können derart auch konkrete Vorschläge gemacht werde (vgl. Pauls Frage nach der Möglichkeit einer intentionalen kritischen Theorie und Praxis)? Wie wird die Grenze zwischen ‚Ideal‘ und ‚Abweichung‘ gezogen (vgl. die Diskussion über Honneths parabelförmige Geschichte des demokratischen Rechtsstaats)
– Wie stark sind die Ergebnisse der NR bzw. eine auf NR basierende Gerechtigkeitstheorie kontextabhängig? Einerseits hatten wir festgestellt, dass Honneth seine NR auf „unsere gegenwärtigen Gesellschaften (31) beschränkt (bzw. teilweise noch enger, etwa in der Diskussion des Korporatismus in Deutschland), sich andererseits aber möglicherweise auch anthropologische Elemente einschleichen (etwa in den Überlungen zu Freundschaft, Intimbeziehungen und Familie), so dass unklar bleibt, welche ‚Reichweite‘ eine so gewonnene Theorie beansprucht bzw. haben kann.
– Damit schließlich auch noch: wie schlägt sich die NR gegenüber anderen Formen der Theoriebildung, insbesondere den von Honneth zu Beginn des Buches kritisierten Gerechtigkeitstheorien anglo-amerikanischer Prägung?
– Außerdem wurde bzgl. NR immer wieder Honneths Rückgriff auf Kunst hervorgehoben. Thema waren hier der Stellenwert solcher „ästhetischer Zeugnisse“ (so etwa Maike; speziell mit Blick auf die Pathologiediagnose: Wulf und Paul), das (subjektive) Urteil des Philosophen bzgl. der Auswahl und Interpretation der entsprechenden Werke (siehe Susannes alternative Quellen und Deutungen), sowie die Frage, ob die ästhetische Bearbeitung von Wirklichkeit nicht nur Quelle, sondern auch konstitutives Element sozialer Wirklichkeit ist (ebenfalls: Maike).
Freiheit(en) und Institutionen
Ähnlich grundlegende Fragen hatten sich zum Wert der Freiheit, ihrem Stellenwert innerhalb Honneths Theorie sowie der Unterteilung in rechtliche, moralische und soziale Freiheit ergeben:
– Ganz grundlegend hatten wir diskutiert, was es bedeutet, Freiheit zum zentralen Wert einer Gerechtigkeitstheorie zu machen – und damit auch Gleichheit als abgeleiteten Wert zu verstehen. Welche Überschneidungen gibt es hier mit anderen – z.B. bedürfnisorientierten – Konzeptionen (vgl. die Diskussion in der ersten Woche).
– Wie genau versteht Honneth den Zusammenhang von Freiheit und Institutionen? Sind es bestimmte Institutionen, die Freiheit gewährleisten, oder stellen sie eher die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit dar (dazu etwa Lisas Anmerkungen)?
– Bleibt hier nicht der Institutionenbegriff zu unscharf? Inwieweit zeichnet Honneth Institutionen grundsätzlich zu einseitig, d.h. mit Betonung deren inklusiver Funktion und dem Bewusstsein um „Ergänzungsbedürftigkeit“, allerdings unter Auslassung der Exklusion und Abgrenzung, die Institutionen auch immer vornehmen (vgl. z.B. Volkers entsprechenden Kommentar)?
– Außerdem wurde immer wieder gefragt, ob Honneth nicht zu scharf zwischen den drei Freiheiten trennt bzw. diese jeweils zu stark als intern homogen darstellt (vgl. meine Nachfrage zur möglichen gegenseitigen Beeinflussung von rechtlicher und moralischer Freiheit, sowie Susannes Hinweis auf die Rolle von rechtlichen und moralischen Normen in persönlichen Beziehungen).
– Hinsichtlich Honneths Charakterisierung der rechtlichen Freiheit war insbesondere gefragt worden, ob die hier vorgenommene strikte Trennung zwischen der negativen Schutzfunktion von Recht und der Ermöglichung von Partizipation überzeugen kann (siehe vor allem Wulfs Kommentar und die Reaktionen).
