Dolf Sternberger und das Grundgesetz als „lebende Verfassung“  

Nachdem Alexander Gallus gestern die kritischen intellektuellen Stimmen präsentiert hat, die den Prozess der Grundgesetzentstehung auch begleiteten, widmet sich Jens Hacke im zweiten Blogbeitrag zum Jubiläum der Verkündigung des Grundgesetzes in besonderer Weise Dolf Sternberger und der Entwicklung seines Verhältnisses zum Grundgesetz.

Kaum ein Begriff ist so eng mit dem Grundgesetz verwoben wie derjenige des Verfassungspatriotismus. Dolf Sternberger hatte ihn in seinem gleichnamigen FAZ-Leitartikel zum 30. Jahrestag im Jahr 1979 öffentlichkeitswirksam geprägt – bevor Jürgen Habermas in den 1980er Jahren zu seiner weiteren Verbreitung beigetragen hat. Bekanntlich bereitete er mit seinem Bekenntnis zum Verfassungspatriotismus seine Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates vor, die er in Faktizität und Geltung ausarbeiten sollte. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass der Aristoteliker Sternberger im Unterschied zu Habermas ein zugänglicheres, auf die Einübung demokratischer Lebensformen orientiertes Konzept verfolgte. In der Tat hatte Sternberger die Idee des Verfassungspatriotismus schon früh entwickelt. Sie begleitet die Gründungs- und Formationsphase der Bundesrepublik und findet sich bei ihm gebündelt in der Vorstellung einer „lebenden Verfassung“. Sternbergers flexibles Verständnis einer im besten Sinne „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ absolvierte dabei bestimmte Anpassungsprozesse, die Aufschluss über Lernerfahrungen geben.

Kontroverse mit Theodor Heuss

In einem einsatzfreudigen Beitrag mit dem Titel „Demokratie der Furcht oder Demokratie der Courage“, der 1949 in der Monatsschrift Die Wandlung erschien und die Debatte um die Entstehung der westdeutschen Verfassung begleitete, tritt der 41-jährige Journalist Sternberger noch als entschiedener Streiter für unbeschränkte Meinungsfreiheit auf. Er kritisierte darin scharf die restriktiven Pressegesetze in den Landesverfassungen und warnte davor, unliebsame Meinungen zu verbieten. Sternberger präsentierte sich als radikaler Pluralist, der es ablehnte, den politischen Meinungsstreit vorzeitig zu regulieren: „Angst ist der schlechteste Lehrmeister. […] Traut man sich selbst etwas zu, so gibt es eine Sicherung, die einzig mögliche: den positiven Gebrauch der Freiheit.“ (H. 1, S. 8f.)

Kurioserweise richtete sich Sternbergers Kritik auch gegen den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss, in dessen „gemütlich-lässigen Plaudereien“ er eine Strategie zur Verhinderung von notwendigen Auseinandersetzungen sah. Heuss war ihm als Vertreter der Liberalen aus zwei wesentlichen Gründen ein Dorn im Auge: Seine Handlungsmacht im Parlamentarischen Rat gewann er zum einen „nur durch die Funktion einer kleinen Parteigruppe als Zünglein an der Waage“ – dies widersprach Sternbergers Vorliebe für ein Mehrheitswahlrecht mit klaren, durch Personenwahl legitimierten Verhältnissen. Zum anderen störte sich Sternberger an Heuss‘ Fixierung auf Ausgleich und Kompromiss. Dass Sternberger daneben die demokratische Legitimität des Parlamentarischen Rates infragestellte, demonstriert Züge seines liberaldemokratischen Idealismus, von dem er sich später leise und fast unbemerkt distanzierte.

Die Entgegnung geriet für Heuss‘ Verhältnisse schneidend scharf. Nicht nur warf er Sternberger, ebenfalls 1949 in Die Wandlung, die Verantwortungslosigkeit eines politisierenden Intellektuellen vor. Vielmehr stellte er eine Verbindung zum Freund/Feind-Denken Carl Schmitts her, und dieser Vorwurf musste Sternberger besonders treffen, war doch der Kronjurist des „Dritten Reiches“ sein bevorzugter Antipode, an dem er sich zeitlebens abarbeitete. Heuss machte selbstbewusst deutlich, dass der Konsens über die Verfassung erst den grundlegenden Rahmen herstellt, innerhalb dessen dann Interessen- und Meinungskonflikte auszutragen seien. Dieses Argument machte ihn zum klaren Punktsieger gegenüber seinem Kritiker. Auch wenn Sternberger es nie zugab, so hatte er diese Auseinandersetzung verloren und musste Lehrgeld zahlen.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet dem Erfinder des Verfassungspatriotismus vom späteren Staatsoberhaupt der rechte Weg gewiesen werden musste. Sternberger hat dies im Nachhinein wohl selbst so gesehen, denn er strich die Heuss-Passage in späteren Nachdrucken des Aufsatzes. Er bemühte sich um Versöhnung, als er in seiner ersten politikwissenschaftlichen Monografie die Verdienste von Heuss‘ Amtsführung hervorhob und dem Bundespräsidenten ein Exemplar seines Buches „Lebende Verfassung“ zusandte.

