Die Presseschau im Monat April nimmt sich wieder einige interessante Zeitschriften vor. Während chris die aktuellen Ausgaben einiger englischsprachigen Journals vorstellt, wirft maike einen Blick auf die deutschsprachige Zeitschriftenlandschaft dieses Monats bzw. Quartals. Doch lest selbst….
Philosophy and Social Criticism
Die Zeitschrift legt in ihrer aktuellen Ausgabe vom März ein Sonderheft auf, das sich mit den Beiträgen des Istanbul Seminars aus den letzten beiden Jahren (2008/2009) beschäftigt. Das alljährlich stattfindende Istanbul Seminar ist eine knapp einwöchig dauernde Veranstaltung, die sich jedes Jahr neuen Fragen rund um den Themenkomplex Religion, Kultur und Demokratie widmet. Auch in diesem Jahr, vom 19. -24. Mai 2010, in dem es unter dem Motto Realigning liberalism: Pluralism, Integration, Identities steht, scheint es wieder ein interessantes Programm zu geben.
Das neue Sonderheft der Zeitschrift Philosophy and Social Criticism teilt die Beiträge der letzten beiden Jahre in fünf Bereiche ein:
- Islam and democratic dialogue
- Rethinking toleration and pluralism beyond secularization
- Multiple modernities and multicultural jurisdictions
- Constitutional perspectives
- Concluding notes on politics and religion
Im Grunde finden sich in allen Bereichen lesenwerte Beiträge wieder. Alessandro Ferrara beispielsweise plädiert für eine Form von „Reflexive pluralism“ beim Umgang mit religiöser Pluralität und ordnet diese Form dem Liberalismus zu. Ebenfalls dem zweiten Bereich „ Rethinking toleration and pluralism beyond secularization“ gehört der Beitrag „The specter haunting multiculturalism“ von Richard Bernstein an. Bernstein formuliert darin eine Kritik an der Annahme von der Inkommensurabilität unterschiedlicher Kulturen und Religionen, die er hinter dem Begriff des Multikulturalismus auszumachen. Zwar redet er damit keinem abstrakten Universalismus das Wort, plädiert aber in Richtung einer „sensitivity to the ways in which all cultures are in principle open to the real possibility of enlarging one’s vision and mutually understanding.“ Im vierten Abschnitt nehmen sich Seyla Benhabib, Andrew Arato und Ayse Kadioglu den türkischen Konstitutionalismus vor. Benhabib, die sich in vergleichender Perspektive die Urteile rund um das Kopftuchverbot in Frankre languages andich, Deutschland und der Türkei ansieht, vertritt dabei die These, dass die Urteile Ausdruck einer neuen Form politischer Theologie seien.
Die Nummer ist im Ganzen lesenswert und wartet mit gleich drei interessanten Heftthemen auf: (1) Fallstricke der Säkularisierung, (2) die Systemkrise im Iran nach den Präsidentschaftswahlen 2009 und (3) Traditionslinien Kritischer Theorie.
(1) Nadia Urbinati wirft am Beispiel Italiens einige Argumente gegen Jürgen Habermas Konzeption einer post-säkularen Öffentlichkeit in den Raum. Seine über Rawls hinausreichende optimistische Position, religiöse Argumente im öffentlichen Diskurs weitreichend zulassen zu können, sei nicht gefahrlos auf mono-religiös geprägte Demokratien anzuwenden. Gerade Gesellschaften ohne religöse Pluralität, wie Urbinati am Beispiel Italien zeigt, liefen so Gefahr, antiliberal zu werden. Urbinati nennt das Phänomen ‘umgekehrte Laizität’, die sich zwar de jure religiös indifferent verhält, de facto aber religiösen Majoritäten wieder eine hegemomiale Position im öffentlichen Raum verschaffe. Eine “Laicité Italian style”, stelle damit nichts weiter als eine post-säkulare Adaption der alten Formel ‘cuius regio, eius religio’ dar.
