Frankreich ist am 3. Oktober zum wiederholten Mal Opfer eines Terroranschlags geworden. Als Reaktion hat Staatspräsident Macron in seiner Gedenkrede das Projekt einer „Gesellschaft der Wachsamkeit“ ausgerufen. Drückt dieses Vorhaben einerseits den berechtigten Wunsch nach Prävention aus, so ist diese Idee doch andererseits auch eine Chiffre für die Schäden, die Recht und Gesellschaft unter Maßgabe eines stetig expandierenden Sicherheitsstrebens drohen. Antoine Garapon und Michel Rosenfeld gelingt es in ihrem 2016 erschienenen Buch Démocraties sous stress anschaulich, die Aushebelung des Rechtsstaats im Anti-Terror-Kampf als Transformation der Temporalität des Rechts offenzulegen. Im Anschluss daran stellt sich auch die Frage, was der Aufruf zur Überwachung „kleiner Gesten“ für die demokratische Kultur bedeutet.
Der Kampf gegen den inneren Feind: Macrons Aufruf zu einer „Gesellschaft der Wachsamkeit“
Nachdem ein langjähriger Bediensteter der Pariser Polizeipräfektur am 3. Oktober 2019 vier seiner Kolleginnen und Kollegen brutal getötet hatte, konnte man im Land zunächst trotz des Schocks ein leises Aufatmen hören, als Innenminister Christophe Castaner in einer ersten Stellungnahme die Morde als Arbeitsplatz-Drama beschrieb. Kurze Zeit später wurde jedoch bekannt, dass sich der Täter Mickaël Harpon seit einiger Zeit in der Pariser Salafistenszene radikalisiert hatte, so dass sich die Morde in die mittlerweile lange Serie islamistischer Terrorangriffe in Frankreich seit dem Anschlag im Januar 2015 auf die Redaktion von Charlie Hebdo einreihen. Da Harpon als Informatiker dem französischen Geheimdienst unterstellt war, ist in Frankreich die ständig schwelende Debatte über die „inneren Feinde“ der Republik wieder neu angefacht worden.
In seiner Gedenkrede für die Toten am 7. Oktober verwies Präsident Macron auf die stetig verschärften Sicherheitsgesetze, betonte aber auch, dass der Kampf gegen die „islamistische Hydra“ nicht allein Aufgabe der staatlichen Behörden sein dürfe. Prävention verlange von allen Bürgerinnen und Bürgern, aufmerksam gegenüber jeglichen Anzeichen der Radikalisierung zu sein. Als passende Gesellschaftsform brachte er das Modell einer „société de vigilance“ ins Spiel, in der es darauf ankomme, „in der Schule, am Arbeitsplatz, in den religiösen Kultstätten, in der eigenen Umgebung Laxheiten, Abweichungen, diese kleinen Gesten, die eine Abkehr von den Gesetzen und Werten der Republik verraten, zu erkennen“. Nun lässt sich kaum übersehen, dass sich in Frankreich (aus einer Vielzahl von Gründen, die einer eigenen Analyse bedürfte) an vielen Orten islamistisch geprägte parallelgesellschaftliche Strukturen (im universalistischen Selbstverständnis Frankreich aufschlussreicherweise „Kommunitarismus“ genannt) gebildet haben, die politischen Radikalismus oder sogar terroristische Ideologien nähren. Gegen diese entschlossen vorgehen zu wollen, ist erst einmal eine nachvollziehbare und sogar notwendige Absicht. In der Praxis bringt das aber die Gefahr einer „Autoimmunisierung“ mit sich, wie die Rechtswissenschaftler Antoine Garapon und Michel Rosenfeld in ihrem 2016 erschienenen Buch „Démocraties sous stress“ argumentieren (120), aus dem sich einige demokratie- und rechtstheoretische Lehren ziehen lassen, die über die französische Debatte hinausreichen.
Das Recht in der gestressten Demokratie und die Normalisierung des Ausnahmezustands
Das medizinische Bild, dass terroristische Attentate Rechtsstaaten zu autoimmunen Reaktionen verleiten, übernehmen die Autoren von Jacques Derridas Analyse des 11. September und seiner Folgen. Ein Organismus bildet hierbei gegen externe Angriffe Immunreaktionen aus, die sich aber zugleich gegen den eigenen Körper richten. Diese Form der Selbstvergiftung nehmen Garapon und Rosenfeld nun zunächst in den offensichtlichen Fällen wahr, in denen der von Rechtsstaaten geführte globale Anti-Terror-Kampf unter drastischer Missachtung internationalen und häufig auch nationalen Rechts operiert: durch „präemptive“ Angriffskriege, drohnenbasierte „targeted killings“ oder unbegrenzte Haft für Insassen in Guantanamo oder andernorts (120–130). Gegenüber diesem offenen Rechtsbruch fallen die Reaktionen auf der je nationalen Ebene subtiler, aber letztlich kaum weniger selbstzerstörerisch aus. Das Problem hierbei ist, dass im Namen der Sicherheit Straf- und Polizeirecht so umgebaut werden, dass dieses Recht den Prinzipien liberalen Rechts oft kaum noch genügt – und Garapon und Rosenfeld zeigen eindringlich, dass dies vor allem auf die Verletzung der temporalen Ordnung oder, wie man mit Luhmann sagen könnte, der „Eigenzeit“ des Rechts (Luhmann 1995: 211–213) zurückzuführen ist.
