Um es vorwegzuschicken: Auch ich halte Pikettys Buch für einen Gewinn. Schon Anzahl und Namen seiner Kritiker sprechen für das Werk. Auch die enorme Kritik, die Piketty am „kindlichen“ Mathematismus der Ökonomen übt, um daraufhin ein Hohelied auf andere Sozialwissenschaften anzustimmen, schmeichelt. Kritisiert sei auch nicht, dass das ach so schwere Buch breit diskutiert wird, weil schon die ersten Seiten den Inhalt eines der „am meisten ungelesenen Bücher“ geschmeidig zusammenfassen.
Klärungsbedarf aber besteht, wenn nun auch solche Ökonomen neue Morgenluft für ihre Disziplin wittern, die, wie Werner Plumpe im Merkur, Piketty lesen und plötzlich auf moralisch machen. Plumpe beklagt, die „jüngste Rakete der Kapitalismuskritik“ bediene sich „obskurer Überlegungen“: „Phasen raschen Wachstums“ würden „zu Zeiten besonderer Ungerechtigkeit“ uminterpretiert, wohingegen „Kriege und ökonomische Katastrophen […] geradezu als Ausgleich erscheinen.“
Ähm, ja, hatten das nicht von Rosa Luxemburg bis Joseph Schumpeter schon ganz andere Kaliber behauptet? War nicht das der Vorwurf? Wiederholt Piketty nicht ausdrücklich dies: dass es die Vermögenseliten waren, deren „Versagen“ in den „Faschismus“ führte, woraufhin es „Kriege waren, die“ anschließend „tabula rasa“ mit jener extremen Ungleichheit machten, die nicht durch ein „Versagen“ des Marktes, sondern durch dessen Perfektion entstand? Die Fragen sind rhetorisch, denn: Ja, das behauptet Piketty und empfiehlt uns praktischerweise eine universelle Abhilfe: Steuern.
Natürlich erheischt der Ruf nach Steuern Beifall. Doch ist er im Fall Pikettys doppelt interessant. Erstens, weil die herkömmliche Fiskalstaatstheorie betont, Steuern seien ein Instrument der Kapitalsicherung. Und zweitens, weil das Problem, das Piketty beschreibt, ohne den Steuerstaat gar nicht entstanden wäre. Immerhin ist die Akkumulationsmöglichkeit von Kapital eine ökonomische Begleiterscheinung der liberaldemokratischen Steuerstaatsgeschichte und der ihr vorgängigen rechtsstaatlichen Eigentumsgarantie. Was mich an Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ daher stutzig macht, ist weniger seine so, oder so ähnlich häufig gehörte Diagnose. Es ist vielmehr die Kur.
Der Zauber Pikettys
Nach Lektüre von Pikettys Buch möchte ich die These diskutieren, dass Piketty entweder nicht recht weiß, was Steuern heute sind, und uns folglich Unmögliches verspricht. Oder aber, selbe These, andere Richtung, Piketty betreibt Begriffspolitik mit dem Ziel, sein Publikum vergessen zu machen, dass die Steuer in der modernen Staatslehre ein Instrument des demokratischen Privateigentumsschutzes ist.
Meine Unentschiedenheit zwischen beiden Optionen liegt erstens darin begründet, dass Piketty gekonnt im Vagen bleibt. Er verlässt sich sehr auf unplausibel historisierte Zahlen, umschifft aber alle offensichtlich regimepolitischen Klippen seines Untersuchungszeitraums. In umfänglichen Passagen zum Buchabschluss erläutert Piketty eine lehrbuchhafte Steuertypologie, nutzt sie aber nur dazu, progressive Steuersätze im Längsschnitt ausgesuchter Staaten zu vergleichen. Er verzichtet zu fragen, warum es in seiner Fallauswahl nur Demokratien sind, die überhaupt exorbitant besteuern können und ob folglich nur sie Adressatinnen seines Lösungsansatzes für das „r>g“-Problem sind. Pointierter gefragt: Was würde passieren, wenn Saudi-Arabien seine Scheichs besteuerte?
