theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (11): Soziale Freiheit verwirklichen – Zu Axel Honneths Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaats

21. Februar 2012, Thiel

Wie Volker im vorangegangenen Beitrag herausgestellt hat, kommt dem „Wir“ der demokratischen Willensbildung in Honneths Theorie eine zentrale Rolle zu. Während Honneth in dem Kapitel über die demokratische Öffentlichkeit gezeigt hat, wie das demokratische Wir sich konstituiert, stellt er im Kapitel über den demokratischen Rechtsstaat die Frage, wie die demokratische Öffentlichkeit sich institutionalisieren lässt, sprich: sich als politische Ordnung realisiert, erhält und handelt.

Dem Generalplan des Buches folgend geschieht auch dies durch eine normative Rekonstruktion. Im Vergleich zu den vorangegangenen Kapiteln aber eine, die stärker historisch als ideengeschichtlich angelegt ist. Gegenstand ist der demokratische Rechtsstaat und Honneth macht unmittelbar klar, dass damit weder der Staat als Allgemeines noch gar eine einzelne Nation herausgehoben werden soll. Die Absicht ist vielmehr, den normativen Gehalt aus der Abhängigkeit von der Idee der demokratischen Öffentlichkeit heraus zu bestimmen. Eingeführt wird der demokratische Rechtsstaat daher auch ganz lapidar als „sechste Bedingung“ der demokratischen Öffentlichkeit.  Er ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die politische Ordnungsform, die es erlaubt, die Effektivität selbstbestimmten Handelns einer demokratischen Öffentlichkeit sicherzustellen. Der Staat wird als Instrument gesehen, welches die „Willensbildung der Bürgerschaft zugleich vorauszusetzen, zu schützen und umzusetzen“ hat (569).

Nur kurz verteidigt Honneth zum Auftakt des Kapitels, dass auch beim Blick auf den Staat die Methode der normativen Rekonstruktion durchgehalten wird. Wer gleich mit der „realistischen“ Kritik der Staatsgewalt einsetze, verpasse den Zusammenhang von Demokratie, Staat und Öffentlichkeit. Erst von diesem aus aber lasse sich die Kritik an den Zweckentfremdungen des dem Staat übertragenen Gewaltmonopols begründen. Es sei daher nicht idealisierend, wenn man den Staat zunächst in seinen demokratischen Potentialen zu erfasse suche – dies zumal deshalb, da die normative „Idee einer Verankerung des Rechtsstaates in den kommunikativen Willensbildungen seiner Bürgerinnen und Bürger“ eine „historisch längst institutionalisierte und insofern legitimationswirksame Richtschnur“ sei (570).

Die sodann einsetzende Erzählung von der Herausbildung des demokratischen Rechtsstaats nimmt ihren Ausgangspunkt in der für die Etablierung des modernen Freiheitsideals so zentralen Phase des Übergangs von der absolutistischen Monarchie zum modernen Verfassungsstaat. Honneths Rekonstruktion behandelt das lange 19. Jahrhundert als einen kontinuierlichen, aber sehr langsamen und letztlich unvollständig bleibenden Abkoppelungsprozess der demokratischen von der absolutistischen Staatsidee. In dieser Phase zeigt sich zwar die Wirkkraft der Idee der sozialen Freiheit in der allmählichen Ausweitung und dem Schutz von Beteiligungsmöglichkeiten, doch die Beharrungskräfte im Zentrum der politischen Macht sind zu groß. So kommt es zur Etablierung von Voraussetzungen moderner demokratischer Staatlichkeit – wie der Professionalisierung der Bürokratie oder der Etablierung der Institutionen der Gewaltenteilung –, doch die Realität von Klassenprivilegien bleibt bestehen. Auch Parlamentarisierungsschübe, die insbesondere die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisieren, können dies nur partiell verändern, erfassen beispielsweise die immer selbstbewusster agierende Arbeiterklasse nicht hinreichend. Als Tenor scheint in Honneths Beurteilung daher durch, dass sich das Element der Rechtsstaatlichkeit als leichter zu erkämpfen erweist als jenes der demokratischen Partizipation. Neben den begrenzten institutionell-organisatorischen Fortschritten ist es für ihn dann aber der zentrale Gewinn jener Phase, dass eine – wenn auch hegemonial definierte – schichtübergreifend akzeptierte Kultur entsteht, in der die „Mitglieder eines politischen Gemeinswesens [sich] überhaupt als aufeinander bezogene und gegenseitig verpflichtete Staatsbürger“ verstehen können (584). Eine Entwicklung, die Honneth als politisch verstehen will, und von den plumpen Integrationskräften des Nationalismus separiert. Und von der er erwartet, dass sie einen Sozialisationsprozess in Gang setzt, der ein immer offensiveres Einfordern demokratischer Rechte erlaubt.