(2) Ganz nah am Puls der Zeit ist die Zeitschrift mit fünf viel versprechenden Artikeln, die sich den politischen Ereignissen im Iran nach den Wahlen im vergangenen Jahr widmen: zum einen mit der Krise des politischen Systems (Ramin Jahanbegloo, Shahram Kholdi), zum anderen mit der Demokratiebewegung (Nader Hashemi, Interview mit dem iranischen Politologen Hossein Bashiriyeh, Victoria Tahmasebi-Birgani).
(3) Dann werden noch einige Traditionslinien der Kritischen Theorie beobachtet. John Abromeit verteidigt Herbert Marcuses phänomenologisch inspirierten Marxismus gegen das in jüngeren Diskussionen wieder aufgegriffene Urteil, Marcuse sei im Grunde stets Heideggerianer geblieben. “There is no way out of entanglement…”: Matt Waggoner liest noch einmal die ‘Minima Moralia’, auf den Spuren universalistischer Implikationen in Adornos Reflexionen auf subjektives Leiden. Jonathan Havercroft beschäftgt sich mit der linken Spinoza-Rezeption und nimmt dabei v.a. die Multitude-Konzeption von Negri/Hardt kritisch unter die Lupe. (Das neue Werk der beiden, ‘Common Wealth’, ist gerade auf deutsch erschienen, eine Leseprobe gibt es hier.) Alexandros Kioupkiolis beschäftigt sich mit radikaldemokratischen Theorien (Laclau/Mouffe, Unger und wieder Hardt/Negri).
Auch ein Blick in die Rezensionsessays und Einzelrezensionen lohnt sich: Richard J. Bernstein liest Habermas’ ‘Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze’, (2008 in engl. Übersetzung erschienen); Shannon K. Brincat vergleicht mit Robert B. Pippin und Axel Honneth zwei Theoriebildungen im Anschluss an Adorno. In den Einzelbesprechungen Jacques Rancière, Hatred of Democracy, (2007, frz. La haine de la démocratie, 2005) und Zygmunt Bauman, Does Ethics have a Chance in a World of Consumers? (2008).
European Journal of Political Theory
In der neuen Ausgabe des European Journal of Political Theory interpretiert Paul J. Cornish den Kirchenvater Augustinus als Republikaner in der Tradition von Cicero. Cornish macht diese Einschätzung daran fest, dass für Augustinus – ebenso wie für die Tradition des römischen Republikanismus – sich erstens „civil rule“ grundlegend von einer Herrschaft über Sklaven unterscheide; das politische Leben, zweitens, undeterminierbar sei und es bei einer Republik folglich um eine politische Ordnungsform handle, die geeignet ist „for governing free human beings“. Und drittens, ein weiser Mann sich seiner öffentlichen Aufgaben gerade nicht enthalte. „For Augustine the duty to public service is connected to his tragic portrayal of life and suffering in society after ‘the fall’. Augustine’s contribution to the republican tradition is not to be found in the concept of a natural order, but in an explanation of why that order fails.“
William Smith nimmt sich Arendts Schrift über Civil Disobedience vor und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass ihre Überlegungen anschlussfähig sind für die verfassungstheoretische Debatte, wie Minderheiten auf das politische Geschehen auf institutionellem Wege Einfluß nehmen können: „The call to institutionalize civil disobedience can be defended as an approach that is different to – and ultimately more appealing than – familiar liberal and democratic perspectives on this issue.“
European Urban and Regional Studies
Da Politische Theorie ohne die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen empirisch arbeitender Disziplinen ins Leere zu laufen droht, sei der Blick auf einen Artikel von Adrian Smith and Judit Timár mit dem Titel Uneven transformations: Space, economy and society 20 years after the collapse of state socialism empfohlen. Smith und Timár vereinen dabei einen diskursanalytischen Ansatz, der die post-socialist urban and regional studies Forschung auf ihre politischen biases abklappert, mit lesenwerter Untersuchung zur Veränderung von Räumen, Raumplanungs- und Raumentwicklungskonzepten in den ehemaligen Ostblockstaaten.
