Das Problem der Sittlichkeit

Lesenotitz zu „Debating Critical Theory. Engagements with Axel Honneth“, herausgegeben von Julia Christ, Kristina Lepold, Daniel Loick & Titus Stahl

Bald dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen ist Axel Honneths Habilitationsschrift von ungebrochener Aktualität. Kämpfe um Anerkennung sind offensichtlich ein Signum unserer Zeit. Doch um Anerkennung wird nicht nur von links gerungen. Den migrantischen Kämpfen um politische und kulturelle Teilhabe (um nur ein Beispiel zu nennen) steht die rechtspopulistische Forderung gegenüber, nationale Identitäten und angestammte Privilegien zu schützen und zu respektieren. Diese pluralisierte Aktualität eines Kampfes um Anerkennung führt auch zu einer gewissen Verunsicherung. Einerseits liegt das normative Urteil über den Rechtspopulismus „für uns“ mehr oder weniger deutlich auf der Hand. Andererseits hat die Kritische Theorie von Hegel bis Honneth (und darüber hinaus) herausgestellt, dass solchen Urteilen solange die Gefahr der Willkürlichkeit innewohnt, wie sie nicht auch aus einer „normativen Rekonstruktion“, „bestimmten Negation“ oder „immanenten Kritik“ der artikulierten Anerkennungsansprüche selbst heraus erwachsen. 

Vor diesem Hintergrund erscheint die Festschrift „Debating Critical Theory. Engagements with Axel Honneth“. Sie wird anlässlich Honneths 70. Geburtstag herausgegeben durch Julia Christ, Titus Stahl, Daniel Loick und Kristina Lepold – ihres Zeichens allesamt Assistent*innen Honneths während seiner letzten Frankfurter Jahre – und versammelt das Who-is-Who der gegenwärtigen sozialphilosophischen Szene. Die einzelnen Beiträge sind entlang der für Honneths Werk konstitutiven Begriffe gegliedert: Kritik, Anerkennung, Freiheit und Fortschritt. Sie verhalten sich aber meistens nur referentiell zu Honneths Theoriearsenal. Oft beziehen sie sich nur auf Motive und Themen Honneths, ohne deren theoretische Einbettung näher zu diskutieren. Daran wird das vielleicht unvermeidliche Problem von Festschriften deutlich: Eine zu enge Auseinandersetzung mit dem Jubilar, die leicht in eine kritische, womöglich unbehagliche Bilanzierung kippen kann, soll vermieden werden; aber dies geschieht eben um den Preis mangelnder Konfrontation, eigentlich die höchste Form intellektueller Ehrerbietung. Statt Fokussierung, Dialog oder Disput bieten Festschriften meist einen illustren Strauß etablierter Perspektiven und anerkannter Interventionen dar, die im Sinne einer anlassbezogenen Inspirationsgemeinschaft lose um den Jubilar versammelt sind. Eine umfängliche Darstellung dieses Straußes würde sich allenfalls aus wissenschaftssoziologischem Interesse lohnen. Mir scheint es an dieser Stelle daher sinnvoller, die Festschrift selektiv, aber systematisch danach zu befragen, welche Antworten sie auf die eingangs genannte Herausforderung, die der Rechtspopulismus für die Anerkennungstheorie darstellt, enthält.