Nur durch dieses aufgesetzte Desinteresse an Regimeunterscheidungen kann ein zweites Manöver in Pikettys Steuerargumentation erfolgen. Sein Zahlenmaterial kann zwar nur für einige heutige Marktdemokratien nachweisen, dass diese selbstredend keine distributiv „gerechte“ Besteuerung leisten. Ausgerechnet diesen Negativbeispielen aber stellt Piketty dann Praktiken anderer „reicher“ Staaten als Supernegativbeispiele der Ungleichverteilung gegenüber: eben Saudi-Arabiens „Erdölrente“, Chinas „autoritäre Kapitalregulierung“ oder Russlands Präsidialkleptokratie. Ihnen gelte es, Pikettys Verteilungsideale näherzubringen. Und so umschlingern die diesbezüglichen Buchpassagen eine Begründung, wie ausgerechnet Pikettys steuerpolitische Versagerdemokratien den rentierstaatlichen Autokratien, nachtwächterstaatlichen Steueroasen oder privateigentumsfeindlichen Schurken das Ideal einer demokratietypisch progressiven Kapitalsteuer schmackhaft machen sollten.
Drittens erklärt sich so, warum Piketty auf Wirkungsspekulationen setzen muss, sobald er aus seiner Geschichtsphilosophie Prognosen ableiten will. Das liest sich dann so: „Natürlich kann keiner sagen, wie die Geschichte [des Spitzensteuersatzes] ohne die Katastrophen der Jahre 1914 bis 1918 verlaufen wäre. Zweifellos wäre es zu einer Aufwärtsbewegung gekommen.“ Oder so: „Eine […] Ablehnung der Kapitalsteuer wäre umso bedauerlicher als nichts dagegen spricht, sich dieser idealen Einrichtung Schritt für Schritt zu nähern“.
Das Buch ist voll von solchen Sätzen. Sie spielen mit Irrealitäten, die unter dem Oberbegriff der Steuer Phantasien beflügeln. Lisa Herzog hat in diesem Blog bereits auf manch Unzulängliches hingewiesen, das Piketty bemüht, um sein steuerliches Arsenal in Anschlag zu bringen und die „r>g“ genannte Teufelsschere zwischen Kapitalrendite und realwirtschaftlicher Wachstumsrate zu schließen. Herzog schlussfolgerte, man müsse das Besteuerungsinstrumentarium um Enteignungsperspektiven erweitern. Ich will dieser Tendenz nicht widersprechen, wohl aber argumentieren, inwiefern der Zauber Pikettys gerade ja in seinem Talent liegt, das, was er Steuer nennt, auf Distanz zu Enteignungsdiskursen zu halten. Denn da es Piketty nicht um direkte Umverteilung, sondern zunächst doch um steuertechnische Vermögensvernichtung zum Zweck indirekt wirksamer Vermögensangleichung geht, ist seine Distanzierung von allzu offensivem Enteignungsvokabular geradewegs geboten.
Steuern nach Piketty
Prinzipiell lassen sich zwei Pole des allgemeinen Steuerverständnisses unterscheiden. Der eine Pol stellt auf Besteuerung als Selbstzweck ab, auf Einnahmen zum sog. Fiskalzweck. Der andere Pol stellt auf Steuerung ab, auf Lenkungszwecke. Er hat darum ein Interesse an der Arrangierung konkreter Steuerwirkungen. Der erste Pol neigt zum Eigentumsschutz zwecks Eigentumseinsatz zwecks Zugewinnabschöpfung. Der zweite Pol kann dem Gegenteil zuneigen. Da er auf Verhaltensregulierung setzt, zielt er im Extremfall darauf, die besteuerte Aktivität abzustellen. Eine solche an „erdrosselnden“ Zwecken orientierte Lenkung kann bestimmte Steuersätze in „konfiskatorische“ Höhen treiben.