Journal of International Political Theory
Antonio Franceschet ist überzeugt, dass sich in Immanuel Kants Werk fünf schlagkräftige Argumente „for humanitarian intervention even in imperfect juridical conditions“ finden lassen. In seinen Überlegungen zu „Kant, International Law, and the Problem of Humanitarian Intervention“ argumentiert er, dass diese fünf Argumente jedoch davon abhingen, wie weit sich die „Herrschaft des Rechts“ inner- und zwischenstaatliche ausgebreitet habe und man von so etwas wie einer „development of cosmopolitan citizenship“ sprechen könne. Wenn das der Fall ist, dann können wir nach Franceschet von Kant lernen, dass „ultimately, humanitarian intervention should become a matter of coercive law enforcement rather than an ethical question of ‘saving strangers’.“
Die Debatte um Kant wird in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift International Theory von Thomas Doyle fortgesetzt. Allerdings beruft sich Doyle in seinem Aufsatz auf die Kantian nonideal theory, um darzulegen, dass unter bestimmten Umständen die Verbreitung von Atomwaffen an Staaten wie Iran „morally permissible“ sei „even though the NPT (Nuclear Nonproliferation Treaty) forbids it.“
Interessant ist überdies die Debatte zwischen Beate Jahn und Andrew Moravcsik, die sich nach Jahns Aufsatz vom November 2009 mit dem Titel „Liberal internationalism: from ideology to empirical theory – and back again“ entsponnen hat. Jahn kritisiert Andrew Moravcsik darin unter anderem für dessen implizite normative Grundannahmen beim Design seiner empirischen Forschungsprogramme. Bezugnehmend auf Wagners Meistersänger von Nürnberg antwortet der Opernkenner Moravcsik nun mit einer Replik, die den Titel ‘Wahn, Wahn, Überall Wahn’ trägt und inhaltlich dem Titel sehr nahe kommt. Nicht weniger undeutlich antwortet Beate Jahn darauf, indem sie die Frage „Universal languages?“ stellt. Es darf also gestritten werden!
Mittelweg 36 (2/2010)
Der Mittelweg 36 hat ein Heft zum politischen Liberalismus gemacht. Während Wolfgang Kersting den Wirtschaftsliberalismus mit einem weit ausholenden Griff in die ideengeschichtliche Kiste kritisiert, würdigt Herfried Münkler das Spätwerk Rolf Dahrendorfs und dessen tugendrepublikanische Erweiterung des klassischen Liberalismus. Lutz Wingert fordert in seinem Essay „Bürgerschaft und Marktwirtschaft“ eine politisch-juristische Reglementierung des Marktes, da moraliche Apelle an die Bürger nicht aureichten.
Sehr interessant ist auch der Beitrag des französischen Soziologen Dany Trom, der die Diskussion zwischen der deutschen, bzw. Frankfurter und der französischen Soziologie und Sozialkritik im Lichte ihrer unterschiedlichen Denktraditionen („Zwei Tropismen“) beleuchtet.
Jens Becker und Jürgen Faik legen mit Blick auf die zunehmende Ungleichheit der Einkommen und die daraus entstehenden sozialen Konflikte einige „Anmerkungen zur soziale[n] Verfasstheit der Berliner Republik“ vor.
