Anlässlich des 75. Jahrestags der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 veröffentlicht der Theorieblog heute und morgen zwei Beiträge, die die Debatten um das Grundgesetz ideenhistorisch betrachten. Den Auftakt macht Alexander Gallus aus Perspektive der Intellectual History.
Auch wenn der 23. Mai als der Tag, an dem das Grundgesetz verkündet wurde, weder nationaler Gedenk- noch gesetzlicher Feiertag ist, markiert er doch wie kaum ein zweites Datum den Gründungsmoment der Bundesrepublik. Anlässlich des fünfundsiebzigsten Jubiläums erscheint es umso angebrachter, diesen herausgehobenen Erinnerungsort der neuesten deutschen Geschichte prominent herauszustellen. Dieser Aufgabe hat sich das Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit der Ausstellung „Unser Grundgesetz“ und einer sie begleitenden Veranstaltungsreihe unter der Überschrift „Ein großer Wurf“ gestellt.
Die Verabschiedung des Grundgesetzes erscheint so besehen wie die Grundsteinlegung für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, jener viel beschworenen „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum). Die Geschichte vom Siegeszug einer Verfassung, die anfangs nur als Transitorium gelten sollte und eben deshalb den Titel „Grundgesetz“ erhielt, wird nicht zuletzt damit erklärt, dass es über die institutionellen, prozeduralen und normativen Grundlagen des neuen Staates hinaus bald als Dokument galt, das eine lebendige Demokratie ermöglichte und sogar so etwas wie einen „Verfassungspatriotismus“ hervorzurufen vermochte.
Intellektuelle Skepsis – oder: kein Zauber des Anfangs
Wer sich zurückbegibt in die Jahre, als die verfassungsrechtliche Neuordnung (West‑)Deutschlands zur Disposition stand, betritt hingegen ein kontroverses Feld, das neben fachkompetenten Juristen und politisch mandatierten Entscheidungsträgern auch ‚freischwebende‘ Intellektuelle mit bestellen wollten. Die letztgenannte Gruppe soll in exemplarischer Weise in den Blick geraten, um darzulegen, wie wenig Anlass das Grundgesetz von einer entstehungsgeschichtlichen Warte aus gab, in diesem Vorgang einen feierwürdigen Gründungsakt als Beginn der bis heute anhaltenden success story zu erkennen.
Politisch-ideelle Selbstverständigungsdiskurse gehören zu einer Verfassungsgeschichte, die sich nicht auf Vorgänge der rechtlichen Normierung beschränkt, vielmehr die politische Verfasstheit des Gemeinwesens und die ethisch-moralische Konstitution der Gesellschaft samt damit verbundenen legitimatorischen, identifikatorischen und deutungskulturellen Dimensionen in den Blick nimmt, woraus sich zusammengenommen erst so etwas wie eine Intellectual History der Verfassung ergibt. Die in sie hinein tönenden Stimmen der Intellektuellen selbst können dabei einen herausgehobenen Rang beanspruchen, kommt ihnen doch während transformativer Krisenzeiten eine Doppelrolle zu: Dann stehen sie nicht nur als Kritiker politisch-gesellschaftlicher Ordnungen parat, sondern auch als Konstrukteure des gedanklichen Um- und Neubaus, der in einer Verfassung fixiert werden soll.
In den Übergangsjahren zwischen 1945 und 1949 erhoben die Intellektuellen einen erhöhten politischen Gestaltungsanspruch und wollten zentrale Leitideen in die neue Verfassungsgebung einbezogen wissen. Sosehr sie – zumal im Rückblick – Außenseiterpositionen bezogen und sich mit ihren Anliegen nicht durchsetzen konnten, verwiesen sie damit doch auf ihnen bedeutsam erscheinende Problemkomplexe, die beispielhaft in den Begriffspaaren „Revolution/Legitimation“, „Demokratie/Logokratie“ und „Freiheit/Sozialismus“ gefasst werden können. Diese Ideenwelten, die mit den Namen von Walter Dirks, Kurt Hiller und Alfred Weber verbunden sind, zeithistorisch näher zu kolorieren, soll im Folgenden wenigstens skizzenhaft geschehen. Sie handeln von Visionen und Reklamationen gleichermaßen.
Revolution/Legitimation
Aus Sicht vieler intellektueller Kritiker war im Falle des Parlamentarischen Rates und des Grundgesetzes bereits der Vorgang der Verfassungsgebung selbst ein unzureichender. Wie kaum ein Zweiter beklagte Walter Dirks in seinen linkskatholisch gefärbten Frankfurter Heften, dass dieser Verfassungsgebung kein legitimierender Willensakt – am besten in Form einer Revolution – vorausgegangen war. In der Tradition des republikanischen Verfassungsdenkens wies er dem Gründungsakt einen besonders hohen identitätsstiftenden Rang zu, ohne den Bindung und Loyalität der Bürger dem neuen rechtlichen Regelwerk gegenüber kaum zu erreichen seien.