Folgt man den Beiträgen von Joel Whitebook und Christoph Menke, so lässt sich die Verunsicherung angesichts nationalistischer Anerkennungskämpfe kategorisch und recht schnell aus der Welt schaffen. Menke deutet den Rechtspopulismus als Ausdruck einer „Entnormativierung“ (238) von Subjektivität und Gesellschaft, die im liberalen Regieren immer schon am Werk sei. Whitebook interpretiert dasselbe Großphänomen psychoanalytisch als Ausbruch anti-sozialer Triebenergien, die sozialtheoretisch meistens wegkonstruiert werden (145). Beiden Diagnosen ist folgender Tenor gemein: Letztlich gehe es rechtspopulistischen Bewegungen gar nicht mehr um intersubjektive Anerkennung, sondern um schiere Selbstbehauptung; es ereigne sich ein Rückfall in unmittelbare, gewaltsame Natur (241). Zwar korrespondiert der Entnormativierungsbefund mit Honneths Zeitdiagnose einer Verstummung und Verrohung der Sozialkritik im Neoliberalismus, wie er sie am Ende von Das Recht der Freiheit vertreten hat (459-465). Er fällt aber doch hinter eine Grundeinsicht seiner Anerkennungstheorie zurück. Menke und Whitebook unterschätzen die innere, normative, wert- und anerkennungsbezogene Seite der rechten Selbstbehauptung und zeichnen so ein vereinfachtes Bild, das der eigentlichen politischen und theoretischen Herausforderung ausweicht. An der Diagnose einer Naturalisierung ist gewiss etwas dran. Aber jene Naturalisierung ist ihrerseits normativ bzw. lebensweltlich rückvermittelt, wie die vielzitierte „Kolonialisierung der Lebenswelt“ selbst. Es ist genau diese Einsicht in die normative Verfasstheit auch all jener Kämpfe und Tendenzen, die scheinbar auf die bloße Interessendurchsetzung oder Selbstbehauptung zielen, von der Honneths Erweiterung des kritisch-theoretischen Blicks ihren Ausgang nimmt.

Rechtspopulistischen und anderen nationalistischen Bewegungen geht es um Anerkennung. Sie fordern, dass staatliche Politik nationale Privilegien anerkennt und zum Ausdruck bringt. Doch wenn die Anerkennungstheorie immanent ansetzt, bedeutet das nicht, dass jede Klage der Missachtung und jeder Wunsch nach Anerkennung zum Maßstab der Kritik erhoben wird. Martin Saar arbeitet in seinem Aufsatz die Methode der „immanenten Kritik“ heraus: Für die immanente Kritik zählt nicht jeder Anspruch auf Anerkennung gleichermaßen; politische und philosophische Geltungskraft erhalten solche Ansprüche nur, insofern sie, wie implizit auch immer, gesellschaftlich institutionalisiert sind (54-58). Erst ihre Verankerung in der Sittlichkeit als das Kondensat historischer Gewordenheit verleiht Ansprüchen auf Anerkennung ihrerseits Anerkennungswürdigkeit. Sie validieren sich erst durch Rekurs auf ein gesellschaftliches Versprechen im Sinne eines institutionalisierten „Geltungsüberhangs“, wie es Honneth in seiner Debatte mit Nancy Fraser formuliert hat. Saar hebt die fundierende Bedeutung der Sittlichkeit für Kämpfe um Anerkennung hervor: Diese stehen nicht für sich selbst, sondern verweisen immer auf ein Gefüge der Sittlichkeit, aus dem sie erst ihre normative Berechtigung beziehen. Jedoch hätte Saar deutlicher exponieren können, dass mit Sittlichkeit innerhalb der Hegelianischen Linie eine ganz bestimmte Ordnung der Anerkennung gemeint ist, nämlich eine solche, die auf die wechselseitige Realisierung von Freiheit gerichtet ist. Darin liegt nach Hegel die Geltung der institutionalisierten Normen selbst. An einer im Wesentlichen asymmetrischen und tatsächlich konstitutiv (58) auf Beherrschung abzielenden Anerkennungsordnung könnte eine immanente Kritik nicht ansetzen. Diese innere Verknüpfung von institutionalisierten Anerkennungsnormen und reziproken Freiheitsversprechen wäre auch das Kriterium für die von Saar intendierte Kritik einer faktischen Verschlingung von Anerkennung und Beherrschung (61-63).

