Call for Papers für Schwerpunktheft der „Zeitschrift für Politische Theorie“: „Der Naturzustand zwischen Kontext und Konstruktion – methodische Bedingungen politischer Theoriebildung“

Als HerausgeberInnen eines geplanten ZfPT-Schwerpunkthefts erbitten Oliver Eberl und Silviya Lechner Vorschläge zum Thema Der Naturzustand zwischen Kontext und Konstruktion: methodische Bedingungen politischer Theoriebildung.

Abstracts im Umfang von max. 3.000 Zeichen sind bitte bis zum 31. März 2022 an Dr. Oliver Eberl (o.eberl@ipw.uni-hannover.de) und Dr. Silviya Lechner (silviya.lechner@kcl.ac.uk) zu senden. Eine Rückmeldung durch die HerausgeberInnen erfolgt bis Ende April 2022. Die fertigen Beiträge (Länge 60.000 inkl. Leerzeichen) sind bis zum 31. Oktober 2022 einzureichen. Abstracts sowie Beiträge können auch Englisch eingereicht werden, sofern die erste Bildungssprache Englisch ist. Die Auswahl für den Druck unterliegt einem peer-review Verfahren. Richtlinien zur formalen Gestaltung der Beiträge finden sich unter https://zpth.budrich-journals.de, der gesamte Call (dt./engl.) unterm Strich.

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„Der Naturzustand ist ein zentrales Konzept des Kontraktualismus und darüber hinaus der politischen Philosophie und Theorie – als Anarchie, Herrschaftslosigkeit oder gar „Barbarei“ – aber auch der weiteren Politikwissenschaft und des politischen Denkens. In der politischen Philosophie wird der Naturzustand meist als analytische Abstraktion behandelt, wenn angenommen wird, das Leben im Naturzustand – als eines Lebens außerhalb des rechtlichen und staatlichen Zustands – sei von Elend, gegenseitiger Angst und der Antizipation von Gewalt geprägt. So wird der Naturzustand seit Hobbes beschrieben und verstanden.

Ausgehend von dieser Beschreibung sehen politische Philosoph*innen den Naturzustand als moralisches Vakuum und prüfen, inwiefern sich vor-politische moralische Verpflichtungen im Naturzustand auffinden lassen (Warrender). Umgekehrt fragen ideengeschichtlich orientierte Ansätze nach den Kontexten der Zeit, die in die Theoriebildung eingeflossen sind, welche zeitgenössische Bedeutung sie hatten und welche Folgen das für die Theoriebildung heute hat. Damit stehen sich zwei vermeintlich konträre Lesarten gegenüber, die einen kontextualistisch-kritischen und einen systematisch-konstruktiven Zugang markieren.

Beide Zugänge lassen sich in der neueren Diskussion um die Klassiker finden. Hobbes, der Begründer des modernen Theorems des Naturzustands, kann kontextualistisch-kritisch gelesen werden als Gegner des Patriarchalismus (Skinner), als Ursprungsphantasie (Manow), Ausdruck sexistischer Geschlechterverhältnisse (Pateman), Verarbeitung des Kolonialismus (Eberl) oder systematisch-konstruktiv als Begründung für den Staat (Kersting) oder Recht im internationalen Zustand (Lechner). Auch für Kant lässt sich eine neuere systematische Lesart (Welsch) von einer nun auch postkolonial kontextualisierten Lesart unterscheiden (Hostettler). Natürlich ist in all diesen Fällen die Unterscheidung möglicherweise eine künstliche, auch Welsch kontextualisiert seine Lesart und auch zu Hobbes gehen Kontext und Systematik Hand in Hand (Douglass). Doch ist damit die Frage nach der Bedeutung der methodischen Zugänge für die Theoriebildung nicht beantwortet – sondern allererst aufgeworfen.

Das Schwerpunktheft fragt nach der systematischen Bedeutung des methodischen Zugangs für die Theoriebildung. Wir sehen vor allem vier Felder, in denen die Spannung zwischen Kontext und Konstruktion am Beispiel des Naturzustands diskutiert werden kann. Jedoch sind auch Beiträge zu anderen Themen willkommen.

