Auf der Baustelle der Repräsentation. Ein Tagungsbericht aus Duisburg

Demokratische Repräsentation konstruktivistisch zu denken, bedeutet sowohl die natürliche Gegebenheit des zu repräsentierenden Demos zu hinterfragen als auch anzuerkennen, dass so etwas wie eine neutrale Abbildung desselben unmöglich ist. Gleichzeitig bleibt die repräsentative Form für heutige Gesellschaften essentiell, da vollständige Selbstvertretung im modernen politischen System kaum durchführbar ist. Wie können wir unter diesen Voraussetzungen demokratische Repräsentation verstehen, ohne in eine Renaturalisierung des sogenannten Volkes zurückzufallen oder Präsentismus als notwendige Konsequenz von Repräsentationskritik zu sehen? Um diesen Fragenkomplex drehte sich die Tagung „Die Fabrikation von Demokratie: Baustellen performativer politischer Repräsentation“, die am 5. und 6. Dezember an der Universität Duisburg-Essen stattfand und von Renate Martinsen (Duisburg-Essen) vom Arbeitskreis „Konstruktivistische Theorien der Politik“ und Jan-Peter Voß (Berlin) vom Arbeitskreis „Politik, Wissenschaft und Technik“ organisiert wurde.

In ihrer Begrüßung betont Martinsen nicht nur den Wunsch nach einem produktiven Austausch zwischen verschiedenen methodologischen und theoretischen Perspektiven, was sich auch im interdisziplinär gestalteten Tagungsprogramm widerspiegelt, sondern auch deren Zusammenführung unter dem Dach des konstruktivistischen Paradigmas, das sowohl Demokratie als auch Repräsentation als performativ begreift. Wenn der Untertitel der Veranstaltung auf die Metapher der Baustelle verweist, die die Assoziation mit einem vorübergehenden Fertigungsprozess auf dem Weg zu einem festgelegten Ziel hervorruft, dann macht Martinsen gleich zu Beginn deutlich, dass unter den theoretischen Vorzeichen des Konstruktivismus politische Repräsentation immer halbfertig, das heißt im Bau begriffen, bleiben muss.

Eines von drei zentralen Themen der Tagung führt Jan-Peter Voß in seinem Eröffnungsvortrag ein: das Zusammenspiel von Theorie und Empirie. Ausgehend von der Frage wie Demokratie in der Praxis gemacht wird, stellt Voß ein Forschungsprogramm vor, das konkrete Praktiken und Apparaturen politischer Repräsentation daraufhin untersucht, wie beispielsweise das Volk als Gesamtheit konstruiert wird oder inwiefern Architektur, Flaggen oder Symbole als Repräsentanten verstanden werden können.

Die Verbindung von Theorie und Empirie steht ebenso beim Vortrag von Jenni Brichzin (Chemnitz) im Zentrum, die unter Bezugnahme auf Theodor Adorno und Gerard de Vries dafür plädiert, dass insbesondere Demokratietheorien in Dialektik mit politischer Wirklichkeit konzipiert und sich ihrer nicht intendierten Folgen bewusst werden müssen. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Beiträge von Tanja Bogusz (Kassel) und Hagen Schölzel (Jena), die zwei unterschiedliche Zugänge zu einem experimentellen Verständnis von Demokratie präsentieren—einerseits basierend auf dem Erfahrungsbegriff des Amerikanischen Pragmatismus; andererseits auf Grundlage von Bruno Latours Analyse von Techniken, die über die traditionellen Medien, Subjekte und Begriffe der Repräsentationstheorien hinausgehen.

Der zweite inhaltliche Knotenpunkt hängt eng mit ersterem zusammen, widmet sich aber noch expliziter der Frage, wer der Demos ist bzw. wie er sich konstruiert. Zwei Beispiele dafür wie  bestimmte Praktiken performativer Repräsentation für theoretische Reflexion produktiv gemacht werden können, geben Martina Klausner (Berlin) und Helge Schwiertz (Osnabrück). Klausner präsentiert Ergebnisse einer ethnographischen Studie zu Beteiligungsverfahren von Menschen mit Behinderungen in der Berliner Senatsverwaltung und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation eines „behinderten demos“. Und Schwiertz verknüpft qualitative Forschung zur Selbstorganisation von Jugendlichen mit prekärem Aufenthaltsstatus mit dem radikaldemokratischen Anspruch, Freiheit und Gleichheit in konfliktiver Praxis gegen nationalstaatlich institutionalisierte Demokratie zu aktualisieren. Mit der Konstruktion des digitalen Demos wird ein zusätzlicher und ebenso aktueller Aspekt in die Diskussion eingebracht. Barbara Sutter (München) behandelt diese Frage vor allem in Bezug auf Effekte der Digitalisierung für bürgerschaftliches Engagement und Florian Eyert (Berlin) zeigt in kritischem Anschluss an das Feld der Computational Social Sciences Gefahren und Potenziale von „algorithmic governance“ auf.