Kernaufgabe des klassischen Strafrechts ist die Aufklärung und Bestrafung von begangenen Verbrechen. Die Sicherheitsbehörden müssen aber früher ansetzen, um künftige Anschläge möglichst zu verhindern. Über die Ursachenbekämpfung per Prävention hinaus führt dies, so die Autoren, inzwischen zu einer weitreichenden Strategie der geheimdienstlich-technologisch basierten Vorhersage möglicher Attacken im Zeichen der Risikominimierung, mit gravierenden Folgen für das Recht: „Die Risikophobie führt eine prädiktive Vorstellung der Justiz herbei, die wiederum eine neue Wahrnehmung des Subjekts auf Grundlage seiner Virtualitäten nach sich zieht. Deshalb ersetzt das Dispositiv des Kampfes gegen den Terrorismus den Begriff der Aktivität durch den des Verhaltens“ (132). Nach den Anschlägen im November 2015 mit weit über hundert Toten wurde das Gesetz zum Ausnahmezustand in genau diesem Sinn geändert (Cassia 2016: 78–79).
An dieser Stelle bringen die beiden Rechtstheoretiker dann jene Figur ins Spiel, auf die Macrons Rede abzielt: jene des oder der „Radikalisierten“ als inneren Feindes, selbst nur eine Form des „gefährlichen Individuums“, dessen Genese Michel Foucault schon in der Rechtspsychiatrie des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat, mit dem im Zeichen des Terrorismus aber ein neues Gefährdungspotential verbunden ist. Bei dem oder der Radikalisierten zählen nicht mehr die verübte Tat, auch nicht die konkrete Vorbereitung einer solchen, sondern die Wahrscheinlichkeit der (terroristischen) Straffälligkeit. Das setzt nicht nur die Unschuldsvermutung und im Übrigen auch tendenziell die von Hobbes hochgehaltene private Gesinnungsfreiheit außer Kraft, sondern mutet dem Recht prognostische, eben „prädiktive“ Fähigkeiten zu, was diesem, das ja ganz zentral für die zukunftsgewandte Stabilisierung normativer, aber eben nicht kognitiver Erwartungen zuständig ist (Luhmann 2008: 40–52; Opitz 2011), gar nicht gut bekommt. Big data in Verbindung mit algorithmenbasierter Software führt zunächst zu einer Kategorisierung als radikalisiert (wobei jede erfasste „kleine Geste“ entscheidend sein kann), woran sich einschneidende freiheitsbeschränkende Polizeimaßnahmen anschließen können, für deren Anfechtung wenig prozedurale Mittel zur Verfügung stehen (Amnesty International 2018); und wenn man sich vor Augen führt, welchen Vorbildcharakter die vor allem in der angelsächsischen Welt schon weitverbreiten und zu Recht hochumstrittenen Techniken eines „predictive policing“ oder sogar „crime forecasting“ (Završnik 2019) haben könnten, scheint eine Minority Report-Dystopie à la Philip K. Dick gar nicht mehr undenkbar, nur dass selbstlernende Algorithmen an die Stelle mutierter menschlicher „precogs“ zu treten drohen.
Zugegeben, eine solche dramatische Konstellation liegt noch in weiter Ferne, aber Garapon und Rosenfeld ist es gelungen, den einem solchen Szenario zugrundeliegenden Paradigmenwechsel hin zu einer säkularisierten „Prädestinationstheorie ohne rettende Gnade“ (134) ebenso wie die Entwicklung einer „post-pönalen Justiz, die dem Schutz vor Risiken Vorrang vor der Rechtmäßigkeit einräumt“ (142), vor Augen zu führen. Formal befindet sich Frankreich seit zwei Jahren nicht mehr im Ausnahmezustand – aber Ulrich Beck hatte schon vor mehr als einem Jahrzehnt in seiner „Weltrisikogesellschaft“ argumentiert, dass sich die ständige Antizipation der Katastrophe als Ausnahme in den Normalzustand einschreibe (Beck 2008: 146–152). Garapon und Rosenfeld greifen dies implizit auf, wenn sie den heutigen Demokratien einen Zustand jenseits des zeitlich limitierten und damit eingehegten Ausnahmezustands zuschreiben, nämlich einen von ständiger Bedrohung geprägten „état de stress“ (174). Dieser drückt sich auch sichtbar in der gegenwärtigen politischen Debatte in Frankreich aus.