Wehrhafte Demokratie

Dass Sternberger in diesen frühen Jahren selbst schwankte und dass sein moralischer Rigorismus nicht immer mit staatsrechtlichen Verfassungsschutzkonzepten harmonierte, belegt wiederum sein offensives Bekenntnis zur wehrhaften Demokratie. In ebenso entschiedenen wie auf Klassizität zielenden Formeln, deren Anfangssentenz dem Jakobiner Saint Just zugeschrieben wird, machte Sternberger 1945/1946 die Eindringlichkeit seines politischen Erziehungswillens deutlich: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Keine Duldung für die Feinde der Duldung! Kein Kompromiss mit den Feinden des Kompromisses! Kein gleiches Recht für die Feinde gleichen Rechtes!“ (H. 7, S. 568f.) Denkt man diese robuste Wehrhaftigkeit zu Ende, so scheint die Attacke gegen Heuss‘ Ringen um den verfassungsbegründenden überparteilichen Kompromiss fehlgeleitet, während die von Sternberger an anderer Stelle beschworene „Demokratie der Courage“, die alle möglichen Meinungsäußerungen aushalten soll, den oben zitierten Wehrhaftigkeitsformeln zuwiderläuft.

Man muss in dieser Gegenüberstellung von Positionen keinen grundlegenden Widerspruch sehen, vielleicht eher das Bemühen, politische Streitfragen öffentlich auszutragen – mit Lust an der Zuspitzung und aufklärerischem Impetus. Allerdings bleibt auffällig, dass die Freiheitsemphase, die Sternberger als Demokratieerzieher der ersten Stunde pflegt, zunehmend domestiziert wird. Statt „Herrschaft der Freiheit“ werden „Vereinbarung“, „Herrschaft der Spielregeln“ und „Friede“ zu Schlüsselbegriffen. So sind in seiner Publizistik der Nachkriegsjahre im tieferen Sinne des Wortes Essays zu sehen, die man als ertragreiche Übungen im politischen Denken werten kann. Sie spiegeln ein Experimentierfeld theoretischer Reflexion wider, auf dem Sternberger bereits grundlegende Begriffe und Ideen ausprobiert, die er später als Bausteine für die politische Theorie seiner Hauptwerke verwendet.

Genese des Verfassungspatriotismus

Sternbergers sprichwörtlicher Verfassungspatriotismus hatte weder etwas mit den Modi des Zustandekommens des Grundgesetzes noch mit der Verehrung seines Textgehalts zu tun. Will man philologisch genau sein, so findet das Wort selbst vermutlich zuerst in einem Brief Sternbergers an Karl Jaspers, in dem Sternberger 1967 die Bundesrepublik gegen die überzogene Fundamentalkritik seines Lehrers in Schutz nahm, der in seinem Bestseller Wohin treibt die Bundesrepublik? der jungen Demokratie ein verheerendes Zeugnis ausgestellt hatte : „Es ist dies der erste einigermaßen geglückte Verfassungsstaat der deutschen politischen Geschichte, ich habe, wie Sie wissen, im Einzelnen sehr erhebliche kritische Einwände – von Fall zu Fall –, im Ganzen aber muß ich ihn bejahen – mindestens schonen – aus einer Haltung, die ich gern ‚Verfassungspatriotismus‘ nenne.“ (S. 814)

Eine gute konstitutionelle Ordnung musste in seinen Augen nicht zwingend eine demokratische Genese vorweisen können; auch die Gehalte der geschriebenen Verfassung gaben noch keine Garantie für ihren Erfolg, weil diese sich erst im politischen Leben bewähren und weiterentwickelt werden mussten. Sternberger selbst hatte dem „schwächlichen Bonner Machwerk“ (S. 116) im Monat seiner Verkündung anfangs nicht allzu viel zugetraut, wie er gegenüber Hannah Arendt äußerte. Dem skeptischen und besorgten Streiter für die Demokratie missfiel der defensive Charakter des Grundgesetzes zunächst; er wäre nicht so naiv gewesen, die politische Gründung damit schon für stabil zu halten. Er blieb als Bewunderer der britischen Parlamentarismustradition ein überzeugter Verfechter des Mehrheitswahlrechts und stritt dafür auf immer aussichtsloser werdendem Posten in der von ihm mitgegründeten Deutschen Wählergesellschaft. Zudem bleibt zu berücksichtigen, dass Sternberger in unterschiedlichen Rollen schrieb: als Journalist und freier Schriftsteller – so seine intellektuell freischwebende Position in den Nachkriegsjahren – äußerte er sich zunächst kritischer und streitlustiger. Den schleichenden Rollenwechsel zum angesehenen Ordinarius und Repräsentanten liberaler Bürgerlichkeit absolvierte er parallel zur sich anbahnenden Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik.

