Honneth-Lesekreis (4): Axel Honneth – Kommunitarist?

Teil B, Kapitel II (Moralische Freiheit) (S. 173-218)

Parallel zur Diskussion der rechtlichen Freiheit knöpft sich Axel Honneth in Kapitel II von Teil B die moralische Freiheit vor, wobei er im gleichen Dreischritt zunächst die historische Entwicklung und den Gehalt dieser Freiheit rekonstruiert, sodann ihre Grenzen aufzeigt, und schließlich diejenige Pathologien diskutiert, die aus einem ‚Vergessen‘ dieser Grenzen resultieren. Im Zentrum des Kapitels steht dabei eine hochinteressante Diskussion des Prinzips der Unparteilichkeit, die Honneth als zentrale Vorbedingung und Teil der Praxis der moralischen Freiheit identifiziert, und deren Fehlinterpretation – speziell in ihrem Verhältnis zu bestehenden sozialen Praktiken und Institutionen – er als Ursache der Pathologien der moralischen Freiheit ausmachen wird. Aber der Reihe nach…

Bemerkenswert ist gleich zu Beginn, dass Honneth noch vor der eigentlichen Rekonstruktion der Idee der moralischen Freiheit eindeutig deren Abgrenzung von der rechtlichen Freiheit vornimmt, insofern sie nämlich gerade nicht mit „staatlich kontrollierbarer Verbindlichkeit ausgestattet“ ist, sondern die „schwach institutionalisierte Form eines kulturellen Ordnungsmusters angenommen hat“ (174; vgl. auch das Ende des oberen Absatzes auf 191). Rechtliche und moralische Freiheit sind bei Honneth zwei getrennte und unabhängige Sphären. Nun könnte man sich fragen, inwiefern nicht auch die moralische Freiheit genutzt werden kann, um moralisch fragwürdige Elemente des je gegebenen Rechtssystems zu kritisieren. Über eine solche ‚Querverbindung‘ zwischen den Sphären werden wir aber auch im Rest des Kapitels nichts erfahren – wir werden sehen müssen, inwiefern das dann erst zur sozialen Freiheit gehört.

Zunächst rekonstruiert Honneth also den Siegeszug der moralischen Freiheit, dessen Auftakt er in Kants Konzeption von individueller Freiheit als moralischer Autonomie verortet. Diese wird in einer bewundernswert prägnanten Darstellung in erster Linie als das kritische Potential gekennzeichnet, solche Handlungsanforderungen zurückzuweisen, die sich bei kritischer Überprüfung nicht einer universellen Zustimmung versichern können. In dieser kritischen Funktion findet die moralische Autonomie Honneth zufolge dann rasch und umfassend gesellschaftlichen Rückhalt:  „Die Vorstellung, dass wir über die moralische Freiheit verfügen, gesellschaftliche Zumutungen und Rollenerwartungen im Nachweis verallgemeinerungsfähiger Gründe zurückzuweisen, wird zu einem kulturellen Orientierungsmuster, das auf den Wegen literarischer Zeugnisse und politischer Kommunikationen in die Poren der sozialen Lebenswelt eindringt“ (180/181). Die so verstandene moralische Freiheit (und mit ihr der moderne Begriff der Würde) ist also Honneth zufolge als Institution aus den modernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken (vgl. auch 181 unten). Für letztere bleibt Honneth leider auch hier weitgehend Belege schuldig – mit Ausnahme des schönen Hinweises auf veränderte Erziehungspraktiken (182, nebst der Aussicht auf eine vertiefte Diskussion in III.1).

