Wie Volker im vorangegangenen Beitrag herausgestellt hat, kommt dem „Wir“ der demokratischen Willensbildung in Honneths Theorie eine zentrale Rolle zu. Während Honneth in dem Kapitel über die demokratische Öffentlichkeit gezeigt hat, wie das demokratische Wir sich konstituiert, stellt er im Kapitel über den demokratischen Rechtsstaat die Frage, wie die demokratische Öffentlichkeit sich institutionalisieren lässt, sprich: sich als politische Ordnung realisiert, erhält und handelt.
Dem Generalplan des Buches folgend geschieht auch dies durch eine normative Rekonstruktion. Im Vergleich zu den vorangegangenen Kapiteln aber eine, die stärker historisch als ideengeschichtlich angelegt ist. Gegenstand ist der demokratische Rechtsstaat und Honneth macht unmittelbar klar, dass damit weder der Staat als Allgemeines noch gar eine einzelne Nation herausgehoben werden soll. Die Absicht ist vielmehr, den normativen Gehalt aus der Abhängigkeit von der Idee der demokratischen Öffentlichkeit heraus zu bestimmen. Eingeführt wird der demokratische Rechtsstaat daher auch ganz lapidar als „sechste Bedingung“ der demokratischen Öffentlichkeit. Er ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die politische Ordnungsform, die es erlaubt, die Effektivität selbstbestimmten Handelns einer demokratischen Öffentlichkeit sicherzustellen. Der Staat wird als Instrument gesehen, welches die „Willensbildung der Bürgerschaft zugleich vorauszusetzen, zu schützen und umzusetzen“ hat (569).
Nur kurz verteidigt Honneth zum Auftakt des Kapitels, dass auch beim Blick auf den Staat die Methode der normativen Rekonstruktion durchgehalten wird. Wer gleich mit der „realistischen“ Kritik der Staatsgewalt einsetze, verpasse den Zusammenhang von Demokratie, Staat und Öffentlichkeit. Erst von diesem aus aber lasse sich die Kritik an den Zweckentfremdungen des dem Staat übertragenen Gewaltmonopols begründen. Es sei daher nicht idealisierend, wenn man den Staat zunächst in seinen demokratischen Potentialen zu erfasse suche – dies zumal deshalb, da die normative „Idee einer Verankerung des Rechtsstaates in den kommunikativen Willensbildungen seiner Bürgerinnen und Bürger“ eine „historisch längst institutionalisierte und insofern legitimationswirksame Richtschnur“ sei (570).
Die sodann einsetzende Erzählung von der Herausbildung des demokratischen Rechtsstaats nimmt ihren Ausgangspunkt in der für die Etablierung des modernen Freiheitsideals so zentralen Phase des Übergangs von der absolutistischen Monarchie zum modernen Verfassungsstaat. Honneths Rekonstruktion behandelt das lange 19. Jahrhundert als einen kontinuierlichen, aber sehr langsamen und letztlich unvollständig bleibenden Abkoppelungsprozess der demokratischen von der absolutistischen Staatsidee. In dieser Phase zeigt sich zwar die Wirkkraft der Idee der sozialen Freiheit in der allmählichen Ausweitung und dem Schutz von Beteiligungsmöglichkeiten, doch die Beharrungskräfte im Zentrum der politischen Macht sind zu groß. So kommt es zur Etablierung von Voraussetzungen moderner demokratischer Staatlichkeit – wie der Professionalisierung der Bürokratie oder der Etablierung der Institutionen der Gewaltenteilung –, doch die Realität von Klassenprivilegien bleibt bestehen. Auch Parlamentarisierungsschübe, die insbesondere die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisieren, können dies nur partiell verändern, erfassen beispielsweise die immer selbstbewusster agierende Arbeiterklasse nicht hinreichend. Als Tenor scheint in Honneths Beurteilung daher durch, dass sich das Element der Rechtsstaatlichkeit als leichter zu erkämpfen erweist als jenes der demokratischen Partizipation. Neben den begrenzten institutionell-organisatorischen Fortschritten ist es für ihn dann aber der zentrale Gewinn jener Phase, dass eine – wenn auch hegemonial definierte – schichtübergreifend akzeptierte Kultur entsteht, in der die „Mitglieder eines politischen Gemeinswesens [sich] überhaupt als aufeinander bezogene und gegenseitig verpflichtete Staatsbürger“ verstehen können (584). Eine Entwicklung, die Honneth als politisch verstehen will, und von den plumpen Integrationskräften des Nationalismus separiert. Und von der er erwartet, dass sie einen Sozialisationsprozess in Gang setzt, der ein immer offensiveres Einfordern demokratischer Rechte erlaubt.
