Die Corona-Pandemie machte Einsamkeit zu einem virulenten Thema. Definiert wird die Emotion als ein subjektiv wahrgenommener Zustand, in dem das Bedürfnis nach Qualität und Quantität sozialer Beziehungen sich nicht mit den tatsächlich erfahrenen deckt (Luhmann 2022: 12f.). Je nach Studie sind in Deutschland etwa 11 bis 19 % der Gesamtbevölkerung zumindest manchmal davon betroffen (Entringer 2022; Neu & Küpper 2023: 337f.; Schobin et al. 2024: 19). Neuerdings geht es in der Diskussion darum, ob Einsamkeit auch demokratiegefährdend sein kann. So konstatiert etwa die Mitte-Studie: „Einsamkeit kann als Indikator verstanden werden für eine Gesellschaft, die sich zunehmend unverbunden fühlt, die sich von der Demokratie distanziert und ihren Institutionen misstraut“ (353). Daran anknüpfend wird Einsamkeit in diesem Beitrag als Anzeichen für ein gesellschaftliches Verhältnis gedeutet, das durch fehlende Verbundenheit zum Gemeinwesen, dem Gefühl, von demokratischen Institutionen nicht verstanden zu werden sowie dem Schein der Unveränderbarkeit von Politik gekennzeichnet ist.
Einsamkeit in der (Spät-)Moderne
Georg Simmel stellte einen Zusammenhang von individueller Freiheit und Einsamkeit her und verortete das Gefühl als Kehrseite der Individualisierung. Im Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft nimmt die Bedeutung der Gemeinschaft ab, an deren Stelle – mit Tönnies bekannter Unterscheidung gesprochen – die Gesellschaft tritt. Letztere erzeugt einen Bindungsverlust, der die Subjekte zwar von sozialen Rollen und Normen freisetzt, gleichsam aber der Gefahr der Desintegration aussetzt, welche sich in Anomie (Durkheim) oder Entfremdung (Marx) bahnbrechen kann. Es kommt zu dem paradoxen Umstand, dass man „einsam in Gesellschaft“ ist. Dialektisch zugespitzt heißt das: Ohne individuelle Freiheit gibt es keine moderne Einsamkeit und umgekehrt ist ohne sie keine Autonomie der Einzelnen denkbar.
In der Spätmoderne scheint der Raum für gemeinschaftliches Zusammenleben noch kleiner geworden zu sein. In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ wird das eigene Selbst zum Ankerpunkt der Lebensführung. In dieser auf die Herstellung von Einzigartigkeit bedachten Lebensweise grenzen sich die Subjekte durch Selbstverwirklichung, erhöhte Eigenverantwortung, Flexibilität und Mobilität von Gemeinschaften wie Nachbarschaft und Familie oder Zugehörigkeit generierenden Organisationen ab. Sowohl die Lohnarbeit als auch die Freizeitgestaltung sind im höchsten Maße individualisiert. Die dadurch erzeugte Unabhängigkeit des Individuums kann dazu beitragen, dass es immer weniger Kapazitäten hat, sich mit Mitmenschen verbunden zu fühlen.
All das ruft ein existenzielles Einsamkeitsempfinden hervor, welches sich als innere Verlorenheit ausdrückt: Dieses „entsteht in gedanklichen Auseinandersetzungen zwischen eigenen Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen sowie äußeren und institutionellen Erwartungen oder Anforderungen. […] Einsamkeit [ist] mit der tiefen Angst verbunden […], dass Identitätsentwürfe ins Leere laufen. Die betroffenen Personen haben das Gefühl, nicht authentisch zu leben, nicht sie selbst sein zu können oder dass andere ein besseres, erfüllteres Leben führen“ (Ewert & Ohlbrecht 2024). Psychoanalytisch gesprochen erwächst diese Einsamkeit aus der erlebten Abweichung des eigenen Verhaltens vom Ich-Ideal und äußert sich in Selbstabwertung. Der internalisierte Druck der Selbstoptimierung führt dazu, sich ständig mit anderen zu vergleichen und an der Realisierung der eigenen Ansprüche zu messen.