Die Grenzen dieser kritisch verstandenen moralischen Freiheit werden allerdings deutlich, so Honneth, wenn man ihre Vorbedingungen als Praxis wechselseitiger Anerkennung näher betrachtet. Die jeweils andere kann nur dann als Trägerin moralischer Freiheit anerkannt werden, d.h. ihr kann nur dann „moralische Achtung“ (194) entgegengebracht werden, wenn zu erwarten ist, dass sie für ihr Handeln gegebenenfalls verallgemeinerbare Gründe angeben kann, was wiederum voraussetzt, dass sie ihre Handlungsentscheidungen überhaupt an verallgemeinerbaren Prinzipien auszurichten kann – was schließlich voraussetzt, dass sie sich in die Perspektive der relevanten Anderen hineinversetzen kann. Die Voraussetzung für die Anerkennung als moralisches Subjekt ist also, mit anderen Worten, die Zuschreibung der Fähigkeit, zu einem unparteilichen Urteil bzgl. des eigenen Handelns gelangen zu können. Gerade dabei handelt es sich Honneth zufolge aber um eine „Illusion“ (196).

Hoch anrechnen muss man Honneth, dass er in der folgenden Kritik der Unparteilichkeitsidee äußerst differenziert vorgeht. So verteidigt er (gegen einen kruden Kontextualismus) durchaus die Möglichkeit, sich in der Beurteilung des eigenen Handelns von partikularen Bindungen zu lösen. Wogegen er sich aber wendet, ist die darüber hinausgehende Idee, „vom sozialen Bedeutungsgehalt der Beziehungen absehen zu können, in denen wir uns immer schon befinden“(200/201). Von konkreten Bindungen kann man sich distanzieren, nicht aber von den „institutionellen Arrangements, in die sie jeweils eingelassen sind“ (198). Was er damit meint, verdeutlicht Honneth am (fiktiven?) Beispiel eines Hochschullehrers, der vom Plagiatsdelikt eines befreundeten Kollegen erfährt. Was ist für ihn die moralisch angemessene Reaktion? Den spezifischen Gehalt der Freundschaft mit dem Kollegen kann er Honneth zufolge im Sinne von Unparteilichkeit zwar ausblenden, nicht aber die – sozusagen ‚formale‘ – Tatsache, dass er mit dem Kollegen befreundet ist, und Freundschaft und Kollegialität bereits selbst implizit Handlungsnormen beinhalten, zu denen er sich zwangsläufig verhalten muss. Worauf Honneth also offenbar hinaus will, ist, dass es (nicht-rechtliche) gesellschaftliche Institutionen gibt – Honneth nennt neben Freundschaft spezifisch Eltern-Kind-Beziehungen und (interessanterweise) „die Normen einer Verfassung“ (204) –, die wir als moralisch autonom Handelnde als bereits gegeben vorfinden und die sich nicht ohne weiteres durch moralische Überlegungen ‚übertrumpfen‘ lassen.

Das wirft verschiedene Fragen auf. Wenn „unser Verhältnis zueinander immer schon durch bestimmte Handlungsnormen geregelt ist, die und nicht einfach zur Disposition stehen“ (207), woher rührt diese beachtliche normative Kraft? Und gilt das für alle Institutionen, die wir innerhalb der Gesellschaft als gegeben vorfinden? Inwiefern sind sie dem moralischen Diskurs tatsächlich vollständig unverfügbar? Wenn Honneth davon spricht, dass diesem „elementare Formen der wechselseitigen Anerkennung voraus[liegen], die für die ihn umgebende Gesellschaft so konstitutiv sind, dass sie von dessen Teilnehmern nicht weiter hinterfragt werden können“ (204), scheint damit zumindest teilweise eine Antwort auf diese Fragen gegeben zu sein: in besonderem Maße für die Gesellschaft konstitutive Institutionen können nicht von der moralischen Autonomie hinterfragt werden (womit aber noch nicht geklärt ist, was genau „konstitutiv“ bedeutet). Dagegen räumt Honneth allerdings ein, dass „wir in der Einstellung der moralischen Freiheit insofern zur Transformation der gegebenen Gesellschaft beitragen [können], als uns deren Allgemeinheitsbezug eine öffentliche Infragestellung der jeweiligen Auslegung lebensweltlicher Normen erlaubt“ (205). Der Unterschied liegt hier vermutlich darin, dass es sich bei einer solchen Transformation letztlich um eine Wahrnehmung der kollektiven Autonomie handelt – was unter Umständen wiederum auf die soziale Freiheit verweisen könnte.