Dies ist der Zweck, den Pikettys Vorschlag einer „globalen progressiven Kapitalsteuer“ verfolgt, einer Steuer, die den globalen Rahmen als Maß markieren muss, da nur eine Globalbesteuerung mobilen Kapitals den Doppelzweck erfüllt: Erst wenn kein Ausweichverhalten möglich ist, kann, in Pikettys Worten, eine „konfiskatorische Besteuerung exorbitanter Einkommen“ erdrosselnd wirken und die Eigentumssubstanz ähnlich angreifen wie es die Spitzensteuersätze während der Weltkriege vormachten. „Es geht“, so Piketty, „letztlich um eine Abschaffung dieser Art von Einkommen und Vermögen, die vom Gesetzgeber für sozial unvertretbar und ökonomisch unfruchtbar befunden werden – oder zumindest darum, ihren Fortbestand in dieser Höhe extrem zu verteuern und den Willen zu ihrer Erhaltung somit zu schwächen.“
Piketty kann das nicht „Enteignung“ nennen. Im Grunde aber meint er in klassisch republikanischer Tradition eben dies. Vermögenseigentum soll nicht direkt genommen werden, sondern durch eine Reproduktionsschranke aussterben. Derlei ökonomische Balance ist von Aristoteles über Harrington und Rousseau bis Kant immer wieder als Voraussetzung politischer Gleichheit argumentiert und mit der für deren Zeiten typischen Umverteilungsart, der Umverteilung von Boden assoziiert worden. Piketty reanimiert diese vormoderne Linie ausdrücklich, wenn er schon zum Beginn des Buchs dessen Ergebnis vorwegnimmt: Es sei Ricardos 1817 erschienenes Werk Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, das wesentliche „Bedeutung […] für die Analyse der weltweiten Verteilung von Vermögen im 21. Jahrhundert“ besitze. Man brauche nur „im Modell Ricardos den Preis der Agrarflächen durch die Immobilienpreise in [unseren] Metropolen oder durch den Ölpreis ersetzen. […] Für Ricardo besteht die einzige logisch und politisch befriedigende Lösung in einer immer höheren Besteuerung der Bodenrente.“
Um zu sehen, was seine Strategie ist, müssen wir Piketty hier beim Wort nehmen: Durch Rückgriff auf eine vormoderne Eigentumslehre gedenkt er, die aus der liberaldemokratischen Steuerpolitik moderner Steuerstaaten resultierende „r>g“-Problematik abzustellen.
Steuern nach Herzog
Erst vor diesem Hintergrund wird Lisa Herzogs eigentumstheoretische Ergänzung Pikettys als nur ungeduldigere und darum radikalere Variante einer liberaldemokratisch kaum minder fragwürdigen Konfiskationsromantik verständlich.
„Nach der ersten, konventionellen Lesart“, schreibt Herzog, „erzählt Piketty uns eine Geschichte darüber, wie Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften wächst, und plädiert für die Einführung progressiver Steuern als Gegenmaßnahme. Umverteilung durch Besteuerung ist ein beliebtes Instrument im Werkzeugkasten linker Politiker. Die zweite Lesart“ sehe demgegenüber „Besteuerung […] nicht nur als ein Instrument, das den ‚Kuchen‘ umverteilt, sondern als ein Instrument, das gestaltet, wie der Kuchen überhaupt gebacken wird. Besteuerung“, so immer noch Herzog, sei zwar „ein Instrument, das dazu dient, Märkte nach den Prinzipien zu gestalten, auf die demokratische Gesellschaften sich einigen.“ Doch wolle man wachsende „Ungleichheit in erträglichen Grenzen“ halten, gebe „es keinen Grund, bei der Besteuerung als einzigem Instrument stehenzubleiben.“
Damit deklassiert auch Herzog nach Pikettys Vorbild ein entscheidendes Kriterium moderner Steuerdemokratiegeschichte. Denn trotz des Eingeständnisses, dass Steuern das demokratische Instrument der Umverteilung seien, zieht sie es vor, fortan „die politische Philosophie ins Spiel“ zu bringen. Herzog fokussiert speziell auf Gerechtigkeitstheorien und koppelt sie mit eigentumstheoretischen Überlegungen, insbesondere mit jener subversiven Argumentation Murphys und Nagels, nach der es, in Abwandlung der liberalen Spielart des Klassischen Kontraktualismus, ohnehin kein vorsteuerliches Eigentum gebe. Eine staatliche Eigentumsgarantie bedeute gemeinschaftsgestützte Eigentumsgenese. Aus der folgt eine Nettoeigentumsdefinition: Privateigentum ist nur, was der Staat einem lässt.