Zeitschrift für Ideengeschichte (1/2010)
In diesem Jahr feiert die Humboldt-Universität ihren zweihundertsten Geburtstag . Die Zeitschrift für Ideengeschichte nimmt dies zum Anlass, sich den unzeitgemäßen Namensgebern mit gebührend kritischem Blick und „ohne falsche Frömmigkeit“ zu nähern – und hebt sich damit wohltuend von der falschen Alternative ‚Humboldt-Verehrung oder Humboldt-bashing‘ ab. Es gibt einen Artikel zu Alexander („Die Ironie des Unzeitgemäßen“, frei online verfügbar) einen zu Wilhelm („Einsamkeit um der Freiheit willen“) und einen, der vom zwiespältigen Verhältnis der Brüder zueinander berichtet – sehr informativ, sehr kurzweilig, und eine gute ideengeschichteliche Unterfütterung für hochschulpolitische Diskussionen. Politikwissenschaftlich Spannendes hat Mark Schweda aus dem Archiv geborgen: Eine Auswertung der Nachlässe Joachim Rotters und Carl Schmitts offenbart nicht nur begriffliche Nähen zwischen beiden.
Leviathan (1/2010)
Auch im Leviathan wird Dahrendorf gewürdigt („Der Soziologe als Hofnarr“). Jens Alber weist darauf hin, dass sich im Spätwerk Dahrendorfs zwar wichtige politische Aussagen finden (vgl. den Artikel von Münkler im aktuellen Mittelweg, s.o.), diese sich jedoch so recht erst mit Blick auf die früheren Texte erhellen und überprüfen lassen – und erinnert überdies daran, dass Dahrendorf sich selbst gerne in der Rolle des Hofnarren sah.
Rudolf Burger schreibt über „Willensfreiheit als philosophisches Problem“, das er darum immer noch als genuin philosophisches versteht, weil sein „Status als Problem selbst problematisch ist“. Der Text stellt eine schöne begriffsgeschichtliche Abhandlung dar, die von der Wittgensteinschen Erkenntnis getragen wird, dass es sich bei der Frage nach Willensfreiheit oder Determinismus doch letztlich um ein in der Theorie erzeugtes Problem handele. Als Therapeut wird schließlich Nietzsche empfohlen: „Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank: wer sie leugnet, ist dumm.“ Zudem haben Sabine von Oppeln und Reinhard Blomert mit Jacques Delors über Europa gesprochen („Heute muss man die Deutschen von Europa überzeugen“).
Mit einem umfangreichen und facettenreichen Schwerpunktheft (528 S.!) widmet sich die neue Ausgabe der Osteuropa der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in der Ukraine:
„All dies findet nicht irgendwo in der Ferne statt. Seit der Osterweiterung der Europäischen Union gehört die Ukraine zu unseren Nachbarn. Was zwischen Užhorod und Luhans’k geschieht, geht uns unmittelbar an. Doch allzu oft wird die Ukraine noch immer aus der Ferne wahrgenommen. Die Korrespondenten der meisten internationalen Medien berichten über die Ukraine mitnichten aus Kiew, sondern aus Moskau oder Warschau. Dieser Band macht es anders: Er lässt neben deutschen und internationalen Experten viele Ukrainer zu Wort kommen: Journalisten und Historiker, Schriftsteller und Politikwissenschaftler.
Zusammen gehen sie den Metamorphosen des Politischen nach, den Wandlungen der öffentlichen Sache, zu der neben der Politik selbstverständlich auch die Kultur, neben der Ökonomie auch die Gesellschaft gehört. Sie richten ihren Blick zu einem Zeitpunkt auf die Ukraine, da das Land einen Schichtwechsel erlebt. Der neue ukrainische Präsident Viktor Janukovyč, so fürchten oder hoffen viele, werde als starker Mann das Land wieder näher an Russland rücken. Doch Janukovyč versprach im Wahlkampf nicht „Change“, sondern Stabilität. Und angesichts der Lage der Ukraine kann Janukovyč gar nicht anders, als die Ukraine nach allen Seiten offen zu halten. Für Moskau und für Washington – und für Brüssel sowieso.“ (aus dem Editorial)
Ist jemand unter unseren Lesern bei der Tagung in Istanbul, die im Zusammenhang mit Philosophy & Social Criticism erwähnt wurde? Zwei der dort vorgestellten paper würden mich wirklich brennend interessieren…