Nicht die angestoßene evolutionäre Entwicklung, sondern vielmehr der externe Schock des ersten Weltkrieges bewirkt letztlich aber den Schub zur Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaates. Insbesondere die Ausweitung von Staatsaufgaben und die Verbreiterung von Partizipationschancen werden als Folge der die alten Kräfte diskreditierenden Umwälzung gesehen. Ungeachtet des katastrophalen Scheiterns der jungen Demokratien der Zwischenkriegszeit hält Honneth fest, dass der Weg in die Klassengesellschaft zurück danach verbaut ist. Das Scheitern selbst wird – entlang einer Auseinandersetzung von Freud mit Kelsen – nicht mit der Unmöglichkeit erklärt, der Masse Beteiligungschancen zu gewähren – diesbezüglich setzt Honneth mit Kelsen auf die ordnungsstiftende und Rationalität befördernde Kraft von Institutionen –, sondern mit einer Gegenreaktion, die aus der beschleunigten Veränderung resultiert. Die abrupte Durchsetzung der rechtsstaatlich-demokratischen Norm habe starke Gegenkräfte mobilisiert. Konkret benennt Honneth die Radikalisierung des Nationalismus und die Enttäuschungen mit der formalen, nicht aber durchgesetzten Neutralität des Staates. Eine Erklärung, die auch die mangelhafte Verteidigung der neuerrungenen Demokratie umschließen soll. Die fatale Dynamik die letzlich in der nationalsozialistischen Machtergreifung mündet, muss Honneth somit aber nicht selbst als Pathologie erklären, sie stellt einfach das „nicht zu integrierende Andere“ der Entwicklung dar (598).
Erneut von außen durch Krieg beendet, muss Honneth somit auch hier nicht weiter auf die Zäsur des Nationalsozialismus eingehen (vgl. schon die Kritik von Volker), sondern wendet sich sofort wieder der Kontinuitätslinie der sozialen Freiheit zu. Erklären muss er nun hingegen, warum der zweite Anlauf zur Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaats nicht erneut in die selben Problem läuft. Honneth argumentiert, dass die beiden Faktoren, die das Scheitern in der Zwischenkriegszeit bewirkten, sich vor allem durch die fehlenden Gegengewichte so verheerend auswirkten. Die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihrem Fokus auf Stabilität und der Ausweitung der Steuerungskapazitäten und Kontrollfähigkeiten des Staates habe es erlaubt, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Als Beispiel bringt Honneth hier auch die Sicherung von Grundrechten durch völkerrechtliche Überprüfungsmechanismen ins Spiel, was zumindest für die frühe Phase der Nachkriegszeit aber deutlich überinterpretiert erscheint und als Beispiel dafür dienen mag, dass die Rekonstruktion von Kontextfaktoren in ihrer Bedeutung für die Sicherung der Nachkriegsdemokratien zu wenig behandelt wird. Durch die Brille der normativen Rekonstruktion greift Honneth Spezifika heraus, die nicht falsch sein mögen, für sich genommen, aber weder die Widerstandsfähigkeit der neuen Ordnung erklären noch in der Lage sind, den hohen Preis zu benennen, den diese Stabilisierung abverlangte (für den Fall Deutschlands beispielsweise ein stillschweigendes Arrangieren mit weiten Teilen der alten Elite, den bleiernen Konservatismus und den Rückzug ins Private).
Ebenso eigenwillig wie spannend ist der letzte Teil des Kapitels. Dieser umfasst die Phase von der Nachkriegszeit bis heute (symbolisiert durch die europäische Integration). Honneth fokussiert sich hier mehr auf Gegenwartskritik als auf Rekonstruktion, da die in dieser Phase sich vollziehende nahezu vollständige Realisierung der institutionellen Normen sozialer Freiheit im Blick auf die westeuropäischen Staaten zu offensichtlich erscheint. Fokus sozialer Kämpfe sind, nun mehr noch als in den vorangegangenen Phasen, de facto und nicht mehr de iure Exklusionen. Trotzdem erzählt Honneth auch nicht die Geschichte der allmählichen Demokratisierung der Demokratie, sondern er fokussiert stattdessen auf die Enttäuschung mit den heutigen politischen Systemen. Eigentlich sollten diese doch in vollster Blüte stehen, doch erscheinen ihre Errungenschaften fragil.