Entsprechend attraktiv mag es sein, von dort aus moralphilosophisch zu postulieren, dass es keinen großen Unterschied mache, ob Vermögen durch Steuern oder durch andere legale Abschöpfungsinstrumente umverteilt werden, solange nur mehr „Gerechtigkeit“ produziert würde, also weniger besteuert als gesteuert würde. Demokratietheoretisch anverwandelt aber ist diese Argumentation brisant: sie deklariert einen parteiischen Souverän, der nützliche und schädliche Besteuerungssubjekte vorsortiert. In geradezu mischverfasster Tradition und Umkehrung der antiquierten Klassenwahlrechtshierarchie wird Bürgern dadurch eine nach Vermögensstatus diskriminierende Rechtswürdigkeit zugemutet. Unnötig zu erwähnen, dass von einer solchen Rechtsphilosophie her das Kriterium des Vermögens leicht durch weitere unpopuläre Personenmerkmale zu ergänzen wäre.
Wozu dienen Steuern?
Sowohl Pikettys indirekte wie Herzogs offensive Enteignungsargumentation vor diesem Hintergrund nun als allein „nützliche Utopie“ (Piketty) respektive als „politische Philosophie“ (Herzog) zu klassifizieren, wäre understatement. Denn beide gestehen zwar mehr oder minder zu, was Montesquieu schon erkannte: dass die Steuer seit dem Spätabsolutismus vom Repressionsfaktor zum Freiheitsindikator wurde. Wer besteuert, raubt nicht; wer legal besteuern will, erklärt die Legislative zum Souverän eines gleichursprünglichen Steuerstaates, eines Fiskalstaatsideals, das alle Ausgaben aus Steuern und Abgaben der eigenen Bevölkerung zu decken hofft, dafür freie Märkte braucht und diese Märkte um der politischen Freiheit der Steuerbürger Willen reguliert. Je freier eine Gesellschaft ist, vermutete daher Montesquieu, desto umfassender lässt sie sich besteuern.
Montesquieu aber stand damit in der „besitzindividualistischen“ Steuerrechtfertigungstradition. Diese geht heute noch, etwa mit Ernst Forsthoff, Stephen Holmes, Cass Sunstein oder Paul Kirchhof, davon aus, dass Steuern jene „Preise“ sind, die Bürger kollektiv für angemessen halten, um die staatlichen Bedingungen ihrer individuellen Freiheitsrechte in einem gemeinwohltauglichen Rahmen zu gewährleisten.
Dagegen anzunehmen, man könnte einzelne Superreiche steuerkonfiskatorisch „erdrosseln“, bricht mit steuerdemokratischen Klugheitslehren von Aristoteles über Kant bis Rawls. Denn aus der fiskalzirkulären Bestimmung ergibt sich nicht nur ein demokratisches Mitsprache- und ökonomisches Selbstbestimmungsrecht aller Eigentümer, sondern auch ein öffentliches Interesse am Schutz produktiven Privateigentums: Nur die Möglichkeit des Bürgers, sein Kapital zu schützen, ermöglicht der Gemeinschaft die nachhaltige, widerstandsarme und anteilige Abschöpfung von unter ihrem Schutz erwirtschafteten Zugewinnen. Eben daraus folgert ja auf der einen Seite ein demokratischer Kapitalismusreformator wie Piketty, nur auf das Instrument der Besteuerung in vermögenslimitierender Absicht setzen zu dürfen, während auf der anderen Seite Herzog befürchtet, man dürfe dabei nicht stehen bleiben. Ich will, es bleibt dabei, beiden Varianten ihre Relevanz angesichts gruseliger Finanzkapitaloligarchien nicht absprechen. Wohl aber bleibt in der Tradition der „No taxation without representation“-Geschichte moderner Demokratien zu fragen, was es denn heißt, wenn wir den Vermögenden selbstbewusst sagen: Die Demokratie erträgt euren Reichtum nicht!