Der vornehmlich theoretische Beitrag von Oliver Marchart (Wien) wendet sich sowohl gegen das liberale Verständnis von Repräsentation als auch gegen das direktdemokratische Phantasma totaler Selbstrepräsentation. Sein negatives Konzept der Repräsentation basiert auf der Anerkennung der unüberwindbaren Diskrepanz zwischen Repräsentiertem und Repräsentant. Gerade in dieser Ermangelung eines vollständig repräsentierbaren Volkes und dem gleichzeitigen, konstitutiv zum Scheitern verurteilten Versuch der Repräsentation liegt die Spezifizität moderner Demokratie. Insbesondere das radikaldemokratische Projekt muss diese Negativität im Herzen des Repräsentationskonzepts nicht nur akzeptieren, sondern in ihrer Konflikthaftigkeit affirmieren.

Der dritte Schwerpunkt dieser Tagung nimmt die Frage der Repräsentationskritik in den Fokus. Marina Martinez Mateo (Frankfurt) argumentiert, dass nicht nur das Konzept der Repräsentation performativ gedacht werden muss, sondern dass auch das Subjekt der Repräsentationskritik nur im Wechselspiel mit dem Objekt der Kritik verstanden werden kann. Wer Repräsentation kritisiert, muss der Versuchung eines präsentistischen Demokratieverständnisses widerstehen und die eigene Position als konstruiert und unabschließbar anerkennen, um nicht eine Renaturalisierung des Volksbegriffs vorzunehmen. Auch Nora Sternfeld (Kassel) plädiert in ihrem abschließenden Beitrag dafür, Repräsentationskritik nicht mit der Bejahung eines Präsentismus zu verwechseln. Post-repräsentatives Kuratieren geht dementsprechend nicht im Event auf, sondern muss das radikaldemokratische Museum als öffentlichen Ort der Aushandlung der grundlegenden Frage der Volksherrschaft verstehen: Wer sind alle? Über die Herausforderung des Archivs, die Wiederaneignung des Raumes sowie die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit ist das radikaldemokratische Museum für Sternfeld eine zentrale Ressource, um alternatives Wissen zu produzieren, zu vermitteln und so Repräsentationskritik ohne Aufgabe des Anspruchs auf Repräsentation zu üben.

Es ist gerade diese Rückkehr zur Frage der Repräsentation ohne die konstruktivistische Einsicht in die Gemachtheit eines kollektiven Subjekts zu verleugnen, die den roten Faden dieser Tagung in Duisburg ausmacht. Die Mehrheit der Vortragenden arbeitet explizit oder implizit daran, Repräsentationskritik aus der Falle des Präsentismus zu befreien und Demokratie als fabriziert, aber nicht konturlos zu konzipieren. Vor diesem Hintergrund erscheint der interdisziplinäre Zuschnitt der Konferenz als besonders produktiv, denn eine Praxisorientierung offenbart die ohnehin ständig stattfindenden konfliktiven Aushandlungsprozesse um Definitionen des Gemeinwohls oder des Volkes und macht sie für theoretische Reflexion nutzbar. Obwohl trotz der oft beschworenen Einheit von Theorie und Empirie eine gewisse (mindestens) methodologische Distanz über die zwei Tage spürbar bleibt, hat es diese Tagung dennoch insbesondere durch die Fokussierung auf die gemeinsame Baustelle der politischen Repräsentation geschafft, einen produktiven disziplinübergreifenden Dialog zu ermöglichen.

Sara Gebh ist Universitätsassistentin in Politischer Theorie an der Universität Wien und PhD Candidate in Politics an der New School for Social Research. Sie arbeitet an der Schnittstelle von politischer Ideengeschichte und aktuellen Ansätzen zur Radikalisierung von Demokratie. Ihre Dissertation untersucht das Verhältnis von Demokratie und Konflikt und entwickelt das Konzept einer demokratischen Stasis.