Beachtenswert ist hier aber in jedem Fall, welch umfangreiche normative Kraft den bestehenden (und vermutlich: historisch gewachsenen – oder gar: traditionalen) gesellschaftlichen Institutionen zukommt. Das wird auch mit Blick auf die von Honneth analysierten Pathologien besonders deutlich. Denn was den „Persönlichkeitstyp des unverbundenen Moralisten“ (207) ja gerade zur Pathologie macht, ist, dass er die normative Kraft der bestehenden Institutionen, die „moralische Faktizität seiner sozialen Lebenswelt“ (208/209), ausblendet und glaubt, sich allein an universalistischen Moralprinzipien orientieren zu können. Ist es in diesem Zusammenhang Zufall, dass Honneths „unverbundener Moralist“ (und die Rede von der pathologischen „Fiktion eines unverbundenen Subjekts“ (210)) klingt wie eine Mischung aus MacIntyres Charakteren der modernen Gesellschaft (dem Ästhet, dem Therapeuten und dem Manager) und Sandels ungebundenem Selbst? Oder zeigt uns Honneth hier sein kommunitaristisches Gesicht?

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Andreas Busen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg und dort außerdem in das Forschungsprojekt „Europa und Moderne“ eingebunden. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt derzeit auf seiner Diss zum Ort der Solidarität in der zeitgenössischen politischen Theorie. Weitere Schwerpunkte sind republikanische Theorien des Politischen sowie methodologische Fragen in der politischen Theorie und der Erforschung politischen Denkens.

8 Kommentare zu “Honneth-Lesekreis (4): Axel Honneth – Kommunitarist?

  1. Hallo Andreas, danke für die Einleitung!
    Die Frage, wie genau Unparteilichkeit unverfügbar ist (weil abhängig von vorhergehenden Rollenmustern), bleibt tatsächlich etwas vage, aber ich denke, dass es ein valider Punkt ist. Das ist im Grunde ja das alte Thema der Hegel’schen Kritik an der Kant’schen Moralität. Von daher sind verschiedene Argumente denkbar:
    – Unparteilichkeit reicht als Maßstab nicht, weil sich in der Lebenswelt unvermeidbarerweise Normenkonflikte ergeben werden – in diese Richtung geht das Beispiel des Hochschullehrers.
    – Individuen müssen psychologisch erst in die Lage versetzt werden, durch Erziehung, Sprachentwicklung, usw., Unparteilichkeit zu üben, deswegen ist sie von vorhergehenden sozialen Institutionen abhängig – auch das scheint bei Honneth mit gemeint zu sein; die Pathologie der Moral besteht u.a. genau darin, diese Abhängigkeit nicht zu erkennen und zu glauben, einen über alle sozialen Kontakte erhabenen unabhängigen Maßstab zu besitzen.
    – Damit eine Gesellschaft verstehen kann, was Unparteilichkeit ist, muss sie erst bestimmte Institutionen ausgebildet haben, die mehr umfassen, als nur die Norm der Unparteilichkeit – das scheint das schwerwiegendste, weil umfassendste Argument zu sein, und es ist verbunden mit dem nächsten:
    – Die soziale Welt, der wir uns gegenüber sehen, wenn wir die Unparteilichkeitsregel auf sie „anwenden“ wollen, ist nicht normativ farblos, sondern hat schon ihre ganz eigene normative Prägung – so verstehe ich Honneth auf S. 204 und 207 z.B.
    Trotzdem finde ich, dass am Ende des Moralitätskapitel diese fast ein bißchen zu negativ stehen bleibt (was möglicherweise mehr der Entscheidung, mit der Pathologie zu schließen, als der Substanz geschuldet ist). Auch wenn sie nicht ein platonisch-ahistorisches Prinzip ist, ist sie ein zentraler Bestandteil dessen, was wir überhaupt als rechtfertigbar empfinden. Im Idealfall sind es vielleicht die etwas moralinsauer scheinenden Menschen, die auf dem Aufrechterhalten schon erreichter Standards pochen (vgl. die Forschung in Behavioural Economics zu „altruistic punishment, z.B. hier: http://www.nature.com/nature/journal/v415/n6868/abs/415137a.html).
    Allerdings – und dieser Punkt bestätigt Honneths Perspektive – scheint, historisch gesehen, der entscheidende Punkt oft nicht die Anwendung des Unparteilichkeitsprinzips, sondern dessen Skopus zu sein – werden Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten, etc. als unter dieses Prinzip fallend betrachtet (bin mir gerade nicht sicher, ob Honneth das erwähnt). Und das ist eine Frage, die das abstrakte Prinzip alleine nicht beantwortet.

