— Nach den Überlegungen zum Begriff der Solidarität von Ulf Tranow und Stefan Wallaschek in der letzten Woche diskutiert Lukasz Dziedzic im Rahmen unserer Solidaritäts!?-Debatte heute unterschiedliche Solidaritätskonzeptionen in der EU und ihr Verhältnis zueinander. —
Solidarität ist im Zuge der mannigfaltigen Krisen der europäischen Integration der letzten beiden Jahrzehnte zu einem inflationär gebrauchten Begriff geworden. Dabei scheint die Verschiedenheit der Kontexte, in denen der Begriff eingeworfen wird, sowie die daraus folgende begriffliche Unschärfe desselben, jenen KritikerInnen auf den ersten Blick Recht zu geben, die fordern, dass der Solidaritätsbegriff der politischen Rhetorik überlassen werden sollte. Doch wie dieser Beitrag anhand der sogenannten Flüchtlingskrise zeigt, kann man im Kontext dieser Krisen durchaus klar abgrenzbare und teils komplementäre Solidaritätskonzepte beobachten, die eine gewichtige Rolle im Prozess der politischen Integration der Europäischen Union übernehmen.
Zu unterscheiden ist am Beispiel der sogenannten Flüchtlingskrise in der Europäischen Union dabei zuallererst zwischen einer Form von Gruppensolidarität zwischen den Mitgliedstaaten (und ihren Völkern) und einer Solidarität mit anderen, die außerhalb dieser Gruppe stehen, aber von dieser ungerecht behandelt oder unterdrückt werden – also um die Anerkennung ihrer verkannten Rechte kämpfen.
Gruppensolidarität
Solidarität als ein Gruppenphänomen, oder Gemeinschaftssolidarität in der Terminologie von Bayertz (49), bezieht sich auf die spezifischen Beziehungen zwischen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe – ob Familie, Staat, oder Staatenverbund – und die sich aus diesen Gruppenbeziehungen ergebenden gemeinschaftlichen normativen Verpflichtungen, die über das hinausgehen was rechtlich oder moralisch geboten ist. Sie resultieren aus der inhärenten Abhängigkeit von, oder Verwundbarkeit durch, spezifische andere oder spezifische Institutionen, auf die die Gruppenmitglieder aus oft nicht selbstgewählten Gründen angewiesen sind. Diese Verpflichtungen erfordern eine Form von ethischem Handeln innerhalb dieser Gruppen, welches nicht prinzipiell in einem Kantschen Sinne universalisierbar ist (O´Neill, 191) – etwas was in einem Hegelschen Sinne als Sphäre des Sittlichen ausgewiesen werden könnte. Habermas (102ff) unterscheidet dabei einen solchen Solidaritätsbegriff von dem der Sittlichkeit dadurch, dass, während der letztere auch auf prä-politische Verhältnisse wie solche in der Familie anwendbar ist, der erstere politischen Formen der Vergemeinschaftung inhärent ist. Die normativen Verpflichtungen einer Gruppensolidarität, die sich aus solchen Gruppenverflechtungen ergeben, wurden teilweise auch als Rollenverpflichtungen (Hardimon, 334) oder gemeinschaftliche Verpflichtungen (associative obligations, Dworkin, 196) bezeichnet.
Gruppensolidarität, ob mechanische Solidarität innerhalb kleiner homogener Gruppen, organische Solidarität in großen arbeitsteiligen Gesellschaften, oder anderen Formen solidarischer Vergemeinschaftung, wie zum Beispiel zwischen Staaten als institutionellen Akteuren in einer Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union, erfordert dabei eine gewisse Bandbreite an solidarischen Verhaltensweisen. Eine nützliche Konzeptualisierung solcher Verhaltensweisen, aufbauend auf der sozialpsychologischen Arbeit zum Solidaritätsbegriff von Siegwart Lindenberg, wird von Raimo Tuomela bereitgestellt (vgl. auch Shelby, 71). Tuomela (242ff) entwickelt im Zuge seiner Arbeit zur Sozialontologie des kollektiven Handelns einen Gruppensolidaritätsbegriff aufbauend auf seiner Unterscheidung zwischen einem Handeln im Ich-Modus und einem Handeln im Wir-Modus. Handeln im Wir-Modus bedeutet, aufgrund einer gemeinschaftlichen Verpflichtung aufbauend auf einem gemeinsamen Ethos der Gruppe und im Bewusstsein, dass gewisse kollektive Projekte nur gemeinschaftlich bewerkstelligt werden können, zu handeln. Laut Tuomela sind Gruppenakteure, die im Wir-Modus handeln, notwendigerweise solidarisch. Dieses solidarische Handeln äußerst sich dann im Verhalten der Gruppenmitglieder dadurch, dass sie kooperativ handeln anstatt Trittbrett zu fahren, die Vorteile und Belastungen des gemeinsamen Projekts gerecht verteilen, sich im Bedarfsfall helfen, ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen zeigen sowie sich loyal gegenüber dem Ethos (den Gruppenzielen und Werten) der Gruppe verhalten.