Nicht die angestoßene evolutionäre Entwicklung, sondern vielmehr der externe Schock des ersten Weltkrieges bewirkt letztlich aber den Schub zur Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaates. Insbesondere die Ausweitung von Staatsaufgaben und die Verbreiterung von Partizipationschancen werden als Folge der die alten Kräfte diskreditierenden Umwälzung gesehen. Ungeachtet des katastrophalen Scheiterns der jungen Demokratien der Zwischenkriegszeit hält Honneth fest, dass der Weg in die Klassengesellschaft zurück danach verbaut ist. Das Scheitern selbst wird – entlang einer Auseinandersetzung von Freud mit Kelsen – nicht mit der Unmöglichkeit erklärt, der Masse Beteiligungschancen zu gewähren – diesbezüglich setzt Honneth mit Kelsen auf die ordnungsstiftende und Rationalität befördernde Kraft von Institutionen –, sondern mit einer Gegenreaktion, die aus der beschleunigten Veränderung resultiert. Die abrupte Durchsetzung der rechtsstaatlich-demokratischen Norm habe starke Gegenkräfte mobilisiert. Konkret benennt Honneth die Radikalisierung des Nationalismus und die Enttäuschungen mit der formalen, nicht aber durchgesetzten Neutralität des Staates. Eine Erklärung, die auch die mangelhafte Verteidigung der neuerrungenen Demokratie umschließen soll. Die fatale Dynamik die letzlich in der nationalsozialistischen Machtergreifung mündet, muss Honneth somit aber nicht selbst als Pathologie erklären, sie stellt einfach das „nicht zu integrierende Andere“ der Entwicklung dar (598).

Erneut von außen durch Krieg beendet, muss Honneth somit auch hier nicht weiter auf die Zäsur des Nationalsozialismus eingehen (vgl. schon die Kritik von Volker), sondern wendet sich sofort wieder der Kontinuitätslinie der sozialen Freiheit zu. Erklären muss er nun hingegen, warum der zweite Anlauf zur Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaats nicht erneut in die selben Problem läuft. Honneth argumentiert, dass die beiden Faktoren, die das Scheitern in der Zwischenkriegszeit bewirkten, sich vor allem durch die fehlenden Gegengewichte so verheerend auswirkten. Die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihrem Fokus auf Stabilität und der Ausweitung der Steuerungskapazitäten und Kontrollfähigkeiten des Staates habe es erlaubt, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Als Beispiel bringt Honneth hier auch die Sicherung von Grundrechten durch völkerrechtliche Überprüfungsmechanismen ins Spiel, was zumindest für die frühe Phase der Nachkriegszeit aber deutlich überinterpretiert erscheint und als Beispiel dafür dienen mag, dass die Rekonstruktion von Kontextfaktoren in ihrer Bedeutung für die Sicherung der Nachkriegsdemokratien zu wenig behandelt wird. Durch die Brille der normativen Rekonstruktion greift Honneth Spezifika heraus, die nicht falsch sein mögen, für sich genommen, aber weder die Widerstandsfähigkeit der neuen Ordnung erklären noch in der Lage sind, den hohen Preis zu benennen, den diese Stabilisierung abverlangte (für den Fall Deutschlands beispielsweise ein stillschweigendes Arrangieren mit weiten Teilen der alten Elite, den bleiernen Konservatismus und den Rückzug ins Private).

Ebenso eigenwillig wie spannend ist der letzte Teil des Kapitels. Dieser umfasst die Phase von der Nachkriegszeit bis heute (symbolisiert durch die europäische Integration). Honneth fokussiert sich hier mehr auf Gegenwartskritik als auf Rekonstruktion, da die in dieser Phase sich vollziehende nahezu vollständige Realisierung der institutionellen Normen sozialer Freiheit im Blick auf die westeuropäischen Staaten zu offensichtlich erscheint. Fokus sozialer Kämpfe sind, nun mehr noch als in den vorangegangenen Phasen, de facto und nicht mehr de iure Exklusionen. Trotzdem erzählt Honneth auch nicht die Geschichte der allmählichen Demokratisierung der Demokratie, sondern er fokussiert stattdessen auf die Enttäuschung mit den heutigen politischen Systemen. Eigentlich sollten diese doch in vollster Blüte stehen, doch erscheinen ihre Errungenschaften fragil.