  2. Ein kurzer Kommentar zu Andreas, Lisa und dem Prinzip der Unparteilichkeit. Ich hatte zunächst Andreas’ Zusammenfassung des Plagiatsbeispiels von Honneth nicht recht verstanden, und dann gemerkt, dass mir etwas an diesem Beispiel auch im Original nicht ganz einleuchtet. Wir sollen, so Honneth, bestehende persönliche Bindungen im Fall eines solchen Delikts „nicht automatisch bevorzugen“, aber doch versuchen, sie „mental einzuklammern“, ohne wiederum à la Kant gänzlich von ihnen „abzusehen“ (201). Ich denke, dass man zu unterschiedlichen praktischen Schlussfolgerungen kommt, je nach dem, wie man solche Beispiele überhaupt konstruiert und welche Informationen man erhält. Was wäre z.B., wenn sich der besagte Kollege mutmaßlich der wiederholten sexuellen Belästigung schuldig gemacht hätte? Man kann sich leicht Fälle ausdenken, in denen auch die Aufkündigung einer Freundschaft erwogen werden müsste und erst recht das Pochen auf Regeln der „Kollegialität“ suspekt erscheinen würde. Dass auch diejenigen, die eine Freundschaft in Frage stellen, immer noch wissen, was Freundschaft als eine „institutionelle Tatsache mit normativem Gehalt“ (204) bedeutet, scheint mir klar zu sein. Mein Einwand wäre also, dass Honneth sein Beispiel so konstruiert – Plagiatsdelikte werden ja in Deutschland nicht richtig ernstgenommen –, dass eine rigoros kantianische Antwort als unangemessen erscheinen muss.