Man muss sich darum abschöpfungstheoretisch gar nicht primär zwischen sozialstaatlichem Protektionismus einerseits und „r>g“ verheißendem Marktfreiheitsterror andererseits entscheiden, sondern – um nochmals pathetisch Poppers Titel abzuwandeln: zwischen der Offenen Gesellschaft und ihren Gegnern. Die Sloterdijk-Honneth-Debatte um die „Revolution der gebenden Hand“ hat dieses Problem vor wenigen Jahren schon andiskutiert, Wolfgang Streecks „Gekaufte Zeit“ führte sie letztes Jahr weiter. Ist also die Steuer jenes moderne Abschöpfungsinstrument, auf das man sich geeinigt hat, um eine freiheitliche Demokratie mit politischen Gleichheits- und Eigentumsschutzrechten zu fiskalieren? Oder aber soll umgekehrt gelten, dass in Revision der modernen Demokratisierungsgeschichte Eigentumstitel wieder unter den Vorbehalt potentiell totaler Anteilnahme gestellt gehören?
Im ersteren Fall entstehen unweigerlich Probleme, die Kritiker an Piketty herantragen, etwa: Wie soll weltweit eine einheitliche Kapitalsteuerprogression verabschiedet werden, ohne die entweder das Kriterium der Freiheit fraglich oder aber das Ziel torpediert würde, den Steuerwettbewerbssumpf auszutrocknen? Denn die nur partielle Umsetzung von Pikettys demokratiekompatiblen Vorschlägen würde ja dazu führen, dass die großen Vermögen in Rentierstaaten abwandern statt zu verschwinden. Der eingangs benannte Kreis zu den ökonomischen Faschismustheorien wäre dann wider Pikettys Willen vielleicht geschlossen. Im letzteren Fall hingegen wäre die vertragstheoretische Basis des Verfassungsstaats hinfällig: Der Steuerstaat wäre dann Souverän, der Steuerbürger Untertan. Das fiskalpolitische Band, mit dem sich das Besitzbürgertum einst den Leviathan ankettete und das Parlament als Eigentümerausschuss der Staatsmacht etablierte, wäre zerrissen. Für Vermögende bestünde wenig Anreiz, auf demokratischer Seite zu investieren.
Gleich also, ob man gerechtigkeitspolitisch Pikettys softer oder Herzogs härterer Gangart zuneigt: Wir sollten uns vorab verfassungspolitisch erinnern, mit welchen regimespezifischen Effekten sich alle modernen Demokratien als Steuerstaaten konstituierten.
Weiteres zu unserem Piketty-Buchforum sowie die bisher erschienenen Beiträge sind hier nachzulesen.
Hallo Sebastian, danke für den Post. Ich möchte Deiner Charakterisierung der Debatte teilweise widersprechen – was mir die Gelegenheit gibt, einen Punkt klarzustellen, den ich in meinem Post nur angedeutet hatte. Ich denke, es gibt nicht nur die zwei Optionen „Steuern rein als Abschöpfungsinstrument“ und „potentiell totale Anteilnahme“, sondern es gibt auch die Möglichkeit, verschiedene Arten und Formen von Eigentum verschieden zu behandeln. Für bestimmte Formen des Privateigentums, gerade im persönlichen Bereich und was den Schutz der Privatsphäre angeht (Stichwort Zahnbürste) sehe ich viele Argumente für einen stark ausgeprägten Schutz; hier ist „Anketten des Leviathans“ unbedingt geboten. Aber die Dynamik des Kapitalismus, die Pickety beschreibt, beinhaltet auch viele andere Formen von Eigentum, mit denen man möglicherweise anders umgehen kann und sollte (wobei auch hier keine Dichotomie zwischen „völlig in Ruhe lassen“ und „100% wegbesteuern“ besteht, sondern alle möglichen Zwischenstufen und anderweitige Möglichkeiten, z.B.: weniger Steuern, wenn nachhaltig investiert, höhere Steuern, wenn kurzfristig spekulativ eingesetzt; bei Erbschaftssteuern kann man ebenfalls an verschiedene kreative Lösungen denken).