Als Ausgangspunkt der Erklärung dieser Entzauberung wählt er den liberalen Korporatismus (nebenbei bemerkt: ein sehr deutscher Fokus). Diesen deutet er nicht deliberativdemokratisch als fortgesetzte demokratische Einbeziehung, sondern kritisiert ihn stattdessen mit Blick auf den Kollaps der Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. So werde die Idee des demokratischen Rechtsstaats als Instrument der demokratischen Öffentlichkeit durch übertriebene Nähe gefährdet. Verstärkt wird das Scheitern dieser politischen Form durch die im Zuge von enttäuschten Steuerungshoffnungen einsetzende neoliberale Aushöhlung, die dann durch die Globalisierung ein weiteres Mal überboten wird. In dem allem sieht Honneth die Gründe für ein „erfahrungsgesättigtes Mißtrauen“ (606). Politikverdrossenheit wird also gedeutet als Reaktion auf den geschwächten Staat, der der Aufgabe nicht mehr nachkommt, Instrument der demokratischen Öffentlichkeit zu sein. Bei Honneth bleibt jedoch ein gewisser Optimismus bestehen, da der Ausgang aus den Problemen als bekannt gelten darf. Es ist die demokratische Öffentlichkeit und der ihr nachgeordnete demokratische Rechtsstaat, welche revitalisiert und gegebenenfalls in neue Kontexte (Europa) überführt werden muss. Ein Schritt der sich noch nicht abzeichnet – Honneth geht von einer halbierten, da allein liberalen europäischen Integration aus –, den es aber zu erkämpfen gilt.
Weniger an diese aus der Europadiskussion der neunziger Jahre gut bekannte Argumentationsfigur als an das Gesamtargument des letzten Kapitel möchte ich abschließend noch zwei Anmerkungen richten:
1) Zum einen fällt auf, dass Honneth die das Kapitel einleitende Bestimmung über den demokratischen Rechtsstaat als effektiven Umsetzer der demokratischen Ordnung nicht systematisch weiterverfolgt. Der Begriff der Effektivität wird nicht weiter erklärt. Und dies obwohl klar sein dürfte, dass die Erwähnung des Begriffs im Kontext normativer Demokratietheorie Assoziationen auslöst. Der Verdacht ist hier, dass Honneth mit Effektivität eigentlich nur auf die Leistung der Ordnungsstiftung abzielen möchte, sprich: auf die Herstellung institutioneller Sensibilität zwischen Entscheidungseliten und Öffentlichkeit. Effektivität im Sinne von Output-Legitimität scheint dabei unter der Hand aber gerne mitgekauft zu werden, da sie in Blick auf die Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaats nach 1945 eine große Erklärungskraft besitzt. Die Frage aber, wieso gerade Demokratie und Rechtsstaat effiziente Steuerungsmechanismen sein sollen, wird nicht eigens aufgenommen und das obwohl ihre Beantwortung heute, wo liberale Oligarchien einen starken Aufstieg erleben, nicht mehr als so selbstverständlich gelten kann wie Honneth anzunehmen scheint.
2) Ebenso erstaunlich scheint mir, dass Honneth wenig bis keine Aufmerksamkeit auf die Rekonstruktion der Elemente von Demokratie und Rechtsstaat sowie auf das Verhältnis zwischen diesen legt. Insbesondere mit Blick auf die Institutionen der Demokratie bleibt zu vieles ausgeklammert. So wird zu den Institutionen der Demokratie letztlich nur gesagt, dass er weder einer plebiszitären noch einer repräsentativen Sichtweise nachgeben will, stattdessen die komplexe Verwiesenheit von Öffentlichkeit und staatlichen Repräsentationsinstanzen bevorzugt. Damit geht ein sehr einseitiger Fokus auf den Gesetzgebungsprozess als zu beeinflussendem und Ordnung konstituierendem Aspekt der Demokratie einher. Der sich so einschleichende legislativ-parlamentarische Bias mag zwar normativ gut zu begründen und fest im Mainstream der politischen Philosophie verwurzelt sein. Ob er aber beispielsweise als das passende Modell für die abschließend beschriebenen europäischen Herausforderungen gelten kann, ist fraglich. Die Schwierigkeiten, denen die Idee demokratischer Öffentlichkeit heute gegenübersteht, scheinen weit fundamentaler (wie beispielsweise Nancy Fraser überzeugend herausgearbeitet hat).
