Heute begibt sich unsere Kongressberichtsreihe auf die Zielgerade: Last but not least blicken Sebastian Berg und Ann-Kathrin Koster auf den DVPW-Kongress zurück und zeigen, inwiefern in Frankfurt die materiellen Grenzen der Demokratie diskutiert wurden.
Die Voraussetzungen der Demokratie – technische, ökologische, territoriale oder ökonomische – schienen beinahe im postfundamental turn demokratischer Ungründbarkeit und virtueller Entgrenzung des Digitalen verschwunden gewesen zu sein. Doch die Prekarisierung des einstigen demokratischen Siegeszugs in der Gegenwart realisiert sich auch in Begleitung sozioökonomischer Verteilungsfragen und technischer Entfremdungskritik, so dass für die Politikwissenschaft eine „Wiederkehr der Dinge“ (Balke) konstatiert werden kann, in denen sich Grenzen der Demokratie manifestieren. Auf dem 27. DVPW-Kongress wollten wir daher den materiellen Spuren dieser Grenzziehungen folgen und ihre Bedeutung für die Gegenwartsdiagnosen der Demokratie entlang dreier Dimensionen näher beleuchten: das Materielle als Bedingung, seine Kontrolle sowie als Verlusterfahrung.
Materielle Vorbedingung demokratischer Kultur: Digitale Infrastrukturen
Die erste Spur führte zu materiellen Grenzen, die uns als konstitutive Voraussetzung durch die Veränderung medialer Infrastrukturen bewusst werden. So fragten Jeanette Hofmann und Thorsten Thiel nach den „Stabilisierungsleistungen“ vergangener Medienkontexte, wie sie etwa in der historisch spezifischen Form des Zeitungswesen als abstrakte Hintergrundannahmen in politische Theorien eingeschrieben wurden und die es nun im Zuge ihrer Veränderung zu reflektieren gelte. Die Untersuchungen müssten sich vom akteurszentrierten Fokus auf Gatekeeper lösen und die infrastrukturelle Leistung der Medien auf systemischer Ebene thematisieren. Christian Stöcker konnte dies anhand der Veränderung „medialer Relevanz“ verdeutlichen: Digitale Plattformen würden diese Relevanz anhand der ökonomischen Optimierung des medialen Engagements bestimmen, nicht anhand klassischer Nachrichtenwerte. Im Sinne des „Doing must be easier than thinking“ (Nir Eyal) orientiere man sich an Reaktionen, Likes, Shares und Kommentaren, um die Relevanz zu bestimmen und die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen möglichst lange zu binden. Einer dergestaltigen Pluralität müsse man sich aus demokratischer Sicht zuwenden, meinte auch Claudia Ritzi. Es ließe sich beobachten, dass Gleichheit und thematische Offenheit zugenommen hätten, die Diskursivität im Digitalen dagegen zurückgegangen sei: Die Demokratietheorie müsse diese Veränderungen der Meinungsbildung und Medieneffekte stärker reflektieren. Die Offenheit als Strukturmerkmal thematisierte auch Leonhard Dobusch. In der Debatte um proprietäre Plattformen und öffentlich-rechtliche Angebote müsse man weniger statisch denken, da letztere nicht per se demokratisch wertvoller seien. Wichtiger sei es, die Funktion der öffentlichen Räume zu reflektieren und zu überlegen, wie man diese in hybriden Kontexten demokratisch gestalten könne – wie etwa das Jugendangebot FUNK auf Youtube.
Angela Oels analysierte die Funktion von Online-Kampagnen für demokratische Öffentlichkeiten. Dabei erarbeitete sie in einem vergleichenden Paradigma von Foucault und Habermas den potentiellen Nutzen digitaler Kampagnen. Obwohl diese Plattformen ein weitreichendes Potential der Demokratisierung versprechen, verdeutlichte Oels, dass sie weder die Mobilisierung einer kritischen Öffentlichkeit fördern, noch einen hegemonialen Diskurs destabilisieren könnten. Die Funktion von digitalisierten Kampagnen für die Demokratie bliebe somit marginal. Katharina von Elten setzte sich mit digitalen Formen der Rechtsmobilisierung als neuartiger Partizipationsform auseinander. Sie erklärte, dass legal technologies als Mittel einer strategischen Prozessführung zur individuellen wie auch kollektiven Interessendurchsetzung genutzt werden könnten – eine stärkere demokratietheoretische Einordnung dieser Potentiale blieb jedoch aus. Mundo Yang wandte sich dem Phänomen der Online-Kampagnen abschließend aus einer repräsentationstheoretischen Perspektive zu und argumentierte, man habe es beim Aufkommen digitaler Formate der Interessenvertretung nicht mit einer Bedrohung der Demokratie, sondern mit einem digitalen Modus der Repräsentation zu tun und plädierte für eine Aufwertung eben jener Formen: Online-Plattformen ermöglichten einen neuen Repräsentationsmodus, der sowohl umfassender als auch kulturell authentischer sei, und dessen Einbindung ins politische System daher den demokratischen Willensbildungsprozess bereichern könne.