– Hinsichtlich der moralischen Freiheit war insbesondere die Unparteilichkeit hervorgehoben worden, und die damit verbundene Frage, wie Honneth den Umgang mit Normkonflikten (etwa zwischen moralisch-universalen und partikularen Forderungen) konzipiert. Verlässt sich Honneth hier auf eine Art von Urteilskraft, und wie könnte diese verstanden werden?
Soziale Freiheit
Während die bisher angesprochenen Fragen zu großen Teilen auch für den Rest des Buches immer im Hintergrund mitgelaufen sind, waren die Diskussionen um die verschiedenen Sphären sozialer Freiheit häufig deutlich spezifischer. Hier eine Auswahl an Punkten:
– Wieso weisen rechtliche und moralische Freiheit Pathologien, soziale Freiheit aber Fehlentwicklungen auf? (vgl. Maikes Kommentar).
– In Honneths Darstellung von Freundschaften und Intimbeziehungen tauchen destruktive Beziehungen nicht auf; das konfliktuale Potential intersubjektiver Praxis gerät anscheinend aus dem Blick (siehe hier).
Auch Honneths Bild der Familie wurde als zu optimistisch und möglicherweise schichtspezifisch kritisiert (siehe hier). Gibt es gegenwärtig nicht auch Diskurse, die gerade gegen Honneths Familien-Ideal laufen, etwa um mehr Strenge und Hierarchie in der familiären Erziehung? An dieser Stelle tauchte auch noch einmal konkret die Frage auf, inwieweit Honneth tatsächlich ‚nur‘ rekonstruiert, oder doch viel stärker ein normatives Idealbild zeichnet.
– Könnte die Funktion, die die Familie hier erfüllt, nicht auch durch alternative Institutionen – z.B. generationenübergreifende Freundschaften, Zivildienst, oder auch Kindergärten – zumindest Teile der relevanten Einbindungen und Erfahrungen ermöglichen? (vgl. die Diskussion zu Susannes Kommentar).
– Hinsichtlich Honneths Rekonstruktion der Sphäre des Marktes war die erste und grundlegende Frage, ob eine ‚soziologische‘ (Lisa) Betrachtung des Marktes als sozialer Institution diesen tatsächlich sinnvoll erfassen kann, oder ob nicht doch stärker eine originär ökonomische Perspektive zu berücksichtigen wäre. Haben Marktteilnehmer nicht doch deutlich weniger anspruchsvolle bzw. stärker strategische Erwartungen gegenüber dem Markt (so etwa Simon in seinem Kommentar)? Und müssten Konsum- und Arbeitsmarkt in der Betrachtung nicht stärker integriert werden? (Amir)
– In diesem Zusammenhang steht auch das Spannungsverhältnis zwischen negativer und sozialer Freiheit im Markt: inwiefern begehen Marktteilnehmer einen Fehler oder verwickeln sich in Pathologien, wenn sie sich ausschließlich auf ihre Eigeninteressen berufen, und kann man sie im Namen der (sozialen) Freiheit ‚zwingen‘ sich anders zu verhalten? Inwiefern lassen sich beide Freiheiten im Markt vereinen (so etwa Lisa)?
– Was ist Objekt der NR bzgl. des Marktes: die historische Wirklichkeit, und/oder bestimmte Theorien über sie, die aber wiederum die Wirklichkeit beeinflusst haben. Von welcher Warte aus kann Honneth dies als Fehlentwicklung kritisieren? (vgl. Simon und Lisa)..
– Amirs Frage, ob für Honneth soziale Bewegungen explizit normative Erwartungen an den Markt formulieren müssen, oder ob nicht ein ‚praktisches‘ Streben nach sozialer Freiheit ausreiche, hatte schließlich wiederum das Problem eines möglichen Paternalismus aufgeworfen: inwiefern ‚überinterpretiert‘ der Philosoph gegebenenfalls solche Bestrebungen und legt den Beteiligten den Wunsch nach sozialer Freiheit sozusagen in den Mund?