Hallo Thorsten, Deinen Punkt zur Output-Legitimität finde ich spannend, weil er auf ein weiterführendes Problem hinweist: für wen ist Demokratie eigentlich wie gerechtfertigt? Kann es sein, dass dies für verschiedene Bevölkerungsteile unterschiedlich ist (z.B. via Output, via Rechte, via Partizipation) – und die Philosophen versuchen, das alles in ein System zu packen und irgendwie kohärent zu machen. Aber könnte es sein, dass die Kombination aus Demokratie und Rechtsstaat, bei all ihren Schwächen, gerade deswegen verhältnismäßig akzeptiert und stabil zu sein scheint, weil sie sehr verschiedene Gruppen aus sehr verschiedenen Gründen überzeugt? (Demokratie-Theoretiker, Ihr wisst da sicher mehr dazu?!)
Das führt dann zu der Frage: wie geht die normative Rekonstruktion damit um? Kann sie diese Stränge alle erfassen? Oder muss sie sich auf einige davon beschränken? Und allgemeiner: wie definiert sich hier die Rolle des Philosophen? Ist es z.B. seine Pflicht, bestimmte Begründungsformen besonders hervorzuheben, weil sie sonst in Vergessenheit geraten könnten?
Vielleicht wäre jetzt der Punkt, sich die ganzen Fragen, die wir zur Methodologie immer wieder diskutiert haben, nochmal vor Augen zu führen!
Hallo Thorsten, hallo Lisa! Vielen Dank für Eure Kommentare. Ich würde gerne einen Punkt aufgreifen, der meiner Meinung im ganzen Abschnitt irgendwie im Hintergrund mitläuft, und der auch schon im letzten Abschnitt eine Rolle gespielt hatte. Volker hatte ja letzte Woche schon auf die zentrale Rolle hingewiesen, die „solidarischen Empfindungen“ bzgl. der integrativen Funktion der demokratischen Öffentlichkeit spielen, und kritisch nachgefragt, woher diese kommen können, wenn eine starke nationale Identität nicht mehr als deren Quelle dienen kann. So wie ich Honneth in diesem Abschnitt verstehe, rekonstruiert er die Entwicklung des Rechtsstaats ja auch zunächst als eine Entwicklung fortschreitender Integration (vgl. 583-586), die letztlich dazu führt, dass – wie Thorsten ja auch schreibt – ein (durch den Rechtsstaat institutionalisiertes) Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zueinander entsteht, innerhalb dessen sie sich „als aufeinander bezogene und gegenseitig verpflichtete Staatsbürger“ (584) verstehen können – wobei es sich gleichzeitig um die Entwicklung einer spezifisch politischen Integration handelt, die ohne Nationalismus als Integrationsquelle auskommt bzw. mit diesem in Konflikt kommen muss. Denn der Pluralität von Interessen, die jetzt in die öffentliche Willensbildung einfließen können, kann ein auf Homogenität abzielender Nationalismus nicht mehr gerecht werden (vgl. 593). Meines Erachtens macht Honneth aber schon hier nicht deutlich, woraus genau sich diese neue Form der Integration speist bzw. wie es gelingt, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Pluralität eine demokratische Öffentlichkeit als Gegenmacht zum politischen System zu etablieren – was aber umso wichtiger gewesen wäre, da ja diese Phase als als eine Art Erfüllung des Ideals demokratischer Öffentlichkeit erscheint. Am Ende des Abschnitts konstatiert Honneth ja auch, dass wir heute hinter dieses Ideal zurückgefallen sind, da „der Herausbildung einer öffentlichen, vielstimmigen Gegenmacht inzwischen als ein Hindernis entgegen [steht], dass die dafür erforderlichen Ressourcen einer gemeinsamen Hintergrundkultur allmählich zu versiegen beginnen“ (609), und sich dieses Problem mit Blick auf die EU zusätzlich verschärft. Somit braucht man letztlich sowohl auf staatlicher als auch auf EU-Ebene „alternative Quellen des staatsbürgerlichen Solidarität“ (609; vgl. auch 612).