Von der Wachsamkeit zum Generalverdacht? La République et les autres
Es war abzusehen, dass sich Émmanuel Macrons Wunsch, die Tugend der Wachsamkeit, aber nicht das Übel des „korrumpierenden Verdachts“ zu animieren, nicht erfüllen würde. Statt kleiner Gesten steht in den letzten Wochen wieder einmal – auch schon im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2022, die erneut ein wegweisendes Duell zwischen Macron und der Vorsitzenden des Rassemblement National, Marine Le Pen, hervorbringen könnten – ein altbekanntes Symbol im Mittelpunkt identitätspolitischer Auseinandersetzungen: das Kopftuch. Wenige Tage nach Macrons Rede forderte ein RN-Abgeordneter im Regionalrat Bourgogne-Franche-Comté in Dijon eine Zuschauerin auf der Tribüne „im Namen unserer laizistischen Prinzipien“ (bei gleichzeitiger Ignoranz des Gesetzeslautes) auf, ihr Kopftuch abzulegen, mit direktem Bezug auf die Worte des Staatspräsidenten: „Das gehört auch zur bürgerlichen Wachsamkeit“. Die angegriffene Frau hatte ihren Sohn und andere Kinder auf einem Schulausflug begleitet, der passenderweise unter dem Motto „Ma République et moi“ dem Kennenlernen demokratischer Institutionen dienen sollte. Dieser verbale Angriff des Abgeordneten, der sich in der Folge noch drastischer fortsetzte, ist nur ein Beispiel dafür, wie Marine Le Pens Partei in den letzten Jahren versucht, ihre Islamophobie als republikanische Verteidigung des Laizismus zu verkaufen, den sie selbst jahrzehntelang bekämpft hat. Aber bei aller öffentlichen Ablehnung war der Aktion der Erfolg beschieden, dass jetzt auch Politiker und Politikerinnen anderer Parteien für eine weitere Einschränkung religiöser Symbole im öffentlichen Raum werben – der französische Senat hat gerade, beinahe zeitgleich mit einem bewaffneten Angriff eines ehemaligen Front National-Aktivisten auf eine Moschee in Bayonne, mit konservativer Mehrheit einen entsprechenden Gesetzesentwurf verabschiedet.
Bei diesem Kampf um das öffentliche Gesicht der Republik droht aber eine wesentliche demokratietheoretische Frage unterzugehen, die Macrons Rede aufwirft: Wie könnte eine Trennung zwischen Wachsamkeit und Generalverdacht denn überhaupt praktisch aussehen, wenn man ein daueraktives Alarmsystem für kleine Gesten einmal propagiert hat? Für Staatsbedienstete, gerade für solche mit sicherheitsbezogenen Aufgaben, mag man nach dem letzten Attentat mit guten Gründen eine Verschärfung des Kontrollsystems fordern – aber wo beginnen im gesellschaftlichen Alltag die nicht mehr zu tolerierenden und gar meldepflichtigen Devianzen? Was soll überhaupt der Maßstab für die Treue zu republikanischen Werten sein, wenn bloße Rechtsbefolgung offenbar nicht reicht – denn schon kleine Gesten, die suggerieren, sich potentiell von den Gesetzen abzuwenden, sind ja verdächtig? Es ist eine bedenkliche Entwicklung, wenn Sicherheitsbehörden und Justiz Radikalisierung mit der massiven Einschränkung von Grundrechten und zweifelhaften Verfahren bekämpfen. Aber die gesamte Bevölkerung zum Komplizen eines Systems der Wachsamkeit machen zu wollen, ist vermutlich der noch gefährlichere Schritt. Er mag vielleicht im Einzelfall der Sicherheit dienen – größer ist aber die Gefahr des generalisierten Misstrauens, das nur gesellschaftlichen Unfrieden schaffen kann.
Es ist eine große zivilisatorische Leistung des liberalen, demokratischen Rechtsstaats, dass er Gesinnungs- und (im verfassungsrechtlichen Rahmen) Meinungsfreiheit protegiert und neben dem Verlangen nach Rechtstreue – bei allen faktischen gouvernementalen Praktiken – kein Verhalten normieren möchte. Eine solche Toleranz schließt das agonistische Ringen um Werte und Prinzipien als Teil einer vitalen Demokratie ausdrücklich mit ein. Eine Verdachts- und Kontrollgesellschaft hingegen schadet zwangsläufig dem Rechtsstaat und der demokratischen Kultur.
Jan Christoph Suntrup ist Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn und derzeit Forschungsstipendiat am Deutschen Historischen Institut und Visiting Fellow an der École de droit de Sciences Po in Paris. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Theorie und Ideengeschichte, Demokratietheorie, politischen Kulturforschung und empirischen und theoretischen Erforschung von Recht und Verfassung. Als langjähriger Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Käte Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ der Universität Bonn verfasste er seine Habilitationsschrift Umkämpftes Recht. Zur mehrdimensionalen Analyse rechtskultureller Konflikte durch die politische Kulturforschung. Derzeit arbeitet er an einem Buch zu den rechtlichen, politischen und symbolischen Formen des Ausnahmezustands.
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