In seinem Gastbeitrag „Um jeden Preis?“ in der Süddeutschen Zeitung (17.03.2020) stellt René Schlott fest, unsere offene Gesellschaft würde, beim Versuch sie zu retten, in Wahrheit erwürgt. Er glaubt zu beobachten, dass „mit atemberaubender Geschwindigkeit und einer erschütternden Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung Rechte außer Kraft gesetzt werden, die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind“? Schlott zählt darunter „das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Freizügigkeit, die Freiheit von Lehre und Forschung, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbefreiheit, die Reisefreiheit.“
Erschütternd ist hier zunächst die Unbedarftheit, mit der ein Bündel von Rechten ganz unterschiedlicher Provenienz und gesellschaftlicher Bedeutung als gefährdet dargestellt werden in fahrlässiger Verkennung der politischen Bedeutung von Grundrechten. Was ist „die offene Gesellschaft“? Ein Abstraktum, das seit jeher vor allem dazu gedient hat, staatliche Institutionen in Misskredit zu bringen. Kein Zweifel, Grundrechte sind elementare Voraussetzungen für freie Gemeinwesen. Sie sind unverzichtbare Bestandteile von modernen demokratischen Verfassungen. Wer aber Staaten nur als notwendiges Übel versteht, hat keinen Sinn für die konstitutive Bedeutung von Grundrechten. Sie sind nicht nur der Freibrief für individuelle Willkür, sondern die Spielregeln für ein Zusammenleben, das eben dadurch ein geregeltes Leben ist. Keines der genannten Rechte ist überhaupt uneingeschränkt denkbar. Einige, wie das Recht auf Bildung und die Freiheit der Forschung und Lehre, beruhen auf Leistungen des Staates; andere, wie die Berufsfreiheit, gehen sinnvollerweise einher mit einem Konvolut von Gesetzen, die jede Berufsausübung regeln. Was hier im Namen der offenen Gesellschaft verteidigt wird, sind weniger bestimmte Rechte als ein krudes Konzept von Liberalität, das am meisten von seinen immanenten Widersprüchen gefährdet wird.
Es sind in der Tat vor allem die Umstände, die momentan zu Einschränkungen führen. Die Reisefreiheit ist deshalb gefährdet, weil die Rückkehr ohne staatlich finanzierte Charterflüge schwierig werden dürfte und die Freiheit der Berufsausübung wird vor allem dadurch eingeschränkt, dass Unternehmen in globale Lieferketten eingebunden sind. Eine Gesellschaft ist nicht schon dadurch frei, dass sich Jugendliche unverdrossen zu Corona-Partys treffen können. Wichtiger sind das Prinzip der Gleichheit, das Recht der freien Meinungsäußerung und die Vereinigungsfreiheit. Wichtig ist aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich als Mitglied der politischen Gemeinschaft zu begreifen und dementsprechend zu handeln.
In einer Welt, in der Politikverdrossenheit zum guten Ton gehört und der Staat bestenfalls als Dienstleister akzeptiert wird, mag die gegenwärtigen Aktivität der staatlichen Institutionen unheimlich wirken. Viele, die jede Regulierung als Zumutung betrachten und zugleich permanent von Staatsversagen reden, sind jetzt irritiert, weil nun gerade vom Staat Hilfe in existentieller Bedrohung erhofft wird. Dabei zeigt sich in der nicht mehr zu verleugnenden Krise, dass Staaten offensichtlich die entscheidenden politischen Akteure sind. Ob die Maßnahmen den erwünschten Erfolg zeitigen, kann niemand verlässlich prognostizieren. Aber von anderer Seite ist kaum Hilfe zu erwarten.