Um diesen schlecht strukturierten Wust zusammenzufassen: Was meiner Meinung also die ganze Zeit im Hintergrund mitläuft, ist die Idee, dass eine demokratische Öffentlichkeit (und deren gelingendes Verhältnis zum Rechtsstaat) nur dann möglich ist, wenn zwischen den Bürgerinnen und Bürgern eine Form von Solidarität herrscht. Wurde diese anfangs durch einen nationalistischen Zusammenhalt gespeist, folgte darauf offenbar eine Phase einer ‚echten‘ politischen Solidarität (über die wir aber, wie gesagt, wenig erfahren), während heute neue Quellen notwendig sind (mehr dazu dann ja noch im allerletzten Teil des Buches). Um überhaupt eine Idee davon zu bekommen, wie diese Quellen aussehen könnten, würde ich – mit Volker – aber zunächst gerne genauer wissen, was überhaupt eine solche Solidarität idealerweise ausmacht. Anknüpfend an Lisas erneute Frage nach der Methodologie würde ich außerdem fragen, inwiefern es sich bei den von Honneth rekonstruierten Formen von Solidarität bzw. bürgerlicher Integration um historisch kontingente bzw. in hohem Maße kontextabhängige Phänomene handelt, bzw. inwiefern auch hier ein normativer Kern ausgemacht werden kann, der auch unabhängig (z.B. von einer geteilten, homogenen Identität der Bürgerinnen und Bürger) normative Geltung besitzt? (Entschuldigung an dieser Stelle dafür, dass dieser Kommentar so lang und konfus ist.)
Hallo Andreas, Solidarität im Sinne gegenseitiger Anerkennung als gleichberechtigte Bürger setzt Honneth immer voraus, oder? Die Frage wäre, ob Du den Solidaritätsbegriff anders oder stärker verwenden willst. Das müsstest Du noch etwas präzisieren, glaube ich.
Um nochmal auf meinem vorherigen Punkt herumzuhacken: meine Frage war eben, ob diese Anerkennung oder Solidarität oder wie auch immer, die normativ irgendwie am bedeutendsten zu sein scheint, auf einer empirischen Ebene nur eine von vielen Motivationen sein könnte, warum Menschen den demokratischen Rechtsstaat befürworten, und es möglicherweise viele andere gibt. Beim Markt sind es für Honneth ja immerhin zwei Felder: die Konsumsphäre und die Sphäre des Arbeitsmarktes. Ich frage mich, ob man nicht auch in der Politik so etwas wie Bürger als Konsumenten von Politik und Bürger als aktive Mitgestalter von Politik unterscheiden könnte – und möglicherweise noch andere Punkte. Ich sehe aber durchaus auch das Problem, dass die sowieso schon sehr komplexe Darstellung dadurch noch komplizierter werden würde. Aber könnte man die gegenwärtige Phase nicht auch unter dem Blickwinkel beschreiben, dass die Bürger als Konsumenten von rechtsstaatlicher Politik noch einigermaßen zufrieden sind (zumindest gibt es keine großen revolutionären Tendenzen), aber mit der aktiven Mitgestaltung seiht es, auch aufgrund von EU etc., schwierig aus…. Oder wandele ich hier gerade auf ganz anderen Pfaden als Honneth? Aber Andreas‘ Frage nach Formen von Solidarität könnte man vielleicht auch in diese Richtung verstehen, oder? In welcher Form ist heute noch diese Solidarität da, und in welcher möglicherweise nicht mehr?
Liebe Lisa, lieber Andreas, zunächst Danke für eure beiden Anmerkungen. Mit beiden liege ich glaube ich gut auf Linie, daher hier nur noch zwei anschließende Beobachtungen, die nicht völlig zu Ende gedacht sind, die uns aber evtl. weiter auf die Spur bringen.
