Unter dem Titel „Just Institutions and Institutional Justice in Global Politics“ veranstaltete die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) am 6. und 7. Oktober ihre Jahreskonferenz. Eingeladen waren Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen und internationaler Institutionen sowie ein akademisch und politisch breit interessiertes Publikum, um über „Ways of global justice“ zu diskutieren. Dass es bei diesen „Wegen“ sowohl um einen Austausch zwischen unterschiedlichen disziplinären Herangehensweisen an die Thematik als auch um eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger globaler Probleme, Gerechtigkeitsvorstellungen und Reformvorschläge ging, verdeutlichte schon der Einführungsvortrag von Christopher Daase (HSFK). Daase unterschied zwischen drei theoretischen Konzepten von Gerechtigkeit – der distributiven, prozeduralen und Anerkennungsgerechtigkeit – die dann jeweils das Zentrum eines Konferenzpanels bildeten, und unterstrich das praktische Interesse der Veranstalter an handlungsleitenden Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen Institutionen, Gerechtigkeit und Frieden: Wann, wie und in welcher konkreten Ausgestaltung können globale politische Institutionen zu einer gerechteren Weltordnung beitragen und damit den Frieden fördern? Wann schaffen sie umgekehrt Ungerechtigkeiten und werden damit zum Gegenstand oder Auslöser (möglicherweise gewaltsamer) Konflikte? Diese Leitfragen wurden in allen Panels aufgenommen, wobei eine optimistische Perspektive auf das gerechtigkeits- und friedensstiftende Potenzial internationaler Institutionen klar dominierte.
Trotz der generell positiven Zuschreibung arbeiteten die meisten Beiträge in ihrer konkreten Analyse zentraler Institutionen dann aber auch bestehende Gerechtigkeitslücken heraus. So bemängelte die Wirtschaftswissenschaftlerin Nicole Rippin (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik) die Vernachlässigung der sozialen Chancengleichheit gegenüber globalen Wachstumsindikatoren im Rahmen der Millennium Development Goals der Vereinten Nationen (VN), Carolin Anthes (HSFK) kritisierte die Marginalisierung sozialer und ökonomischer Rechte im VN-Menschenrechtsregime und Eva Ottendörfer (HSFK) zeigte Schwächen der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Umgang mit Reparationen für die Opfer von Verbrechen auf.
Nicht ganz überraschend wurde die stärkste Verteidigung bestehender institutioneller Praktiken von der einzigen aktuellen Vertreterin einer internationalen Organisation, der IStGH-Richterin Ekaterina Trendafilova, vorgebracht (andere Vortragende waren vor bzw. neben ihrer akademischen Tätigkeit für das VN-Systems tätig). Trendafilova ging in ihrem Vortrag ausführlich auf die Kritik afrikanischer Staaten an Verfahrensentscheidungen des Gerichtshofs ein, insbesondere an seinem Vorgehen gegen die amtierenden Präsidenten Sudans und Kenias. Obwohl die Richterin einzelne Aspekte der Begründung der jeweiligen IStGH-Entscheidungen durchaus kritisch sah, verteidigte sie im Grundsatz das Vorgehen des Gerichts als korrekte Auslegung des IStGH-Statuts und der VN-Charta und wies die afrikanischen Beschwerden als unbegründet zurück. In der anschließenden Diskussion wurde allerdings deutlich, dass neben dieser juristischen Interpretation von „prozeduraler Gerechtigkeit“ auch andere Fragen – z.B. die nach der Einbeziehung afrikanischer Staaten in Entscheidungen des VN-Sicherheitsrats – in der öffentlichen Debatte mitschwingen, die vom Gericht selbst nicht zu beantworten sind.
Übereinstimmung bestand zwischen fast alle Vortragenden in der Auffassung, dass existierende Gerechtigkeitsprobleme durch Reformen oder Neuschaffungen globaler Institutionen zu mildern seien. Vom Standpunkt der normativen politischen Theorie aus begründete Chris Armstrong (University of Southampton), dass globale Institutionen unverzichtbar seien, um individuelle Bemühungen um distributive Gerechtigkeit effizient zu koordinieren. Aus einer analytischen soziologischen Theorie der Internationalen Beziehungen heraus argumentierte Lora Viola (Freie Universität Berlin), dass informelle Institutionen das Potenzial hätten, die in formalen Institutionen festgeschriebenen Ungleichheiten zu transformieren. Mit Blick auf einzelne Politikfelder wurden etwa die Entwicklung hin zu einer stärkeren Justiziabilität ökonomischer und sozialer Menschenrechte begrüßt (Anthes), neue Indikatoren zur Messung von Entwicklungszielen eingefordert (Rippin) oder ein Fokus auf einklagbare Opferrechte seitens des IStGH befürwortet (Ottendörfer). Eine direkte Verbindungslinie zwischen institutioneller Gerechtigkeit und Frieden wurde vor allem von Karin Aggestam (Lund University) sowie von Christopher Daase und Janusz Biene (Goethe-Universität Frankfurt) gezogen. Nichtstaatliche Gewaltakteure wie die Fatah, so das Argument beider Vorträge, können zum Gewaltverzicht motiviert werden, wenn sie seitens internationaler Institutionen eine „graduelle Anerkennung“ als gleichberechtigte Konflikt- und Verhandlungsparteien erfahren.