Als Ausgangspunkt der Erklärung dieser Entzauberung wählt er den liberalen Korporatismus (nebenbei bemerkt: ein sehr deutscher Fokus). Diesen deutet er nicht deliberativdemokratisch als fortgesetzte demokratische Einbeziehung, sondern kritisiert ihn stattdessen mit Blick auf den Kollaps der Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. So werde die Idee des demokratischen Rechtsstaats als Instrument der demokratischen Öffentlichkeit durch übertriebene Nähe gefährdet. Verstärkt wird das Scheitern dieser politischen Form durch die im Zuge von enttäuschten Steuerungshoffnungen einsetzende neoliberale Aushöhlung, die dann durch die Globalisierung ein weiteres Mal überboten wird. In dem allem sieht Honneth die Gründe für ein „erfahrungsgesättigtes Mißtrauen“ (606). Politikverdrossenheit wird also gedeutet als Reaktion auf den geschwächten Staat, der der Aufgabe nicht mehr nachkommt, Instrument der demokratischen Öffentlichkeit zu sein. Bei Honneth bleibt jedoch ein gewisser Optimismus bestehen, da der Ausgang aus den Problemen als bekannt gelten darf. Es ist die demokratische Öffentlichkeit und der ihr nachgeordnete demokratische Rechtsstaat, welche revitalisiert und gegebenenfalls in neue Kontexte (Europa) überführt werden muss. Ein Schritt der sich noch nicht abzeichnet – Honneth geht von einer halbierten, da allein liberalen europäischen Integration aus –, den es aber zu erkämpfen gilt.

Weniger an diese aus der Europadiskussion der neunziger Jahre gut bekannte Argumentationsfigur als an das Gesamtargument des letzten Kapitel möchte ich abschließend noch zwei Anmerkungen richten:

1) Zum einen fällt auf, dass Honneth die das Kapitel einleitende Bestimmung über den demokratischen Rechtsstaat als effektiven Umsetzer der demokratischen Ordnung nicht systematisch weiterverfolgt. Der Begriff der Effektivität wird nicht weiter erklärt. Und dies obwohl klar sein dürfte, dass die Erwähnung des Begriffs im Kontext normativer Demokratietheorie Assoziationen auslöst. Der Verdacht ist hier, dass Honneth mit Effektivität eigentlich nur auf die Leistung der Ordnungsstiftung abzielen möchte, sprich: auf die Herstellung institutioneller Sensibilität zwischen Entscheidungseliten und Öffentlichkeit. Effektivität im Sinne von Output-Legitimität scheint dabei unter der Hand aber gerne mitgekauft zu werden, da sie in Blick auf die Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaats nach 1945 eine große Erklärungskraft besitzt. Die Frage aber, wieso gerade Demokratie und Rechtsstaat effiziente Steuerungsmechanismen sein sollen, wird nicht eigens aufgenommen und das obwohl ihre Beantwortung heute, wo liberale Oligarchien einen starken Aufstieg erleben, nicht mehr als so selbstverständlich gelten kann wie Honneth anzunehmen scheint.

2) Ebenso erstaunlich scheint mir, dass Honneth wenig bis keine Aufmerksamkeit auf die Rekonstruktion der Elemente von Demokratie und Rechtsstaat sowie auf das Verhältnis zwischen diesen legt. Insbesondere mit Blick auf die Institutionen der Demokratie bleibt zu vieles ausgeklammert. So wird zu den Institutionen der Demokratie letztlich nur gesagt, dass er weder einer plebiszitären noch einer repräsentativen Sichtweise nachgeben will, stattdessen die komplexe Verwiesenheit von Öffentlichkeit und staatlichen Repräsentationsinstanzen bevorzugt. Damit geht ein sehr einseitiger Fokus auf den Gesetzgebungsprozess als zu beeinflussendem und Ordnung konstituierendem Aspekt der Demokratie einher. Der sich so einschleichende legislativ-parlamentarische Bias mag zwar normativ gut zu begründen und fest im Mainstream der politischen Philosophie verwurzelt sein. Ob er aber beispielsweise als das passende Modell für die abschließend beschriebenen europäischen Herausforderungen gelten kann, ist fraglich. Die Schwierigkeiten, denen die Idee demokratischer Öffentlichkeit heute gegenübersteht, scheinen weit fundamentaler (wie beispielsweise Nancy Fraser überzeugend herausgearbeitet  hat).

 

[Gesamtüberblick über den Lesekreis]


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