Generell scheint sich jedoch ein grundlegendes Einverständnis mit den Maßnahmen abzuzeichnen. Auch dies beunruhigt wiederum manche Beobachter, die den Staat vor allem als Objekt der Kritik betrachten. Hier finden sich in ungewohnter Eintracht die Verteidiger des autoritären Liberalismus, die in vager Anlehnung an Hayek meist mit handfesten politischen Programmen aufwarten, und die postmodernen Intellektuellen im Gefolge von Deleuze, Guattari und Foucault. Die eine Gruppe will den Staat reduzieren auf einen minimalen Apparat, der nur die ungehemmte Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte flankiert; die anderen betrachten den Staat als ideologisches Konstrukt, das die wahren Mechanismen der Macht kaschiert. Unerachtet der unterschiedlichen politischen Stoßrichtungen gleichen sich die Strategien und die Begrifflichkeit. „Mikropolitik“, ein Begriff, der erstmals in Tom Burns, “Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change auftaucht (ASQ 6, 1961/62) und im neoliberalen Kontext von Madsen Pirie (Micropolitics, 1988) wieder aufgegriffen wird, ist ein Schlüsselkonzept, das auf beiden Seiten dazu dient, den Staat zu delegitimieren. Ob Mikropolitik als Technologie betrachtet wird, mit der sich das Social Engineering optimieren lässt, weil man Menschen dazu bringen kann, sich Ordnungen zu fügen, die sie niemals freiwillig gewählt hätten, wie es der autoritäre Liberalismus vorsieht (s. die Analyse von Grégoire Chamayou, Die unsichtbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, 2019), oder ob Staaten und staatliche Organisationen entlarvt werden als Arenen mikropolitischer Prozesse und Kämpfe, in denen individuelle und kollektive Akteure ihre Machtspiele spielen (s. Félix Guattari, Mikro-Politik des Wunsches, 1977), hier wie dort scheint der Staat als Akteur obsolet zu sein.
Beiden Gruppen, die diese fatale Affinität kaum begreifen werden, dürfte die gegenwärtige Entwicklung höchst ungelegen kommen. Denn plötzlich ist staatliches Handeln gefragt: von den Bürgerinnen und Bürgern, weil sie um ihre Gesundheit fürchten und eine verlässliche Versorgung in allen Lebensbereichen erwarten; von der Wirtschaft, weil sich zeigt, wie labil die sonst so mächtigen Unternehmen sind. Staaten scheinen die politischen Akteure der Stunde zu sein. Es könnte sich dabei auch abzeichnen, dass der Staat mehr ist als ein Dienstleister und Distributeur von Hilfsmaßnahmen. Die staatlich verfasste Gemeinschaft, so scheint es, wird plötzlich als Schicksalsgemeinschaft erfahren. Das liegt nicht nur daran, dass in den Verlautbarungen vieler Politiker die Kriegsmetaphorik blüht. Rhetorisch wird alles aufgeboten, um die Akzeptanz der Maßnahmen zu befördern, als gelte es, in eine Schlacht wie am St. Crispins Day zu ziehen. Tatsächlich geht es um eine Stufe der Solidarität, die über das alltägliche Maß hinausgeht. Welcher Transfer an Mitteln nötig und realisierbar sein wird, lässt sich zurzeit kaum abschätzen. Aber dass das Notwendige nur möglich wird auf der Basis eines Patriotismus, der nicht nur ein grundsätzliches Einverständnis mit staatlichen Aktionen bedeutet, sondern das Bewusstsein, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, ist kaum bezweifelbar. Das urdemokratische Prinzip „We the People“ könnte wider Erwarten Aktualität gewinnen.
Die Maßnahmen selbst, auch wenn sie primär als Einschränkungen erfahren werden, müssen nach demokratischem Verständnis von den Betroffenen approbiert werden. Der Ausnahmezustand ist gewiss nicht der ideale Modus demokratischer Willensbildung. Aber die momentan zu beobachtende Intensität, mit der vitale politische Fragen im öffentlichen Bewusstsein beleuchtet, diskutiert und kritisiert werden, lässt erahnen, was politische Willensbildung sein kann. Es besteht immer die Gefahr, dass Experten das politische Handeln determinieren; aber nicht auf Experten zu hören, wäre in Fragen der Gesundheit nicht vertretbar. Die Entscheidungen müssen jedoch in jedem Falle auf der politischen Ebene getroffen werden. Nie sonst im politischen Leben wird so deutlich, welche Verantwortung auf politischen Entscheidungsträgern lastet. Deshalb haben extreme Kräfte derzeit keine Hochkonjunktur; zumindest solange der gesellschaftliche Zusammenhalt noch gewährleistet ist und der Einsatz von Mitteln maßvoll und vertretbar ist.