Aber auch mit dieser Bestimmung über den Begriff der Freiheit gibt es verschiedene und nicht selten konträre Vorstellungen von Sittlichkeit, die beispielsweise in kosmopolitischen und nationalistischen Anerkennungskämpfen weitgehend unvermittelt aufeinanderprallen. In seinem Beitrag zur Festschrift hebt David Miller die kulturellen Voraussetzungen „sozialer Freiheit“ bzw. wechselseitiger Anerkennung hervor (181-184). Nationale Gemeinschaft konstituiert aus seiner Sicht erst jene „assoziativen Pflichten“, jene konkrete Wechselseitigkeit, die wechselseitige Anerkennung verdient. Alle sozialen bzw. „sozialistischen“ Ausfaltungen dieser wechselseitigen Anerkennung wären letztlich Ausfaltungen dieses kommunitären Nukleus (182-185). Gemäß dieser aristotelischen Figur der Sittlichkeit wäre die Forderung nach nationalen Privilegien und deren rechtlicher Anerkennung und Sicherung keine pathologische Abirrung vom emanzipatorischen Fortschrittsparadigmas eines Kampfes um Anerkennung, sondern gerade die Erfüllung und Wahrung seiner fundamentalsten sozialontologischen Bedingung. Gleichsam replizierend entwickelt Seyla Benhabib den Begriff der Sittlichkeit dezidiert postaristotelisch über Hegels Rechtsphilosophie: Historisch ausgehend von den rationalen Natur- bzw. Menschenrechten geht Hegel auf ihre sozialen Voraussetzungen und Geltungsbedingungen zurück (191-196). Auch hier ist die Anerkennung gleicher Freiheit oder ihre politische Forderung und Durchsetzung in sozialen Kämpfen immer nur rekursiv auf geteilte Praktiken und der durch sie produzierten „assoziativen Pflichten“ (um mit Miller zu sprechen) zu verstehen. Aber Benhabibs Konsequenz ist diametral, denn die praktischen Assoziationen sind es gerade, die die Identität nationaler Gemeinschaft beständig durchkreuzen und die Sittlichkeit materialistisch immer wieder über ihre nationalen Grenzen und Wertvorstellungen hinaustreiben (196-199). Die kollektive Erkenntnis und Anerkennung dieser universalistischen Tendenz ist, wie Benhabib hervorhebt, freilich kein Selbstläufer, sondern muss (heute) in migrantischen Bewegungen gegen das nationale Privileg hart erkämpft und regelrecht erarbeitet werden (198f.).

Konfrontiert man die Beiträge von Miller und Benhabib miteinander, so scheint sich eine Art Patt zwischen einem nationalistischen und einem tendenziell kosmopolitischen Konzept von Sittlichkeit einzustellen. Unterschiedliche Konzeptionen von Sittlichkeit nähren auf den ersten Blick die Verunsicherung darüber, wie gegenwärtige Kämpfe um Anerkennung normativ zu beurteilen sind. Es scheint eine Uneinigkeit darüber zu bestehen, ob wechselseitige Anerkennung bereits in kooperativen Praktiken fundiert ist, oder in letzter Instanz durch eine kollektive Identität getragen wird. Miller glaubt, kollektive Identität bilde zuallererst die Voraussetzung von Kooperation. Ohne vorrangige Anerkennung dieses Gutes würde genau der Kooperationszusammenhang implodieren, der auch im Hegelschen Modell den sozialen Daseinsgrund der Sittlichkeit bildet. Zwar mag es auch transnationale Kooperationszusammenhänge und daraus folgende „assoziative Pflichten“ geben. Doch Miller muss diesen im Vergleich zur nationalen Verbundenheit einen sekundären Status zuschreiben, möchte er an der „landsmännischen Parteilichkeit“ konsequent festhalten. Dieser bloß sekundäre Status wird im kosmopolitischen Modell grundlegend bezweifelt. Mehr noch und ganz im Gegenteil wird behauptet, jene transnationale Kooperation sei im Grunde der wesentliche Lebenszusammenhang nicht nur moderner, sondern überhaupt sich entwickelnder Gesellschaften, der durch das Denken und Handeln in nationalen Identitätskategorien normativ verletzt, aber auch praktisch abgewürgt würde. Bleibt es bei einem Patt zwischen beiden Auffassungen, oder lässt sich hier doch aus der Sache heraus entscheiden? Christopher Zurns Beitrag enthält diesbezüglich ein vielversprechendes Angebot: Das Patt bzw. die Verunsicherung angesichts rechtspopulistischer Anerkennungskämpfe lässt sich, so seine These, über eine nicht-teleologische, nämlich pragmatistische Konzeption des Fortschritts überwinden; verschiedene Entwürfe der Sittlichkeit und die sich aus ihnen ergebenden Politiken der Anerkennung ließen sich anhand ihrer praktischen Problemlösungskapazität evaluieren und normativ differenzieren (276-281). So würde die betrübliche Bilanz des populistischen Konstitutionalismus – von Venezuela bis Brexit – gegen den zugrundeliegenden Ansatz gleichsam von selbst das Urteil sprechen. Die uns gegenwärtig bekannten Populismen seien alle am Problem einer Wiederbelebung politischer Gemeinschaft gescheitert (281f.). Politisch mag man Zurn zustimmen, doch theoretisch kann sein pragmatistischer Ansatz noch nicht überzeugen. Es stellt sich nämlich an dieser Stelle unvermeidlich das berühmte Problem mit dem Begriff des Problems. Zumindest auf der empirischen Beschreibungsebene stellen sich Probleme vorerst immer relativ zur politischen Zielsetzung dar: Was Zurn als nationalistische Verarmung des politischen Diskurses bemängelt, begrüßt die Gegenseite als homogenisierende Rückbesinnung auf die nationale Identität, welche hilft, den zersetzenden Umtrieben der Pluralität zu begegnen und so das Problem kollektiver Selbstbestimmung gerade zu lösen.