Dass Klugheitsargumente dabei eine Rolle spielen, versteht sich, allerdings können solche Argumente auch wunderbar ideologisch missbraucht werden, deswegen halte ich Vorsicht für geboten.
Das alles ist damit vereinbar, an rechtsstaatlich-demokratischen Methoden festzuhalten, d.h. ohne rückwirkende Anwendung von Gesetzen, mit Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung etc.). Letztlich geht es gerade darum, diese Errungenschaften moderner Rechtsstaatlichkeit zu erhalten, und sie gegen „capture“ durch eine Finanzoligarchie zu schützen. Nur dann können die Eigentumsrechte aller Individuen nachhaltig geschützt werden.
Liebe Lisa, herzlichen Dank für diesen Kommentar, dem ich weitgehend zustimmen kann. Allein ich würde weiterhin dafür plädieren, Eigentumstheorien und Besteuerungstheorien zunächst voneinander zu separieren, um erst im zweiten Schritt nach Verbindungen zu suchen. Dass dies nicht ohne das Risiko ideologischer Instrumentalisierung funktionieren kann, versteht sich, gilt aber für alle Seiten und meines Erachtens immer.
Dennoch geraten mir die proto-demokratischen Funktionen von umfänglichen Steuern zu sehr ins Abseits, wenn wir Besteuerung immer schon unter dem Fokus der ökonomischen Umverteilung statt der politischen Partizipation denken und Steuern folglich nicht primär als Medium der legalisierten Staats-Bürger-Kommunikation verstehen, sondern als einen Ausdruck sozioökonomischen Bürgerkrieges im Sinne einer residualen Klassenkampfidee. Das habe ich versucht zu argumentieren mit Blick auf Pikettys regime-ignorierende Vorschläge.
Damit sei allerdings nun weiterhin gerade nicht behauptet, es gäbe nur zwei Optionen. Im Gegenteil, Steuern sind, du schriebst es ja vor, nur eines von mehreren Abschöpfungsinstrumenten (Enteignung, Gebühr, Diebstahl etc.). Ich habe lediglich versucht zu beschreiben, dass es konkret für das Instrumentarium der Steuer ein Spektrum zwischen zwei Polen gibt und beide Pole auf unterschiedliche Absichten zielen: auf fiskalische Einnahme einerseits, auf Gesellschaftssteuerung andererseits. Das ist auch in der Etymologie von „steuern“ angelegt, die einerseits auf „stauen“ (anhäufen), andererseits auf „lenken“ verweist.
Piketty plädiert für ein spezifisches Steuermodell, das beide Funktionen miteinander kurzschließt, wenn er meint, eine progressive Steuer zwecks Kapitalvernichtung bewerben zu müssen. Das bleibt immer noch im rechtsstaatlich denkbaren Rahmen und ist ganz zweifellos sehr interessant, hat aber staatsrechtliche und demokratietheoretische Kosten und Blindstellen. Im Zuge der sog. Forsthoff-Abendroth-Debatte ist das meines Wissens durch Forsthoff auf die Formel gebracht worden, der moderne Sozialstaat sei nur in seiner Funktion als Steuerstaat Rechtsstaat, da liberaldemokratische Umverteilung aufgrund des dazugehörig grundsätzlich gewährten Eigentumsschutzes nicht über Enteignung, sondern nur durch Besteuerung funktioniere. Das führt fraglos zu enormen Folgeproblemen, etwa dem, ob liberaldemokratische Verfassungsstaaten eigentlich überhaupt ohne einen fiskalischen Einnahmebedarf enorm hohe Steuereinnahmen von ganz bestimmten Bürger- und Steuerklassen erwarten dürfen (worauf Pikettys Modell hinausläuft), aus steuerdemokratischen Gründen andere Gruppen aber durch die Mehreinnahmen nicht allzu stark entlasten sollten. Wir müssen Steuern ja auch als ein politisches Recht sehen, wie ich skizziert habe.