@lisa zu demokratietheorie: Dass die Zustimmungsgründe in einer Demokratie sich sicherlich aus sehr vielen Momenten speisen (von der Akzeptanz des Mehrheitsvotums über Garantien von individuellen Rechten über solidarische Momente hin zu Erwartungen besonderer Rationalität oder Verteilungsgerechtigkeit) ist in meinen Augen für die Demokratietheorie wie für die normative Rekonstruktion zunächst unproblematisch, weswegen ich die Wendung von der Effektivität ja erstmal als catch-all Phrase gelesen habe und dann nur ihre empirische Validität in Hinblick auf ein stärker funktionalistisches Kriterium und veränderte Wirtschaftsbedingungen angezweifelt habe. Die normative Rekonstruktion scheint mir dabei als Methode nicht politologisch interessiert genug, um Probleme mit der Varianz von Zustimmungsgründen zu haben. Vielmehr wird nur auf der Ebene von Prinzipien und Großbegriffen gearbeitet, was auch erklärt, dass sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so einfach zusammendenken lassen und Spannungen und Paradoxien gar nicht groß thematisiert werden. Auch müsste man wohl sonst auch darauf eingehen, wie konkret Demokratie und Rechtsstaatlichkeit organisiert sind, da mir die ‚varieties of democracy‘ als zu groß erscheinen, um einfach Aussagen über die Akzeptanz der Prinzipien zu erklären. Dass Demokratie sich als universaler Wert zumindest seit Ende des zweiten Weltkriegs durchgesetzt hat, scheint mir dabei überwiegend am Ausweiten der mit dem Begriff assoziierten Mechanismen zu liegen und eine immer stärkere Verlagerung in die Ebene der prinzipiellen Grundbegriffe. Auch ein Versuch einer Rekonstruktion, aber sehr viel detaillierter durchgeführt ist dabei übrigens John Dunns tolles Buch „The Story of Democracy“.
Was du am Ende schreibst, dass die Zustimmungswerte für den demokratischen Rechtsstaat sich sehr nach dem Leistungsbereich unterscheiden, stimmt übrigens sicherlich. In der Hinsicht auf Zuverlässigkeit, Rechtsstaatssicherung und so, steht die EU und ihre Institutionen übrigens in vielen Messungen nicht schlechter, sondern eher besser als der Nationalstaat da und dass nicht nur in Peripheriestaaten, sondern nicht ganz selten auch im Kern. Aber das zeigt eher wie weit die Konzepte von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auseinanderstehen. Empirische Legitimität/Akzeptanz sollte nach meinem Gefühl aus der normativen Rekonstruktion aber möglichst weit herausgehalten werden, zumal sie mir nicht so viel mit Solidarität zwischen den Bürgern zu tun zu haben scheint wie mit systemisch-institutionellen Variablen, die hier aber nach meiner Auffassung ja eher übergangen werden.
@andreas zu sich verlierende Akzeptanz: Eine Beobachtung, die ich lange in meinem Text hatte, dann aber doch wieder rausgenommen habe, ist, dass Honneth sich hier eigentlich ziemlich nah an der Postdemokratiehypothese bewegt, so wie Crouch sie formuliert. Auch dort wird – wenn ich es richtig erinnere – ja eine Parabel beschrieben, wo ein Moment stärkster Demokratie irgendwo zwischen den 60er und späten 70er Jahren eintritt. Scheint mir bei Honneth ähnlich gedacht, da auch ihm Elemente wie ein relativ starker und festgefügt/handlungsfähiger Staat und eine einheitliche Medienöffentlichkeit für die Auszeichnung als Demokratie zentral zu sein scheinen. Zugleich werden die Gesellschaften als aktive und politische erinnert, die zudem dann einen irgendwie verfassungspatriotischen Hintergrund haben, jedenfalls nicht plump nationalistisch sind. Solche Diagnosen lese ich immer als eine relativ nostalgische und pauschale Verklärung, wie mir das ganze Konzept von Solidarität und Gesellschaften und einem stark inkludierenden Bürgerdenken immer recht romantisch erscheint. Daraus folgt zwar nichts in Blick auf deine Forderung, dass das neue Konzept – und besonders die alternative Quelle der Solidarität – besser ausgearbeitet werden müsste, aber es ergibt sich vielleicht, dass der ganze Sprachgebrauch hier etwas zu sehr aufgeladen ist und wie schon mit Blick auf den Kommentar zu Lisa, viel mehr über das Verhältnis Bürger zu Institutionen als über das Verhältnis Bürger-Bürger-Öffentlichkeit nachgedacht werden sollte.
Soviel als recht unsortierte Ergänzungen, würde mich interessieren, wie die anderen das sehen.