Mit großer publizistischer Verve wollte er eine Art Blaupause zur Gestaltung der Zweiten Republik liefern. Gleich 1946 sprach er im Auftaktjahrgang seiner neuen Zeitschrift von einer den Deutschen erneut geschenkten Revolution. Nach 1918 sei es versäumt worden, sie mit richtigem „Staatsinhalt“ zu füllen; diese zweite Chance dürfe nun nach 1945 nicht erneut vergeben werden. Die Zweite Republik sollte nach Dirks’ Wunsch von vornherein eine sein, die „inhaltlich“ statt „formalistisch“, „zukunftswillig“ statt „positivistisch“ auszugestalten sei. Das neue „Staatsgrundgesetz“ hatte mithin aus „Paragraphen der Zukunft“ zu bestehen, wie er es schwärmerisch formulierte.
Dirks’ Erwartungshaltung war groß, die folgende Enttäuschung umso größer. Den Parlamentarischen Rat kritisierte er im Juni 1949 dafür, dass es diesem schmucklosen und von den Alliierten reglementierten Gremium „nicht gelungen“ sei, wie auch Allensbacher Umfragen belegen würden, „ein starkes und positives Interesse des deutschen Volkes an dieser seiner ersten vorläufigen Verfassung zu erwecken“. Das dann verabschiedete Grundgesetz löste ihm zufolge weder Glücksgefühle aus noch bot es Anlass für Feste. Der „komplizierte Kompromiss von Bonn“ habe nichts von einem „Meisterwerk“ und versprühe keinen Esprit. Die „Gelegenheit einer konstruktiven sozialen Revolution“ hätten die Verfassungsmacher ungenutzt vorübergehen lassen. Dass dem „Werk von Bonn“ einmal ein historischer Rang zukommen könnte, zog Dirks von vornherein in Zweifel. Ab dem Moment, als seine Revolutionslust in Restaurationsfrust umschlug, sah er nach der Weimarer auch die Bonner Republik frühzeitig auf die schiefe Bahn geraten.
Demokratie/Logokratie
Mit Kurt Hiller griff ein anderer großer Unbequemer aus Weimars Zeiten die Verfassungsfrage bereits in den letzten Kriegsmonaten auf. In London erschien im Mai 1945 der von ihm herausgegebene Band After Nazism – Democracy? mit seinem Aufsatz „The Problem of Constitution“, der 2023 erstmals in deutscher Übersetzung publiziert wurde. Der promovierte Jurist Hiller war ein unermüdlicher Kämpfer für eine Geistesaristokratie oder Logokratie und gehörte ab Mitte der 1920er Jahre zu den tonangebenden Stammautoren des unabhängigen linken publizistischen Flaggschiffs Weltbühne, bevor er im Exil – zunächst von Prag, dann von London aus – unter widrigen Umständen um politisch-publizistische Wirkung bemüht blieb.
Hiller erinnerte daran, wie vieldeutig und formbar der Demokratiebegriff in der fluiden Transformationsphase nach 1945 noch war. Die einzige deutsche Erfahrungswelt mit der parlamentarischen Demokratie war die Weimarer Republik, die zunächst nur als Abschreckungsbeispiel fungierte. Wollte man das Demokratieexperiment wagen, so musste sich die Zweite von der Ersten Republik abgrenzen und die nötigen Lehren daraus ziehen. Hiller sah andere Korrekturen vor, als sie der Parlamentarische Rat schließlich vornahm. Er plädierte für ein Zweikammer-System, bestehend aus einem demokratisch gewählten Parlament und einer Kammer der Geistigen. Dieses „Council of Minds“ besaß legislative Kompetenzen und hatte die politischen Zielvorstellungen vorzugeben. Ein nach allgemeinem Wahlrecht zusammengesetztes „Supervising Council“ würde eine gleichermaßen beratende wie kontrollierende Funktion erfüllen. So erhoffte sich Hiller ein ausbalanciertes Verhältnis von Mehrheitsdemokratie und Logokratie, einer „rule of Equality“ und „rule of Quality“.