Das alles führt, da gebe ich dir ganz Recht, immer auf die Frage der Bestimmung von Eigentum hinaus, und du hast in deinem Beitrag und an anderer Stelle ja auch sehr kreative eigentumstheoretische Vorschläge sowie eine sehr beeindruckende Ideengeschichte der Eigentumsfrage dokumentiert. Umso mehr aber würde ich daran festhalten, beide Schienen, Eigentum und Besteuerung, zunächst einmal getrennt zu theoretisieren, da andernfalls Besteuerungstheorien immer nur auf die Frage ökonomischen Eigentums statt politischer Rechte hinauslaufen – und von dieser Art Theorien haben wir meines Erachtens eher ein paar tausend zu viel… Beste Grüße! SH
Hier noch ein Artikel, der einige interessante Argumente zu diesen Fragen enthält: http://politicsinspires.org/alternative-liberal-solutions-economic-inequality/
Lieber Sebastian,
zu dem von dir in deinem letzten Kommentar angesprochenen Punkt, man müsse Eigentum und Besteuerung getrennt theoretisch aufarbeiten um dadurch von der alten Frage des ökonomischen Eigentums hin zu einer der demokratischen Teilhabe zu gelangen vielleicht noch ein weiterer Gesichtspunkt. An anderer Stelle wurde je bereits darauf hingewiesen, dass Piketty selbst angibt, Marx nur selektiv zur Kenntnis genommen zu haben. Er sagt ja in dem Interview mit New Republic sogar, Marx habe im „Kapital“ gar keine Daten verwendet, was natürlich falsch ist.
Hierzu kann man unterschiedliche Sichtweisen einühren. Die wissenssoziologische Perspektive, die darauf verweist, dass sich Theorien durch Rezeption verändern und verfremdet wahrgenommen werden. Wenn Piketty Marx kaum gelesen hat, warum dann ein Bezug aufs Kapital? Dem kann dann ebenso wissenssoziologisch entgegengehalten werden, dass dies ja nicht weiter von Belang ist, sofern er dadurch eine Debatte anstoßen kann, die aufgrund ideologischer Verzerrungen lange nicht geführt werden konnte. Es gäbe weitere Argumente, die man diesbezüglich austauschen könnte, bis hin zur Frage der Vermarktung des eigenen Buches usw. usf.
Für die von dir angesprochene Dichotomie von Steuern und Eigentum gibt es aber dann doch noch bei Marx ein nicht unwichtiges Zitat, das sich in der „Kritik zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie“ findet: Marx schreibt dort:
„Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regierungsmaschinerie und von sonst nichts. … Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommenquellen der verschiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft.“ (http://bit.ly/1wZI9dZ)
Natürlich war das eine Programmschrift mit einer politischen Zielsetzung: Abhaltung der Sozialdemokratie von der Verabschiedung ihres in Marxens Augen reformerischen Programms. Davon getrennt ist der Satz aber durchaus gültig: Steuern bilden die Geschäftsgrundlag des Staates, über ihre Verteilungswirkungen im Sinne des modernen Wohlfahrtsstaates ist damit noch nicht viel ausgesagt. Zudem ignoriert Piketty die Entstehung der Steuern, wenn er sie allein als Verteilungsgröße behandelt. Wo Marx eine Mehrwerttheorie und darauf gründend eine Kapitaltheorie entwickelt, die zwingend auf der Produktion und Realisierung von Mehrwert durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft basiert, wird dies von Piketty im Grunde geteilt, jedenfalls nicht explizit thematisiert. Mit seinem Rekurs auf eine mögliche Steuer (was vielleicht auch nur ein Zugeständnis an die Verlagshäuser ist, so etwas wie eine „Alternative“ zu benennen) kann er nicht über die Verteilungsgrößen hinaus und damit keine Kapitalismuskritik für sich theoretisch formulieren. Auf diesen Widerspruch wird eingehend in der aktuellen Real-World Economics Review hingewiesen (http://bit.ly/1wZISfa).