„Ownership matters“: Kontrolle und Umverteilung
Dass auch eine gewisse materielle Verfügungsgewalt über ökonomische oder technische Mittel eine Bedingung demokratischer Praxis ist – man bedenke nur die neuzeitliche Bindung des Wahlrechts an entsprechende Finanzmittel – wurde ebenfalls historisch wie gegenwartsbezogen thematisiert. Tim Wegenast referierte anhand einer methodisch fokussierten Querschnittsanalyse, inwiefern die Verteilung von Besitzrechten (staatlich vs. international-privatwirtschaftlich) sich auf das Wohlbefinden der Bevölkerung auswirkt. Die explizit aufgeworfene Frage des Ressourcenfluchs – inwiefern also gesellschaftliche Freiheiten und demokratische Verfahren durch die ökonomischen Möglichkeiten der Rohstoffausbeutung korrumpiert werden – blieben leider hinter methodischen Fragen auf der Strecke. Deutlicher wurde an dieser Stelle Lisa Garbe, die anhand einer Untersuchung der Internet Service Provider als “choke points of control” fragte, inwiefern Ownership als demokratisches Moment verstanden werden müsse. In verschiedenen afrikanischen Staaten untersuchte sie, wie sich die Besitzverhältnisse der Provider auf die Wahrscheinlichkeit einer Stilllegung des Internets auswirkt, wie sie etwa zur Beeinflussung von Wahlen eingesetzt werden. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass gerade eine private Besitzstruktur eine demokratische Nutzung des Internets sicherstelle – aus Sicht europäischer Diskurse überraschend, wird hier gerade die öffentliche Hand als Garant demokratischer Nutzungsmöglichkeiten verstanden.
Die politiktheoretische Reflexion von Problemen materieller Verfügungsgewalt konnte schließlich auch ideengeschichtlich aufgearbeitet werden. Sebastian Huhnholz stellte fest, dass moderne Theorien des Republikanismus, insbesondere jene liberalen Varianten à la Philip Pettit, erstaunlich wenig zur Umverteilung zu sagen hätten. Am liberalen Steuerstaat ließe sich rekonstruieren, dass der Republikanismus in dieser Hinsicht den “machiavellian moment” nicht überlebt habe, sondern sich die durch Eigennutz getriebene Ökonomie über fiskalische Abschöpfungen legitimiere: “Gebt Silber, und bald werdet ihr in Eisen legen” (Rousseau). Auch Philipp Hölzing plädierte mit seiner Lesart von Machiavelli für eine grundsätzliche Sprechfähigkeit des Republikanismus zur Umverteilung, habe der Florentiner doch eine realistische, nichtideale Theorie der Ungleichheit entwickelt, die egalitaristisch und auf die Freiheit der Republik und ihrer Bürger hin ausgerichtet gewesen sei. Diese These entfaltete er in vier Dimensionen: So habe Machiavelli Ungleichheit als anthropologisch bedingt verstanden, während er ein bescheidenes Leben sowohl für die Bürger als auch für das Gemeinwesen moralisch als angemessener und nützlicher bewertet habe. Die auch sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft in grandi und popolo sei ein Kennzeichen aller Gesellschaften, die politisch – sofern institutionell eingehegt – als produktiver, Freiheit sichernder Faktor zu verstehen sei, indem der latente Konflikt sowohl für Umverteilung durch die grandi sorge als auch das Freiheitsstreben der popolo wach zu halten vermöge. Anhand der Besteuerungsprobleme des französischen Staates im 18. Jahrhundert rekonstruierte Skadi Krause abschließend Montesquieus Argumentation für den Steuerstaat. Die konstitutionelle Abhängigkeit von König, Adel und Volk im Politischen spiegele nach Montesquieu die sozioökonomische Abhängigkeit wieder, sodass aus der rechtsstaatlichen Organisation des Fiskalbereichs auch wirtschaftliche und bürgerliche Freiheiten erwachsen. Diese Entwicklung habe jedoch eine Anpassung der Finanzverfassung bedingt: Statt danach zu fragen, was das Volk an Steuern geben könne, habe die fiskalische Idee sich nun an der Frage ausgerichtet, “was es geben müsse, damit die Rechte der Bürger gewährleistet werden können” (Krause).