Gewiss wirkten diese geistesaristokratischen Wünsche verstiegen. Sie waren aber mehr als ein bloßes Kuriosum, bedenkt man verwandte Initiativen für eine berufsständisch zusammengesetzte Zweite Kammer oder die Massen(demokratie)skepsis und den elitären Erziehungsauftrag, den im Grunde alle intellektuellen Initiativen jener Zeit anmahnten; schließlich auch allerlei spätere, bis in unsere Gegenwart reichende Initiativen, Experten und wissensbasierte Räte als Ergänzung des parlamentarischen Tagesgeschäfts einzusetzen.
An Hillers Fall lässt sich zudem eine weitere wichtige Denkbewegung nachvollziehen: nämlich angesichts der totalitären Erfahrung hin zur notwendigen Erweiterung der Demokratie als demokratischer Rechts- und Verfassungsstaat, dem es vorrangig oblag, Minderheiten und jeden Einzelnen vor staatlicher Willkür zu schützen. Indem Hiller sich für eine Stärkung individueller Grund- und Schutzrechte einsetzte, näherte er sich, ob ihm das behagte oder nicht, einem liberalen Verfassungsdenken an. Einem solchen Demokratieverständnis gemäß, das unterstrich er dick in seiner Schrift After Nazism – Democracy?, „ist der Staat für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat […]“.
Dieser Satz, den Hiller erstmals mehr als zwanzig zuvor formuliert hatte und dessen Urheberschaft er beanspruchte, strahlte unmittelbar auf die frühe Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik aus. Schließlich begann so der Chiemseer Entwurf für das Grundgesetz. Vor diesem Hintergrund wandte er sich im Übrigen mit Carlo Schmid an einen herausragenden Akteur des Verfassungskonvents, um herauszufinden, wer ihm die Ehre erwiesen hatte, die Formulierung prominent in den Verfassungsentwurf einbringen. „Der Satz über das Verhältnis von Mensch und Staat“, ließ Schmid Hiller wissen, „ist in den Grundrechtskatalog gekommen, ohne dass irgendeiner der Ausschussmitglieder gewusst hätte, dass er von Ihnen geprägt worden ist. Offensichtlich ist er schon im Bewusstsein oder Unterbewusstsein der Menschen so fest verwurzelt, dass niemand mehr sagen kann, woher er stammt.“ So oder so gelangte das Diktum nicht ins Grundgesetz, wofür Hiller später den Einfluss eines restaurativen Adenauer-Regiments verantwortlich machte. Die neue Verfassung nannte er kurz nach ihrer Verkündung am 16. Juni 1949 in der ZEIT ein missglücktes „Produkt von Bonn“. Schon aufgrund des entfallenen Auftaktsatzes schrieb der einzig den eigenen Leitvorstellungen verpflichtete Geistesarbeiter ohne Umschweife: „Der Entwurf von Herrenchiemsee war hundertmal besser.“
Freiheit/Sozialismus
Sosehr Hiller die Freiheit eines jeden Einzelnen betonte, plädierte er doch trotzdem für eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Verbindung von Freiheit und Sozialismus verfocht auch die Heidelberger Aktionsgruppe zur Demokratie und zum freien Sozialismus unter der Ägide des Soziologen Alfred Weber. Mit dem Stichwort des Sozialismus rekurrierte er dabei auf nicht viel mehr als eine gemeinschaftliche Verantwortlichkeit und die „Kollektivverbundenheit“ jedes Einzelmenschen, wie es bereits 1946 in der kleinen, gemeinsam mit Alexander Mitscherlich herausgebrachten Programmschrift Freier Sozialismus hieß. Hiller ähnlich, legte Weber den Nachdruck auf das freiheitliche Element. Auch er strich die rechtsstaatliche Komponente der Demokratie hervor, die Menschenrechte als staatlich einklagbare Bürgerrechte zu garantieren habe.
Es gelang dem jüngeren Bruder Max Webers, in den Übergangsjahren ab 1946 einen hochkarätig zusammengesetzten Gesprächszirkel aus Politikern, Professoren und Publizisten, zu versammeln und offen über die Zukunftsgestaltung des Landes zu diskutieren. Neben vielen anderen beteiligten sich an den Heidelberger Tagungen Dolf Sternberger, Alexander Mitscherlich, Ferdinand Friedensburg, Robert Kempner und Carlo Schmid. Eine Sitzung widmete sich der „künftigen deutschen Gesamtverfassung“. Obgleich sich der Kreis in einer Resolution für eine föderalistische und parlamentarisch-demokratische Verfassung aussprach, begegnete er dem späteren Grundgesetz mit großer Skepsis. Mit dem Entstehungsprozess und der Verabschiedung des Verfassungsdokuments verband der Zirkel alles andere als eine Aufbruchsstimmung. Dies musste schon deswegen als gravierender Mangel wahrgenommen werden, als etwa Friedensburg in der Diskussion hervorhob, es komme „nicht so sehr auf die Verfassungsartikel an“, sondern vielmehr darauf, an ihr „lebendig und verantwortungsfreudig“ mitzutun und sich mit ihr als Gerüst des neuen Staatsgebildes „innerlich verbunden“ zu fühlen.