Hinsichtlich demokratischer Öffentlichkeit und Rechtsstaat war vor allem wiederholt auf die Einseitigkeit von Honneths Rekonstruktion hingewiesen worden. So hatte Volker auf die verengte Beschreibung der Massenmedien hingewiesen, und – ebenso wie auch Thorsten – das Ausblenden problematischer und gegenläufiger Aspekte angemahnt; die Rekonstruktion der Demokratie und ihrer Institutionen insgesamt wurde als unvollständig und unterkomplex kritisiert. Auch an diesen Stellen sind wird entsprechend wieder auf die Frage nach dem ‚aktiven‘ Part des Philosophen (d.h., Fragen der Auswahl und Betonung einzelner Aspekte) bei der NR zurückgekommen.
Hallo Andreas, danke für die Zusammenfassung. Ich gehe nochmal kurz auf die Methodik ein, for what’s worth it.
– Ich denke, die Kombination aus Bezügen auf realgeschichtliche und ideengeschichtliche (inklusive künstlerischen) Kontexte ist nicht zufällig, sondern notwendig, weil Realgeschichte und Ideengeschichte stark voneinander beeinflusst sind. M.E. muss der Autor mithilfe seiner Urteilskraft entscheiden, welche Elemente er für besonders wichtig hält, und das dem Leser plausibel machen, aber ein einfaches methodisches Rezept gibt es dafür nicht. Es ist, frei nach Arendt, „Denken ohne Geländer“, das sich nicht festhalten kann oder will an irgendwelchen allgemeinen methodischen Prinzipien – so würde ich es zumindest verstehen. Ich sollte aber offenlegen, dass ich an der Möglichkeit, durch methodische Geländer irgendwie mehr Halt zu bekommen, sowieso meine Zweifel habe, und vielleicht daher nichts vermisse, wo anderen etwas fehlt.
– Bezug auf allgemeinere Prinzipien (statt auf gelebte Wirklichkeit): das finde ich eine falsche Dichotomie, die sich nur ergibt, wenn man glaubt, allgemeine Prinzipien irgendwie ahistorisch erkennen und denken zu können. Ich denke, dass der methodische Unterschied gerade zum späten Rawls (Stichwort reflective equilibrium) eigentlich nicht so groß ist. Der Vorteil von NR ist, dass bewusst der Einfluss von historischen und gegenwärtigen Institutionen mitgedacht wird, um die Frage zu beantworten, wo die Intuitionen der Teilnehmer am reflective equilibrium eigentlich herkommen.
– Eine Apologie des Status quo sehe ich aus diesen Gründen nicht grundsätzlich, zumindest nicht stärker, als man das auch einer Methode des reflective equilibrium vorwerfen könnte; man muss einzeln fragen, an welchen Stellen Honneth das möglicherweise im Einzelnen vorzuwerfen wäre.
– Insgesamt denke ich, dass die angemessene Art und Weise, auf Honneth zu reagieren, ist, Gegennarrativen darzustellen, die sich eben auf andere Stränge der Ideen- und Realgeschichte beziehen (wie ich das in Bezug auf den Markt etwas versucht habe). Das ist eine Art, Theorie zu betreiben, die ich sehr sympathisch finde, die analytisch geprägten Menschen aber vermutlich nicht „rigorous“ genug ist. Ich fände es jedenfalls schön, wenn mehr Werke dieser Art geschrieben würden, und dabei auch, ganz in Susannes Sinne, Literatur und Kunst einbezogen werden. Es macht einfach mehr Spaß, so etwas zu lesen, und die Dinge beeinflussen uns ja sowieso in unserem Denken, ob wir wollen oder nicht, also finde ich es sinnvoller und schöner, sie explizit mit einzubeziehen!