  • Die philosophischen Überlegungen in Bezug auf den Naturzustand sind Teil des mit ihm zusammen konzipierten Kontraktualismus. So lässt sich zum Beispiel erkennen, dass Hobbes und Kant, obwohl sie unterschiedliche Moraltheorien vertreten, eine auffällige Gemeinsamkeit in ihren Auffassungen des Naturzustands und über Moral im vor-politischen Zustand teilen: beide betonen die fundamentale Unsicherheit moralischer Pflichten. Die Problematik moralischer Unsicherheit in vor-politischen Beziehungen taucht dagegen in den Argumenten der anderen klassischen Kontraktualisten wie Locke und Rousseau nicht auf, und es wäre wichtig zu erfahren, was die Gründe dafür sind. Das Problem taucht schließlich für internationale Verpflichtungen zwischen Staaten erneut auf. Ist dies allein mit einem systematischen Zugang zu erschließen oder bedarf es dafür auch eines kontextualisierten Arguments? Lassen sich bestimmte Fragen berechtigterweise ohne Kontextualisierung bearbeiten bzw. erlauben oder verlangen sie gar den Verzicht auf Kontextualisierung?
  • Zweitens sehen wir methodische Fragen aus den verschiedenen Zugängen erwachsen: In welchem Verhältnis stehen die kontextualisierende und die systematische Lesart? Kann es überhaupt Lesarten ohne die jeweils andere geben oder ist es möglich, beide Zugänge voneinander zu isolieren? Der Naturzustand ist unseres Erachtens ein Feld, an dem sich diese grundsätzlichen methodischen Fragen hervorragend diskutieren lassen, weil historische, politische sowie Unterdrückungsverhältnisse von Frauen und Nicht-Europäer*innen aufs Engste mit der Methode der Abstraktion für die Frage nach moralischen Grundlagen vermeintlich nicht-staatlicher Situationen verbunden ist.
  • Einige Theorien wollen den skandalisierenden Gehalt des Naturzustands für eine kritische Gegenwartsdiagnose nutzen und sprechen von einem „Rückfall“. Wie sehr ist dieser Bedeutungsgehalt noch von der klassischen Idee des Naturzustands abhängig und welche analytische Kraft kann man von ihm erwarten? Was kann eine zeitgenössische Gesellschaftskritik leisten, wenn sie auf den Naturzustand zurückgreift? Ist dies nicht ein Verweis auf den „Rückfall in Barbarei“? Inwiefern steht diese Form der Kritik damit in einer produktiven Konkurrenz zu anderen Modellen der Kritik?
  • Setzt das Vokabular des „Naturzustands“ ein verstecktes Bekenntnis zu (weitgehend europäischen) Diskursen über Entwicklung, Barbarei und Fortschritt voraus, oder spiegelt es eine abstraktere Reihe von Überlegungen wider, die sich auf das Wesen politischer Macht, politischer Verpflichtung und Gerechtigkeit beziehen, die innerhalb der Grenzen des Staates als einer juridischen, zwingenden Struktur entstehen? Kurz gesagt, warum sollte es, wie Nozick es einmal ausdrückte, überhaupt einen Staat geben – warum nicht stattdessen Anarchie (oder einen Naturzustand)?“

 

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„Call for papers for a special issue of the Zeitschrift für Politische Theorie (Eds.) Oliver Eberl, Silviya Lechner: The state of nature between context and construction: methodological conditions of political theorising.

The state of nature is a central concept in the contractarian tradition, and, beyond that, of political philosophy and theory – where it has been variously understood as anarchy, absence of rule or even „barbarism“—reaching as far as the purview of political science and political thought more generally. In political philosophy, the concept is usually treated as an analytical abstraction by assuming that life in the state of nature – that is, life outside the confines of a legal or civil state – is characterised by misery, mutual fear and the mutual anticipation of violence. This is the concept of a state of nature conventionally attributed to Thomas Hobbes.

Using this conventional description as a point of departure, some political philosophers have asked whether the state of nature constitutes a “moral vacuum” and whether pre-political moral obligations can be found in  it  (Warrender). Conversely, approaches informed by the history of ideas have queried the extent to which historical contexts inform theoretical presuppositions (context in relation to theory formation), as well as whether certain historically conditioned concepts continue to have significance for theory formation today. As a result, two supposedly contrary readings, representing a contextualist-critical approach and a systematic-constructive approach, may be juxtaposed.