  3. Lisa, Volker: vielen Dank für Eure sehr hilfreichen Anmerkungen! Und dann gleich vorweg, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: ich finde Honneths Perspektive hier sehr sympathisch und würde übrigens „Kommunitarist“ übrigens auch nicht als Schimpfwort gebrauchen.
    Dass in der Gesellschaft immer schon moralische Normen existieren, mit denen wir in jedem Fall irgendwie umgehen müssen, finde ich – wie Lisa – überzeugend. Und auch, dass diese Normen einer unparteilichen Moral nicht vollständig verfügbar sind, würde ich unterschreiben. Was mir vor allem gefehlt hat, sind nähere Informationen über das Verhältnis zwischen existierenden Institutionen (und den darin enthaltenen Normen) und einer unparteilichen Moral. Volkers Kritik am Hochschullehrer-Beispiel zeigt das Problem, das ich habe, noch einmal ganz gut. Denn Volker sagt – zu Recht, wie ich finde -, dass eine Handlungsoption ja durchaus das Aufkündigen der Freundschaft wäre: ‚Hier endet die Freundschaft!‘ Hierbei geht es ja aber nicht nur darum, die normativen Anforderung der Freundschaft gegen die normativen Anforderungen der unparteilichen Moral abzuwägen (wobei ein solches Abwägen in einem Normenkonflikt, wie Volker ja auch sagt, eben je nach Gewicht der einen oder anderen Seite unterschiedlich ausgehen kann; überzeugend ist hier auf jeden Fall, dass es überhaupt ein solches Abwägen geben kann, anders als bei Kants Mörder-Beispiel). Vielmehr verändert sich dadurch ja die Institution der Freundschaft zu einem gewissen Grad selbst, denn wenn sich der Hochschullehrer tatsächlich zu einem ‚Hier endet die Freundschaft‘ entschließt, ist eben diese Grenze hinsichtlich der normativen Anforderungen der Freundschaft (zumindest für ihn) wohl für die Zukunft eingeschrieben. Oder kann ein Einzelner eine solche ‚Umdeutung‘ gar nicht vornehmen? Wenn eine solche aber auf kollektiver Ebene stattfindet, wie geht das dann vor sich?
    Noch grundsätzlicher gefragt: woran orientiert sich der Hochschullehrer eigentlich im Prozess des Abwägens? Ganz offensichtlich ja nicht an einem weiteren, über sowohl Moral als auch Freundschaft stehenden Meta-Prinzip, richtig? Oder anders: gibt es hier einen ‚richtigen‘ Weg des Abschätzens, bzw. kann er sich ‚falsch‘ entscheiden? Damit will ich nicht sagen, dass ich von Honneth eine klare oder gar substanzielle Grenzziehung zwischen beiden Seiten – Moral und bestehenden gesellschaftlichen Normen – erwartet hätte; wohl aber eine genauere Erklärung, wie eine solche Grenzziehung überhaupt jeweils vorzunehmen ist.

  4. @Andreas. Ich würde dir eigentlich gerne widersprechen, um diesen Blog etwas zu beleben, kann dir aber nur zustimmen. Honneth hat ein gutes Gefühl für das normative Gewicht der Wirklichkeit. Daraus folgt eine gewisse Mäßigung des Urteilens und Handelns, also das, was manche „konservativ“ an diesem Buch finden. Daran finde auch ich erstmal garnichts besonders anstössig. Das Problem liegt woanders. Je länger ich über dieses Hochschullehrer-Beispiel nachdenke, desto weniger hilfreich finde ich es. Was Honneth vorzuschweben scheint, ist eine Art Kasusitik, also eine Kunst des Abwägens, die nicht einfach allgemeine Gesetze anwendet, sondern Handlungsregeln ausdifferenziert, um zu einer fallspezifischen Adjustierung von moralischen Forderungen in der Lage zu sein. Dazu lesen wir allerdings nichts weiter bei ihm.

  5. Oder es läuft statt Kasuistik auf so etwas wie eine nicht völlig kodifizierbare Urteilskraft hinaus, wie sie Tugendethikern vorschwebt (oder Du meintest Kasuistik in einem weiten Sinne, so dass das darunter fällt). Um noch einmal eine Parallele zu Honneths Vorbild Hegel zu ziehen: für Hegel ist Teil einer guten Ordnung, dass sie von den Individuen keine tragischen, existentiellen Konflikte à la Antigone bereithält, oder diese zumindest so weit wie möglich minimiert – heroische Tugend und heroisches Urteilsvermögen werden dadurch verzichtbar. Aber trotzdem bleibt Tugend im Sinne von „Rechtschaffenheit“ nötig, d.h. in der Auslegung der sozialen Rollen – und wenn andere Unrecht tun, wird es natürlich wieder komplizierter. Bei Honneth wird das, wenn ich mich richtig erinnere, nicht im Detail beleuchtet, genauso wenig wie bei Hegel – vielleicht, weil die Annahme ist, dass über die konkrete Ausübung von Urteilskraft aus den sozialen Rollen heraus theoretisch nicht viel gesagt werden kann, sondern das den einzelnen Individuen überlassen bleibt.