Dieses Argument rief damals allerdings ausgerechnet die scharfe Kritik des späteren Urhebers der „Verfassungspatriotismus“-Idee Sternberger hervor. Ihm missfiel es, die Verfassung als den Ort, an dem die „Spielregeln der politischen Technik“ schriftlich niedergelegt würden, gegenüber einer „demokratischen Gesinnung“ in den Hintergrund zu rücken. Aber auch diesen Spielregeln selbst traute Sternberger anfangs nicht viel zu. Alles andere als frohgemut gestimmt, sprach er nur zwei Tage nach Verabschiedung des Grundgesetzes gegenüber seiner Freundin Hannah Arendt von einem „schwächlichen Bonner Machwerk“.
Schlussbemerkung
Dass das Grundgesetz mit der Zeit zu einem Erfolgsmodell avancieren sollte, erwartete keiner der intellektuellen Kritiker und Verfassungskonstrukteure. Jede ihrer Leitperspektiven für sich adressierte ein unerfüllt bleibendes Ziel, das zumindest als Utopie, als unerreichter Nicht-Ort Sehnsüchte freisetzen konnte und als eine Art Ideenarchiv unter gewandelten Kontextbedingungen auf eine Wiederbelebung ungenutzter Denkfiguren hoffen durfte.
Wenn man „Verfassung“ nicht nominalistisch-positivistisch versteht, sondern mit Hans Vorländer als ein „Ineinander gesetzter, gedachter und gelebter Ordnung“, dann wirkt ein solches, wenn auch schlummerndes Konfliktpotenzial konkurrierender Konzeptionen doch relevanter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Anhand der damals nicht verwirklichten Ideenwelten sind Sehepunkte erkennbar, die einst in die Defensive geratene Denkmöglichkeiten fixieren, die während späterer Jahrzehnte – ob im Erzählmodus versäumter Chancen und Mängelanzeigen oder neu entfachter Hoffnungen und Träume – bisweilen als Anknüpfungspunkte dienen konnten.
Nicht zuletzt der freie oder freiheitliche Sozialismus blieb eine faszinierend schillernde Zielvorstellung, weil sie in fast harmonischer Weise den Wunsch nach einer neuen Synthese bediente und einen Ausweg aus zwei in unterschiedlicher Weise unbefriedigenden gesellschaftlichen Formationen – zwischen West und Ost, Kapitalismus und Kommunismus – versprach. Dieser Dritte Weg, eigentlich eher eine Dritte Idee oder Dritte Möglichkeit, konnte am Ideenhorizont als bessere Alternative funkeln, gerade weil sie keine wirkliche Praxisrelevanz erlangte. Das eigene, hehre Ideal ließ sich der zumeist kruden Wirklichkeit der ersten und zweiten Wege mit all ihren Unzulänglichkeiten gegenüberstellen.
Als Ausdruck dieser kruden Wirklichkeit galt anfangs auch das Grundgesetz. Stellvertretend für seine intellektuellen Mitstreiter hoffte Dirks kurz nach dessen Inkrafttreten lediglich, dass von diesem Verfassungsdokument keine Blockadewirkung ausgehen und es „einer besseren Welt nicht zu sehr im Wege stehen“ möge. Dass sich das Bonner Produkt einmal als Paragraphenwerk der Zukunft erweisen oder „großer Wurf“ gefeiert werden könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungswelt. Daran zu erinnern, gehört zu einer Intellectual History des Grundgesetzes, die auch in diesem Falle an der Rekonstruktion zeitgebundener ideenpolitischer Kampfsituationen besonders interessiert bleibt.
Alexander Gallus lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz. Als Vertreter einer Intellectual History des 20. und 21. Jahrhunderts macht er sich für eine Verknüpfung von Zeit- und Ideengeschichte stark.
Vielen Dank, Herr Gallus,
für Ihre ideengeschichtliche Erinnerungen an Walter Dirks, Kurt Hiller und Alfred Weber zu deren kritischen Beiträgen zum Grundgesetz.
Ihren Eingangssatz betreffend hätte ich keine Einwände und würde begrüßen, den 23. Mai zu einem gesetzlichen Feiertag zu erklären.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Arnold