Both of these approaches can be found in more recent interpretations of the classics of political theory. An example of the contested character of interpretations concerning Hobbes, the founder of the modern idiom of the state of nature. Like Hobbes’s entire political theory, this particular idiom can be read by contextualising and even “ideologising” it. Thus scholars who subscribe to the contextualist-critical approach discover in the development of Hobbes’s science of politics certain ideological overtones (Skinner). Or, if we move away from Hobbes, the state of nature can be interpreted by drawing on the contextualised method as a fantasy of origins (Manow), as an expression of sexist gender relations (Pateman), or as a historical process of colonialism (Eberl). The alternative, systematic-constructive approach locates the concept of a state of nature within a broader theory which seeks to systematically justify the state. In Kantian scholarship, for instance, this concept has been invoked as part of the justification of the state, where the state is portrayed as a legal structure based on laws of freedom (Kersting) or as a principle operating within a system of international right explicitly formulated by Kant, and anticipated by Hobbes (Lechner). Recently, new systematic reading of Kant’s theory of the state of nature in relation to the juridical state has appeared (Welsch) alongside readings that are post colonially contextualised (Hostettler). To be sure, in all these cases the distinction between the systematic-constructive and the contextualist-critical standpoint remains an artificial one. Some scholars adhere to the first no less than to the latter (Welsch) and others show that for classical state-of-nature theorists such as Hobbes context and philosophical system go hand in hand (Douglass). But this fact, if it is a fact, does not answer the question of the significance of methodological approaches for theory formation – rather, it raises it for the very first time.

The aim of this Special Issue is to examine and re-examine the significance of our methodological approaches in connection to theory formation with a reference to the state of nature as a basic idiom of modern political theory. We identify four fields in which the tension between (historical) context and (philosophical) construction can be discussed. However, contributions on other cognate topics related to the puzzle of a state of nature are also welcome.

  • The first area of interest concerns the philosophical understanding of the state of nature within contractualism. For example,Hobbes and Kant, although advocating different moral theories, exhibit  a striking commonality in their views about the moral relations between individuals taking place in the pre-political condition of “mere nature”. Kant, no less than Hobbes, emphasises the fundamental uncertainty of transactions and of moral obligations outside the confines of a juridical state. The problem of moral uncertainty that characterizes such pre-political relations, on the other hand, does not seem to have a central place in the arguments of the rest of the classical contractarians such as Locke and Rousseau. It is thus important to reflect on this paucity. Finally, the problem of uncertainty that persists in the international state of nature, given the absence of a global juridical state to regulate the relations of individual states, raises questions about the moral status of international obligations. Can such puzzles  be addressed through a systematic approach alone, or do they require an additional, contextualised argument? Can certain questions legitimately be dealt with without contextualisation, or do they require that contextualisation be dispensed with?
  • Secondly, the Special Issue draws attention to certain methodological questions pertaining to the two master approaches to theory formation identified above: What is the nature of the relationship between contextualised interpretations and systematic ones? Should a methodologically coherent reading exclude one approach at the expense of the other, or should the two approaches be kept separate? Our position is that the state of nature constitutes a discourse within which these fundamental methodological questions can be discussed productively, by venturing into questions of historical relations, power relations (related, inter alia, to feminist, civilisationalist, and postcolonial critiques) and, ultimately, to the very moral foundations of the modern state.
  • Some theories have employed images of the state of nature as a way of issuing a critical diagnosis of our epoch of late modernity, thereby describing it as a „relapse“. How much does this reading depend on the classical idea of the state of nature and what analytical power does the idea still have? What can a contemporary social critique achieve when it falls back on early modern images of the state of nature? Are such references historical or, rather, philosophical-systematic? To what extent does this form of critique compete productively with other modes of critique?
  • Does the vocabulary of a “state of nature” presuppose a hidden commitment to (largely European) discourses of development, barbarism, and progress, or does it reflect a more abstract set of concerns pertaining to the nature of political power, political obligation and justice as relations that arise within the bounds of the state as a juridical, coercive structure? In short, why should, as Nozick once put it, there be a state at all – why not have anarchy (or a state of nature) instead?

Please send abstracts of max. 3,000 characters to Dr Oliver Eberl (o.eberl@ipw.uni-hannover.de) and Dr Silviya Lechner (silviya.lechner@kcl.ac.uk) by 31 March 2022. Feedback from the editors will be provided by end of April 2022. Finished contributions (length 60,000 incl. spaces) must be submitted to the editors by 31 October 2022. Abstracts as well as contributions may be submitted in German and English. The procedure for selecting manuscripts for publication will be based on a peer-review process. Guidelines on formatting the manuscript can be found at https://zpth.budrich-journals.de.“