Ein reflektierter Umgang mit Pikettys Arbeit wäre daher sein Buch (ebenso die Arbeiten von Zucman und Kollegen) als Material zu verwenden, das türöffnend für eine kritische Diskussion des Kapitalismus ist, ein Werkzeug im Sinne Foucaults.
Hier scheint mir nach wie vor der Begriff des „demokratischen Klassenkampfes“ von Walter Korpi sehr zutreffend, der stellvertretend für viele Theoretiker ausführt, dass die Einrichtung des modernen Wohlfahrtsstaates nur durch Zwang und durch Druck der betroffenen Schichten, Klassen und Milieus (bereits bei der Begriffsverwendung kommt es zum Disput!) erfolgen konnte. Ein demokratie- bzw. partizipationsorientiertes Interesse an Steuergerechtigkeit kann m.E. nicht von sich selbst entstehen und der Rückbezug auf das Grundgesetz oder eine bestimmte kollektive Erfahrung (z.B. Rheinischer Kapitalismus) kann nicht den Veränderungsdruck egalisieren, der auf die Rückgängigmachung dieser Umverteilung seit Jahrzehnten einwirkt. Mit anderen Worten: der demokratische Klassenkampf wurde nur zeitweilig stillgestellt, ist aber zurück, müsste von „der“ betroffenen Klasse, die ihn bemängelt jedoch angenommen werden. Dies leitet dann zur Frage über, wie effektive Besteuerung herbeigeführt werden kann und ist bereits in actu untrennbar mit der demokratischen Partizipationsfrage verbunden. Allerdings nicht in theoretischer Hinsicht.
Ein aus meiner Sicht wichtiges soziologisches oder milieutheoretisches Argument ging bislang unter: Wer fühlt sich vom „demokratischen Klassenkampf“ angesprochen? Der Spekulant und Investor Warren Buffet hatte schon vor der Finanzkrise im Jahr 2005 konzediert, dass ein sogenannter „class warfare“ (http://cnn.it/1x6WEeM) stattfindet, den seine Klasse (er meinte diejenigen, die je nach Sprachgebrauch als Unternehmer, Investoren oder Kapitalisten figurieren) gewännen. Theoretisch aufgearbeitet wurde dies schon von Paul Pierson und Jacob Hacker.
Die „andere“ Seite ist nicht nur heterogener, sondern in Interessen durchaus avers, weiß vielleicht nicht einmal um die Umstände und ist dann auch nicht bereit, jenseits der Empörung so etwas wie ein „Klassenbewusstsein“ zu gewinnen. Nicht nur, weil dies scheinbar antiquiert wirkt, sondern auch weil es mit handgreiflichen Konsequenzen verbunden ist, mit Widerspruch, mit Protest. Und wie eine Kanalisierung von Protest stattfinden kann, das wissen wir, dafür gibt es mannigfache Verlaufsformen. Selbst so etwas wie „Pegida“ oder „Hosega“ gilt heute als Protest – eben als Wohlstandschauvinismus, der allerdings aus meiner Sicht nur unzureichend mit dem Faktor Angst erklärt werden kann. Das wäre nur eine Symptombeschreibung, keine Kausalität. Nennen wir es eher „Statusinkompetenz“ (Bourdieu). Inkompetent zu adäquatem Denken und Handeln.
Viele Grüße und angenehme Festtage,
Alexander