Sternbergers Verdienst bestand darin, politische Begriffe wie Autorität, Vaterland und Patriotismus von ihrer nationalsozialistischen Kontamination zu befreien und auf ihre republikanischen Ursprünge zurückzuführen, d. h. sie neu zu demokratisieren. Er erinnerte daran, dass jedes Gemeinwesen in erster Linie aus seinen Bürgerinnen und Bürgern besteht. In Lebende Verfassung (S. 25-30) thematisierte Sternberger das „Problem der Loyalität“, welches sich auf den vorläufigen Charakter der Verfassungsordnung in der Bundesrepublik und im Blick auf Gesamtdeutschland ergab. Die „Konstituierung der Bundesrepublik” hatte zunächst zwar „nur eine blasse und mittelbare Loyalität geschaffen“ und markierte durch die bescheidende Bezeichnung Grundgesetz den „vorläufigen“ und „behelfsmäßigen Charakter des Staatswesens“. Aber die politische Ordnung war auf Zukunft angelegt, denn sie artikulierte den „Anspruch auf Repräsentation des Ganzen und ein Versprechen zur Herstellung dieses Ganzen“. Die „Umstände des Gründungsaktes“, d. h. die ausgebliebene Selbstbefreiung Deutschlands, die Konstruktion des Parlamentarischen Rates und der Verzicht auf eine Volksabstimmung waren für Sternberger ebenso wenig maßgeblich wie die klassischen Kriterien der Staatlichkeit – homogenes Staatsvolk, klar begrenztes Staatsgebiet, souveräne Staatsgewalt. Auf nationalkonservative Vorbehalte gegenüber dem Provisorium Bundesrepublik ließ er sich nicht ein. Auch vom Wirtschaftswunder-Enthusiasmus allein ließ er sich kaum blenden, obwohl er die Fähigkeit liberaler Demokratien, materiellen Wohlstand hervorzubringen, durchaus würdigte. Sein Blick galt der politischen Kultur, der Einübung institutioneller Praxis ebenso wie bürgerlichem Common Sense.

Begründung eines bundesrepublikanischen Liberalkonservatismus

Als sich die Verfassung bewährte, das Parteiensystem stabil blieb und das Verhältniswahlrecht Regierungsbildung, Kontinuität und Wandel gleichermaßen ermöglichte, fasste er Zutrauen zur „lebenden“ bundesrepublikanischen Verfassung. Diese „Staatsfreundschaft“ festigte Sternberger in den bewegten 1960er Jahren, als er sich bemühte, gegen die einseitige Kritik an vermeintlichen Legitimationsdefiziten die Errungenschaften der liberalen Demokratie zu verteidigen, um damit einen aufgeklärten Liberalkonservatismus zu begründen. Seine politische Überzeugung folgte dabei keiner Parteilinie. Der selbstbekennende Wechselwähler ging hart mit den neomarxistischen Revolutionsenthusiasten ins Gericht und blieb zugleich ein Verfechter der Brandt’schen Ostpolitik.

Sternberger beharrt nicht darauf, von Anfang an Recht gehabt zu haben. Er hatte Respekt vor der großen Lücke, die sich zwischen Theorie und Praxis, Idee und Wirklichkeit auftat, und hielt nichts vom Absolutismus bestimmter Überzeugungen. So war er bereit, den Kampf um das Mehrheitswahlrecht aufzugeben, ohne die damit verbundenen Überzeugungen von der Unabhängigkeit und persönlichen Freiheit des Mandatsträgers fallen zu lassen. Als Exempel streitbarer Demokratie trugen seine kritischen Einwürfe und Initiativen in erheblichem Maße zur politischen Selbstverständigung in der alten Bundesrepublik bei. Der dem frühen Sternberger eigene kritische Blick und die Phantasie für eine weitere Demokratisierung einer aktiven Bürgergesellschaft verblassten allerdings in späteren Jahren merklich.

 

Jens Hacke lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der MLU Halle-Wittenberg und arbeitet zurzeit an einer biographischen Studie über Dolf Sternberger. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Existenzkrise der Demokratie (Berlin 2018) und Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten (Hamburg 2021).

Ein Kommentar zu “Dolf Sternberger und das Grundgesetz als „lebende Verfassung“  

  1. Sehr geehrter Herr Hacke,
    vielen Dank für Ihren Beitrag zu Dolf Sternbergers Kommentaren zum Grundgesetz.
    Schöne Ergänzung nach dem vorangegangen Text von Herrn Gallus über die Gedanken von Walter Dirks, Kurt Hiller und Alfred Weber.
    Freundliche Grüße
    Bernd Arnold

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert