Am 16./17. September hat sich die DVPW-Themengruppe „Transkulturell vergleichende Politische Theorie“ im Zuge einer Gründungstagung in Göttingen offiziell konstituiert. Die Themengruppe möchte zukünftig denjenigen WissenschaftlerInnen, in deren Arbeit der transkulturelle Theorievergleich im Mittelpunkt steht, eine Plattform innerhalb der deutschen Politikwissenschaft bieten. Inhaltlich bildete die Beschäftigung mit „westlichen Konzepten im nicht-westlichen Diskurs“ den Auftakt für die Arbeit in der Themengruppe.
Mit der Gründung der neuen DVPW-Themengruppe wurde ein wichtiger, bisher innerhalb der institutionalisierten deutschen Politikwissenschaft fehlender Arbeitskontext für die Auseinandersetzung mit politischem Denken, das die Grenzen des westlichen ‚Kanons’ überschreitet oder sich jenseits davon bewegt, geschaffen. Im Rahmen dieses neuen Kontexts soll, im Geiste der Comparative Political Theory (siehe Dallmayr 2010), die vergleichende Analyse politischer Ideen in unterschiedlichen Kulturkreisen im Mittelpunkt stehen, wobei das Augenmerk besonders auf transkulturellen Wechselwirkungen und Verflechtungsprozessen liegt. Im Vergleich zu der dominanten liberalen Politischen Theorie Kantischer Prägung einerseits und den starken Gegenstrebungen im Bereich der postkolonialen Theorien andererseits, stellt die neue Themengruppe zur transkulturell vergleichenden Politischen Theorie ein Forum dar, das für verschiedene Ansätze und Methoden offen ist. Die Themengruppe will über die Grenzen bestimmter „Schulen“ hinweg Diskussion und Austausch über politische Ideen, die in unterschiedlichen Kulturkreisen beheimatet sind, sowie deren Rezeption und kreative Aneignung in anderen kulturellen Kontexten ermöglichen. Als SprecherInnen der Gruppe wurden Holger Zapf (Göttingen), Alexander Weiß (Hamburg), Sybille De La Rosa (Kassel) und Sophia Schubert (Stuttgart) gewählt.
Holger Zapf, der Organisator der Tagung, unterschied in seiner Einführung zwischen einer „dialogischen“ und einer „analytischen“ Form von transkulturell vergleichender Politischer Theorie. Das dialogische Vorgehen könne nach Gadamers Idee einer Horizontverschmelzung vorgestellt werden, d.h. die Revidierung der eigenen Position im Zuge des Verstehensprozesses wird hier zentraler Teil des Forschungsprogramms, dessen Ziel in einer gegenseitigen Annäherung besteht. Demgegenüber gehe es bei dem analytischen Ansatz zunächst darum, „das Fremde aus sich heraus zu verstehen“. Der Wandel eigener Annahmen und Ideen tritt hier – wenn überhaupt – nur als ein Nebeneffekt des Verstehens auf. Die Idee des ‚Dialogs‘ wurde im Zuge der Tagung immer wieder aufgegriffen: Im Rahmen einer Politischen Theorie, die einerseits der Vorstellung universalistischer (Vernunft-)Wahrheiten angesichts der unhintergehbaren Vielfalt von Vorstellungen über den Menschen und seine Stellung in und Beziehung zu der natürlichen und der sozialen Welt skeptisch gegenüber steht, andererseits aber in Anbetracht vielfältiger transkultureller Verflechtungen auch nicht von einer radikalen Heterogenität und Inkommensurabilität von Kulturen ausgeht, ist der ‚Dialog‘ als eine Schlüsselidee zu betrachten.
Für das aus den Postcolonial Studies (siehe Conrad/Randeria 2002) und aus der Histoire Croisée (siehe Werner/Zimmermann 2002) bekannte Konzept der Verflechtung, das in mehreren Vorträgen eine Rolle spielte, machte sich besonders Alexander Weiß (Hamburg) stark. Dieser plädierte im Hinblick auf die Entstehung von Ideen, wie den Menschenrechten oder Säkularismus, für die Wiederaufnahme globalgeschichtlicher Betrachtungen, wie sie vor der Engführung von Geschichte auf Nationalgeschichte im 19. Jahrhundert üblich waren. Eine konsequente Auffassung von Verflechtung vertrat auch Taylan Yildiz (Würzburg), der argumentierte, in Prozessen der Rezeption, Imitation, Aneignung und Adaption von Ideen, Techniken und Praxisformen würden deren Ursprünge „transzendiert“, so dass schließlich nicht mehr z.B. von einem „ursprünglich westlichen Konzept“ gesprochen werden könne.
Weitere Grundsatzfragen, die im Rahmen der Tagung erörtert wurden, waren das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus bzw. Kulturrelativismus sowie die Frage nach den Möglichkeiten von Übersetzung und Repräsentation. Im Hinblick auf Universalismus und Kulturrelativismus wandte Janne Mende (Gießen) sich gegen deren Darstellung als zwei gegensätzliche Pole und argumentierte, beide Positionen enthielten bereits ihren Gegenpart: Der Anspruch des Universalismus, Differenzen nicht zu negieren und zu ignorieren, sei dessen kulturrelativistisches Gesicht, während die für den Kulturrelativismus charakteristische Forderung nach Respekt für die differenten Traditionen unterschiedlicher Kulturen dessen universalistischen Impetus offenbare. Jeanette Ehrmann (Frankfurt/M.) referierte über die Haitianische Revolution „als Ereignis und Kritik der europäischen Aufklärung“ und beschrieb Übersetzung in diesem Zusammenhang als ein „Werkzeug des Kolonialismus“, also als eine Technik zur Etablierung kolonialer Herrschaft, die allerdings auch subversiv zu einer Widerstandsstrategie gewendet werden könne. Sybille De La Rosa (Kassel) thematisierte in ihrem Vortrag die Probleme, die im Zusammenhang mit der Repräsentation und Behandlung von lokalen AkteurInnen durch Menschenrechtsorganisationen auftreten. Sie unterschied dabei zwischen einer „instrumentell-verdinglichenden“ und einer „freiwillig-dialogischen“ Aneignung von Menschenrechten. Während den lokalen AkteurInnen im ersten Fall eine Veränderung ihres Selbstverständnisses entlang liberaler Vorstellungen von individuellen RechtsträgerInnen aufgedrängt wird, wird im zweiten Fall im Dialog mit den Betroffenen für ein gegebenes Problem (z.B. Misshandlung) eine mit den lokalen Verhältnissen kompatible (z.B. die Angewiesenheit der AkteurInnen auf ihre familiäre Einbindung berücksichtigende) Lösung ausgearbeitet (z.B. lokale Schlichtungsinstanzen, wie die Frauengerichte in Indien).
Weitere Vorträge thematisierten zentrale politiktheoretische Konzepte in transkultureller Perspektive: Ulrike Spohn (Münster) – full disclosure: die Verfasserin dieses Berichts – gab einen Einblick in die aktuelle Debatte über Säkularismus in der Politischen Theorie. Sie stellte den dominanten liberalen Theorien des säkularen Staates alternative Interpretationen von Säkularismus gegenüber und erläuterte deren Verankerung in einer transkulturellen Perspektive. Der Vortrag von Lino Klevesath (Göttingen) behandelte die Diskussion des Konzepts der Religionsfreiheit in den Schriften von Denkern, die innerhalb des (weiten) Spektrums des Politischen Islams zu verorten sind, und Sophia Schubert (Stuttgart) stellte die Ergebnisse einer quantitativen Studie zum Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚Demokratie‘ in verschiedensten Ländern rund um den Globus vor. Stefan Saracino (München) behandelte in seinem Vortrag die Politische Ethik im altrömischen und altchinesischen Denken und Ulf Kemper (Duisburg-Essen) thematisierte den Zusammenhang von Eurozentrismus und Anthropozentrismus. Jörn Knobloch (Potsdam) und Stefan Skupien (Berlin) referierten über die Rezeption des Liberalismus in Russland (Knobloch) respektive der Konsensdemokratie Arendt Lijpharts in Ghana (Skupien). Boris Niclas-Tölle (Bremen) gab einen Einblick in indische Sozialismen zwischen 1947 bis 1962, Tobias Berger (Berlin) präsentierte Überlegungen zur Erforschung des Rechtsstaatsprinzips in Bangladesh und Sênami Parfait Bokohonsi (Frankfurt/M.) beschrieb Vodún als Praxis zwischen Religion und Politik in Afrika.
Die nächste Tagung der Themengruppe (in Kooperation mit dem AK „Politik und Religion“ und der Hanns-Seidel-Stiftung) findet vom 19.-21. April 2012 in Wildbad Kreuth zum Thema „Demokratie und Islam“ statt. Für den DVPW-Kongress 2012 in Tübingen plant die Gruppe ein Panel unter der Überschrift „Zwischen Emanzipationshoffnung und erwarteter Enttäuschung. Demokratie in nicht-westlichen politischen Diskursen“. Im ersten Fall läuft der Call for Papers bis zum 31. Dezember 2011 und im zweiten Fall bis zum 1. März 2012. Infos zu den Tagungen und Ansprechpartnern finden sich im aktuellen DVPW-Rundbrief.
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