  6. Ich möchte auch einmal etwas Affirmatives zu Honneth schreiben und habe mich dafür in die Rolle von Eduard Kern versetzt. Er war Jurist und Nachfolger von Heidegger als Rektor der Universität Freiburg. Erstaunlicherweise hätte er an dem Kapitel kaum etwas auszusetzen, im Gegenteil, es würde sogar gut in die Zeit passen, wenn man nur zwei kleine Fußnoten setzen würde. Auf S. 203 heißt es wir sind „stets zu einer vorgängigen Anerkennung von institutionellen Tatsachen genötigt, die … eine für den einzelnen unverfügbare Geltungskraft besitzen.“ Fußnote: „Das tritt in diesen Tagen in besonderer Weise ins Bewußtsein.“ Schließlich ist die Kennzeichnung der „Charaktermaske“ des „unverbundenen Moralisten“, der sich in der „Rolle eines Gesetzgebers für die ganze Welt sieht“ zu ergänzen durch die Fußnote: „Man denken an den Juden Kelsen.“ Der Absatz über den Nationalsozialismus müßte natürlich gestrichen werden, aber das wäre kein großer Verlust, da der Nationalsozialismus als blinder Gesetzespositivismus nicht hinreichend charakterisiert ist.

  7. Das heißt, wir versetzen uns mal eben in das Jahr 1935, in welches das Kapitel gut passen würde, wenn wir das Gemeinte nur am Juden Kelsen statt an der Kommunistin Meinhof verdeutlichten? Wenn das eine Affirmation sein soll, dann war Brutus‘ Dolch in Cäsars Leib ein Liebesbeweis.

    Etwas akademischer ausgedrückt sagt Detlef von Kern hier offenbar, dass Hegels Kritik an der „abstrakten“ Sollensethik einer Affirmation des Nationalsozialismus den Boden bereitet habe und Honneth, der Hegel hier folgt, daher auch von neuen Nazis in Anspruch genommen werden könnte. Ich finde, ein solcher Beitrag richtet sich selbst.

  8. Ich sinne noch über die Einordnung Honneths nach: bisher schien er mir gemässigster Kommunitarist mit universalistischer Prägung, Also ein wenig wie Michael Walzer mit einer dünnen und einer dichten Moral. (Mir scheint er hingegen nicht solch strengem Kommunitarismus zugehörig wie MacIntyre oder Sandel). Oder ist er „kommunitaristicher“ geworden?

    Die dünne Moral, zu der auch das Unparteilichkeitsprinzip gehört, durchzieht (auch) alle dichten Beziehungen. In Fällen wie dem plagiierenden Kollegen gerät man kontextual ggf. in einen Konflikt, aber ich denke auch, man muss dann solche Situationen auch noch wesentlich dichter – u.a. mit Normen, die zur Freundschaft gehören – beschreiben, Vertrauen ist da ein wichtiges Stichwort, personale Integrität sicher ein anderes. Wenn Freundschaft über Unparteilichkeit gestellt wird, kommt es, wie wir alle wissen, schnell zu moralischen Problemen, egal, ob es um Plagiat oder sexuellen Missbrauch geht, wenngleich letzteres natürlich ein schwerwiegenderes Delikt ist. Wenn Unpartellichkeit (umgekehrt) aber kontextlos angewendet wird, ist sie blind.

    Honneth scheint mir bisher ein aristotelischer Weg vorzuschweben, was ja philosophiehistorisch dann auch zu Hegel führt. Ähnliche Ansätze finden wir aber auch bei anderen Philosophen, allen voran wohl bei Bernard Williams. Ich frage mich, was hier bei Honneth das Neue, Eigene, der Clou ist?

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