Neben der Debatte über positive oder negative Gerechtigkeitswirkungen globaler Institutionen war ein zweiter Fokus die Analyse von Konflikten über und in internationalen Institutionen. Diese wurde als vielversprechende Forschungsstrategie identifiziert, um unterschiedliche, in Theorie und Praxis um Vorherrschaft ringende Gerechtigkeitskonzeptionen analytisch zu rekonstruieren. Am deutlichsten wurde dieser Ansatz im Vortrag von Dirk Peters (HSFK): In dessen Diskursanalyse der Debatte um Stimmrechte und ihre Gewichtung innerhalb der Europäischen Union (EU) zeigte sich, wie sich das Argument der Gleichheit der Bürger zunehmend gegenüber Konzepten der Staatengleichheit und der historischen Gerechtigkeit durchsetzte. Ähnliche Tendenzen wurden implizit auch in anderen Konferenzbeiträgen sichtbar, nämlich die verbreitete – jedoch umstrittene und nicht auf allen Politikfeldern gültige – Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit Gleichheit und das Ringen zwischen kosmopolitischen Vorstellungen einer Gleichheit der Weltbürger und traditionellen Vorstellungen von souveräner Gleichheit im Völkerrecht.
Im Abschlusspanel der Konferenz (an dem auch die Verfasserin dieses Beitrags teilnahm) wurde diese liberale „Grammatik der Gerechtigkeit“ (Peters) in ihrer Rolle als Machtinstrument diskutiert. Wie in einzelnen Vorträgen deutlich wurde, führen Bemühungen um eine bestimmte Form institutioneller Gerechtigkeit häufig zu neuen Grenzziehungen und Ausschließungen. So wertet die Anerkennung einer Opferkategorie zugleich andere Opfer ab (Ottendörfer), die zunehmende „Demokratisierung“ internationaler Institutionen durch Öffnung für zivilgesellschaftliche Gruppen begünstigt Vetreter bestimmter Anliegen und Weltregionen (Keynote speech von Jonas Tallberg, Stockholm University).
Harald Müller (HSFK) zog in seinem abschließenden Kommentar daraus die Schlussfolgerung, dass Toleranz für und Verständigung zwischen unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen zentral für die Wahrung des globalen Friedens seien. Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum kamen demgegenüber zu der entgegengesetzten Auffassung, dass die vielfältigen konkurrierenden Gerechtigkeitsansprüche nicht alle institutionell zu befriedigen seien und dass daher eine klare Positionierung des Gerechtigkeitsforschers zugunsten des ein oder anderne Gerechtigkeitskonzepts notwendig sei. Ohne eine solche normative Selbstverortung, so das Argument, sei keine Politikberatung zu leisten. Verbunden mit dieser Debatte war auch ein abschließender Verständigungsprozess über das Verhältnis von politischer Theorie und empirischer Gerechtigkeitsforschung. Sowohl Darrel Moellendorf (Goethe-Universität Frankfurt) als Vertreter der politischen Theorie als auch der empirische Politikwissenschaftler Peter Mayer (Universität Bremen) forderten eine stärker kausalanalytisch ausgerichtete Forschung über die Gerechtigkeitswirkungen internationaler Institutionen und die Dynamik von Gerechtigskonflikten, um auf der Basis gesicherter empirischer Erkenntnisse zu einer normativen Bewertung unterschiedlicher Reformvorschläge gelangen zu können. Andere Diskussionsbeiträge plädierten dagegen für einen Verzicht auf normative Positionierung und unterstrichen den Wert der Rekonstruktion unterschiedlicher Gerechtigkeitsdiskurse, auch wenn sich daraus keine eindeutige politische Empfehlung ableiten lässt. Die Diskussion über „Wege der Gerechtigkeit“ war damit letztlich auch Teil einer Diskussion über das Selbstverständnis der Politikwissenschaft an der Schnittstelle von Theorie und Praxis.
Caroline Fehl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der HSFK. Sie forscht zur Entstehung, Evolution und Wirkung internationaler Normen und Institutionen auf dem Feld der internationalen Sicherheitspolitik
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