Doch das bedeutet nicht, dass der Pragmatismus die Kritische Theorie in eine Sackgasse führt. Die verstärkte Rückbesinnung Honneths auf den Pragmatismus ist durchaus aussichtsreich. Er ist nämlich stärker, als Zurn ihn präsentiert. Mit dem Pragmatismus ist eine Lösung des Problems mit dem Problem zumindest denkbar. Verschiedene Sittlichkeiten mögen ihr wesentliches Problem unterschiedlich ausbuchstabieren. Allerdings teilen sie als Sittlichkeiten auf der Meta-Ebene doch alle das gleiche Problem, nämlich soziale Praxis im Modus der Versöhnung, der wechselseitigen Anerkennung oder, wie John Dewey es auf Seite 29 seiner China-Lectures sagt, des „Zusammenlebens“ zu vollziehen. In Deweys Sozialphilosophie ist die nur auf den ersten Blick naiv scheinende These enthalten, dass segregierte, d.h. zu starr etwa entlang nationaler Grenzen definierte Sittlichkeiten an ihrem Grundproblem scheitern. Die normative Ausschließung oder Herabstufung der vermeintlich Anderen, die aber gleichwohl an einem gemeinsamen, wenn auch noch unerkannten Kooperationszusammenhang partizipieren, rächt sich – sei es unmittelbar in Form praktischer Dysfunktionalitäten, oder vermittelt über politische Konflikte und epistemische Regressionen. Und dies wiegt, so könnte man Deweys Perspektive contra Miller weiterführen, letztlich schwerer, als der Integrationsverlust durch Ent-Nationalisierung. Erkennt man das Grundproblem von Sittlichkeit in der praktischen Notwendigkeit der Versöhnung, so schlägt das zu Gunsten transnationaler Sittlichkeitsentwürfe und Anerkennungsforderungen aus. Diese allgemeine Problemdefinition erlaubt es zudem auch ein materielles Kriterium für die Anreicherung von Lernprozessen oder die Problematisierung des Problems anzugeben, das sich nicht in abstrakter Dauerreflexivität erschöpft, aber auch keiner historischen Festlegung verfällt. Es bleiben sicherlich noch viele Fragen an den Pragmatismus Deweys offen, etwa zum Verhältnis von praktischer Dysfunktionalität und, bspw., migrantischer Politisierung. Doch die Verunsicherung hinsichtlich der Möglichkeit einer normativen Sortierung gegenwärtiger Anerkennungskämpfe, in deren Lichte die Festschrift gelesen wurde, konnte, so lässt sich bilanzieren, zumindest im Ansatz überwunden werden.

 

Victor Kempf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat unter anderem zur gegenwärtigen Kapitalismuskritik, Axel Honneths Anerkennungstheorie, Populismus sowie dem Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten geforscht. Zusammengefasst kreist sein Habilitationsprojekt um die sozialen und politischen Voraussetzungen deliberativer Demokratie unter dem Vorzeichen einer Privatisierung des Öffentlichen.