Vielleicht birgt die Krise auch die Chance, zu klären, was die politische Gemeinschaft ist, was die Verfassung als Ordnung des Staates ausmacht und welche Bedeutung die Behandlung politischer Fragen in der Öffentlichkeit hat. Krisen können kathartisch wirken. In der Krise zeigt sich, worauf es ankommt und inwiefern die Freiheit, die wir genießen, die Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte und das friedliche Zusammenleben davon abhängen, dass Politik als Gestaltung des gemeinsamen Lebens gelingt. Jetzt ist die Zeit der Politik gekommen.
Georg Zenkert Professor für Praktische Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit dem Schwerpunkt Politische Philosophie.
„Wer aber Staaten nur als notwendiges Übel versteht, hat keinen Sinn für die konstitutive Bedeutung von Grundrechten. Sie sind nicht nur der Freibrief für individuelle Willkür, sondern die Spielregeln für ein Zusammenleben, das eben dadurch ein geregeltes Leben ist“. Nun, das Missverständnis liegt hier doch eher auf Seiten des Autors. Die Grundrechte schützen das Individuum vor der Übermacht des politischen Kollektivs. Richtig ist, dass die meisten Grundrechte nicht uneingeschränkt gelten. Aber ihr Sinn ist dennoch „subjektiv“ im Sinne Jellineks. Vermeintlich ironische Formulierungen wie „Der Ausnahmezustand ist gewiss nicht der ideale Modus demokratischer Willensbildung“ irritieren mich viel eher als die plausible Sorge, historische Errungenschaften stünden derzeit auf dem Spiel.
„Erschütternd ist hier zunächst die Unbedarftheit, mit der ein Bündel von Rechten ganz unterschiedlicher Provenienz und gesellschaftlicher Bedeutung als gefährdet dargestellt werden in fahrlässiger Verkennung der politischen Bedeutung von Grundrechten.“
Na, die Unbedarftheit darf man dann wohl zurückgeben, lieber Herr Zenkert. Aufgabe des liberalen Staates ist doch gerade, die Grundrechte zu GEWÄHRLEISTEN. Will er sie (wenn auch aus guten Gründen) einschränken, muss er das begründen und die Einschränkung muss auf verhältnismäßige Art und Weise erfolgen (nicht der Bürger muss sich für die Ausübung seiner Rechte rechtfertigen!). Dass man bei den derzeitigen Maßnahmen der Exekutive genau daran zweifeln kann, hat doch mit „fahrlässiger Verkennung“ nichts zu tun. Im Gegenteil: Wer in Krisenzeiten rechts- und verfassungswidrig handelt, hat das Wesen des liberalen Staates nicht verstanden! Nichts gegen einen starken, handlungsfähigen Staat (den braucht es natürlich), aber: Der Staat ist nicht um seiner selbst willen da, sondern zum Schutz des Individuums und seiner Rechte. Und zu nichts sonst…
Zu der (spannenden!) Diskussion möchte ich hinzufügen und zu bedenken geben: Eingeschränkt sind gegenwärtig (nur) bestimmte Modi des Freiheitsgebrauchs: Auch im Home Office kann ich mich auf die Berufsfreiheit berufen, bin ich Vereins- und Parteimitglied usw. Digitale Versammlungen kann ich in dem Maße abhalten, wie es Bandbreite und Netzqualität aktuell erlauben. Ende April werden wir sehen, wie gut wir auch das universitäre Studium ins Netz verlegen können. Ein wunderbares Experiment in Sachen digitaler Transformation…