Mit Blick auf zum Beispiel die gemeinschaftliche Gewährung von Asyl durch die Europäische Union zeigt sich, dass die soeben genannten solidarischen Verhaltensweisen nur mangelhaft vertreten sind – es fehlt an fairer Lastenverteilung, solidarischer Hilfe in Notfällen sowie gegenseitigem Vertrauen und einer Loyalität gegenüber den Gemeinschaftszielen – dem Ethos der EU. Ein solches Ethos, ein gewisses Selbstverständnis der EU als eine politische Gemeinschaft, kann zum Beispiel aus den Artikeln zwei und drei des Vertrages über die Europäische Union – den Werten und Zielen der EU – abgeleitet werden. Die Ziele, wie die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ohne Binnengrenzen – und nicht zuletzt eben auch Werte, wie Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, und Wahrung der Menschenrechte – erfordern dabei eine gewisse Form des solidarischen Handelns zwischen den Mitgliedstaaten, damit diese kollektiven Projekte realisiert werden können.
Solidarität mit anderen
Neben der mangelhaften Gruppensolidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union kann man, teilweise verstärkt auftretend durch den Mangel der ersteren auch eine Form von Solidarität mit anderen, die nicht Teil der Gruppe sind, ausmachen – im Kontext der EU Asylpolitik zum Beispiel die Solidarität mit Schutzsuchenden.
Aufgrund einer mangelhaften gemeinschaftlichen Verpflichtung und Loyalität gegenüber dem Ethos der EU kommt es massenhaft zu einer ungerechten Behandlung von Schutzsuchenden – etwas was man empirisch den fast täglichen Medienberichten zur beschämenden Behandlung von Schutzsuchenden entnehmen kann. Ein Teilaspekt dieses europäischen Ethos ist ja immerhin die Wahrung der Menschenrechte aller, und nicht nur der EU BürgerInnen Artikel 67(2) AEUV fordert im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik beispielsweise eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen (eng. „fair treatment“). Gegen diese Form von Ungerechtigkeit kommt der zweite Solidaritätsbegriff, der im EU Asyldiskurs zu erkennen ist, ins Spiel, die Solidarität mit anderen, oder politische Solidarität (Scholz, 51ff). Diese Form von Solidarität bezieht sich auf die materielle und symbolische Hilfe gegenüber jenen, die Opfer von Ungerechtigkeit sind und für ihre Rechte kämpfen – Bayertz (40 ff) bezeichnet sie im Allgemeinen dementsprechend auch als Kampfsolidarität. Damit sie nicht bloß eine Form von empathischer Empfindlichkeit oder humanitärer Unterstützung bleibt, muss sie ein Element von sozialer Kritik an, und sozialem Aktivismus gegenüber, den ungerechten Zuständen enthalten. Gute Beispiele davon sind gesellschaftliche Proteste von europäischen BürgerInnen gegenüber den Exzessen der EU Asylpolitik, ziviler Ungehorsam gegenüber vorschnellen Abschiebungen, und Formen von strategischer Prozessführung in Asylverfahren (vgl. auch Apitzsch, 37f). Potenziell zielen diese Formen von Solidarität mit Schutzsuchenden darauf ab, dass sich die Mitgliedstaaten auf die im Ethos der EU verinnerlichten Werte und Ziele besinnen – was wiederum zu einer Steigerung der zwischen-mitgliedstaatlichen Gruppensolidarität beitragen kann, da solche Formen von politischer Solidarität unter anderem darauf hinwiesen können, dass Asyl in der EU eine gemeinschaftliche Pflicht ist und die Klärung von Verteilungsfragen erfordert. Ob solch eine Form von politischer Solidarität ausreichend ist, um eine Rückbesinnung auf die zumindest proklamierten menschenrechtlichen Ziele der EU zu bewirken, kann natürlich nicht so einfach behauptet werden. Was sie auf jeden Fall bewirken kann, ist, dass sich die Mitgliedstaaten und ihre BürgerInnen mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob zum Beispiel im Asylbereich die Praktiken mit den Prinzipien noch in irgendeinem Zusammenhang stehen, was wiederum die Debatte, was für eine politische Gemeinschaft die EU ist und was für eine Gemeinschaft sie sein will, und damit eine Form von Selbstreflexion anfeuern kann. Das heißt, im weitesten Sinne kann die politische Solidarität mit anderen als ein Korrektiv zu einer partikularen Gruppensolidarität gesehen werden, welche entgegen dem selbstproklamierten Ethos andere außerhalb der Gruppe nicht angemessen behandelt und sie unberechtigterweise als TrägerInnen von ihnen zustehenden Rechten ausschließt.
Lukasz Dziedzic promoviert an der Universität Tilburg zum Begriff der Solidarität in der Europäischen Union.
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