Die Verlusterfahrung des Materiellen: Pöbel und Populismus
Der Zusammenhang von materieller Verfügungsgewalt und Demokratie trat auch an der Diskussion über die „Rückkehr des Pöbels“ zu Tage: nämlich in seiner versagten materiellen wie sozialen Anerkennung und dem Erstarken eines auf Identitäten rekurrierenden Rechtspopulismus. Armin Schäfer sah in den darauf bezugnehmenden Reaktionen, etwa Brennans vor kurzem erschienen Monographie „Gegen Wahlen“, eine Rückkehr der elitären Demokratietheorie und ihrer Angst vor Vermassung und Entsachlichung. Darin drücke sich faktisch nur das Selbstverständnis einer wohlhabenden Schicht aus, die sich als wissende Vulkanier unter fanatischen Hooligans und folgsamen Hobbits imaginiere. Dabei führe mehr politische Ungleichheit nicht zu besseren Entscheidungen, sondern gehe gerade zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsgruppen. Mittels materieller Angebote ließen sich zumindest noch jene Bürger*innen erreichen, die eben keine überzeugten Rassisten seien. Rebecca Pates sah in den Exklusionsforderungen des “Pöbels” und rechtspopulistischer Akteure wie der AfD dann auch eine fehlgeleitete, weil ethnisch verstandene Vorstellung von Zugehörigkeit am Werk, die laut Pates aus der fehlenden Fremdheitserfahrung in Ostdeutschland resultiere – eine Erklärung, die mit Blick auf die jüngsten Wahlerfolge der AfD im restlichen Bundesgebiet nicht gänzlich überzeugte. Ina Kerner wiederum versuchte sich an einer heterogenen Begriffsbestimmung des Pöbels gegenüber der Volksmenge und wandte sich gegen die Benachteiligungsökonomie, welche nur auf das Agenda Setting der Rechtspopulisten reagiere, statt „wirklich“ benachteiligte Gruppen zu unterstützen.
Ähnliche Konfliktlinien ließen sich auch in der Podiumsdiskussion zum Rechtspopulismus beobachten, in der die Anzahl der Sprecher*innen leider zu Lasten der Diskussion ging. Während für Dirk Jörke und Winfried Thaa vor allem die Vernachlässigung sozioökonomisch benachteiligter Gruppen zugunsten identitätspolitischer Partikularinteressen durch die Repräsentation linker Parteien die Ursache des Rechtspopulismus darstellen, argumentierten Heike Mauer, Vanessa Thompson und Aram Ziai, dass es einer intersektionalen Machtanalyse bedürfe, welche auch die Stilisierungs- und Herrschaftsprozesse auf der Seite der Arbeiter*innen und materiell Benachteiligter sichtbar mache. Das Bedürfnis, diese Verhältnisse intersektional zu verstehen, dürfe jedoch nicht als Hierarchisierung oder Priorisierung verstanden werden. Diese Konfliktlinie schien vor allem dadurch befeuert zu werden, dass die unterschiedlichen Theoriesprachen zu einem gegenseitigen Unverständnis führten, wie insbesondere die babylonische Sprachverwirrung um den Begriff des “Vorpolitischen” verdeutlichte. Eine Brücke bot an dieser Stelle der Beitrag von Christian Volk, dessen Blick auf die Form rechtspopulistischer Mobilisierung in ihrer Einheitsrhetorik die Sehnsucht nach solidarischen Beziehungen erkannte, die in einer neoliberalen Gesellschaft auf der Strecke blieben.
Abschließend betrachtet ließen sich unterschiedliche Ebenen demokratischer Grenzziehungen beobachten, die es weiter zu verfolgen gilt. Während die Veränderungen durch digitale Technologien vor allem die Notwendigkeit zur Reflexion impliziter Voraussetzungen demokratischer Praxis verdeutlicht haben, verwiesen die ökonomischen Themen vor allem auf die Notwendigkeit, den ökonomischen Diskurs der Demokratie verstärkt wiederaufzunehmen.
Sebastian Berg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Demokratie und Digitalisierung“ des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft in Berlin und forscht zur politischen Theorie des digitalen Wandels.
Ann-Kathrin Koster studiert im Master Politikwissenschaft und Interkulturelle Gender Studies. Sie arbeitet am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft sowie im Forschungsprojekt POWDER „Protest and Order: Democratic Theory, Contentious Politics and the Changing Shape of Western Democracies“ von Christian Volk. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Phänomen des digitalen demokratischen Aktivismus.
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