Einsamkeit als Symptom von Vereinzelung
Daraus folgt, dass potentiell gestaltbare Anliegen des politischen Gemeinwesens individuell und nicht kollektiv ausgehandelt werden. Richard Sennett sprach diesbezüglich von einem „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“. Statt ein gutes Leben für alle zu erkämpfen, treten die Vereinzelten als „einsame Masse“ in Status- und Anerkennungskämpfen gegeneinander an und trachten danach, sich voneinander zu distinguieren, anstatt sich zum Zweck der Allgemeinheit zu organisieren. So wird die „Einsamkeit des modernen Menschen“, der unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen in dauerhafter Konkurrenz zu anderen tritt und das „radikale Ich“ gegen eine solidarische Gemeinschaft stellt, zur Bedrohung für die Demokratie. Die meritokratische Leistungsideologie legitimiert nicht nur soziale Ungleichheit, sondern trennt die Menschen nach Erfolg und Misserfolg, wodurch das Gemeinwohl aus dem Blick gerät. Im Hintergrund steht ein „Prozess der Vereinzelung“, der zum „Rückzug auf das Selbst“ und zur „Entfremdung von der Welt“ führt (Schauer 2023: 16). Diese „Entgrenzung des Privaten“ trägt „zum Aufstieg eines neuen Gesellschaftsideals bei, das den Einzelnen nur noch als Vereinzelten adressiert“ (ebd.: 631).
Die Unzufriedenheit mit den verdinglichten Gegebenheiten wird individualisiert und psychologisiert, aber nicht mehr gemeinsam politisch verhandelt. Die dadurch verursachte Versehrtheit der Individuen in Form von Überforderung, Erschöpfung und Depression erfordert andauernde Resilienz. Die Lösung für gesellschaftliche Probleme verlagert sich als Copingstrategie ins Privatleben. Nur in dessen Gestaltung können die Einzelnen Selbstwirksamkeit erfahren und Handlungsmacht entfalten, nicht aber im Versuch der Veränderungen natürlich erscheinender gesellschaftlicher Strukturen, die Ursachen ihres Leidensdrucks sind. Die Folgen sind das Gefühl allein gelassen und von demokratischen Institutionen nicht ernst genommen zu werden, was auch mit dem Schwinden der öffentlichen Daseinsvorsorge korrespondiert, in dessen Zuge es durch einen umfassenden neoliberalen Sozialstaatsabbau zu Sicherheitsverlusten kam. Die Ökonomisierung des Sozialen mittels imperativer Selbstführungstechniken und die Kommodifizierung der Emotionen verstärken diesen Prozess. Symptom jenes Vergesellschaftungsmodus der Vereinzelung ist kollektive Einsamkeit, also die „fehlende Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe oder Gemeinschaft“ (Luhmann 2022: 22f.).
Einsamkeit und Demokratie
In einer Gesellschaft, in der strukturelle Probleme vereinzelt bewältigt werden, lässt Einsamkeit als „undemokratische Emotion“ die Verbundenheit zum Gemeinwesen schwinden. Einsame erleben sich abgekoppelt und nehmen die Welt krisenhafter und unsicherer wahr. Dies trägt zur „Reduktion des Gefühls der Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft“ und „zur Schwächung der politischen Partizipation vereinsamter Menschen“ bei (Schobin 2022: 34). So zeigen sich Einsame „weniger kooperativ und solidarisch und haben eine geringere Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen“ (Ernst et al. 2024). Dies kann auch an zurückgefahrener öffentlicher sozialer Infrastruktur liegen. Weil Demokratie auf Begegnungsorte angewiesen ist und Partizipation sowie Verantwortung für die Allgemeinheit benötigt, schwächt Einsamkeit demokratische Kohäsion: „Wenn ein Mensch individuelle emotionale Einsamkeit empfindet, die sich […] in Ausgeschlossenheit und in Rückzug manifestiert, erschwert dies seine Teilhabe und Teilnahme an Gesellschaft“ (Neu et al. 2023: 8).
Das mit Einsamkeit einhergehende Misstrauen gegenüber Mitmenschen und Außenwelt überträgt sich auch auf politische Institutionen: „Je geringer das interpersonelle Vertrauen im Durchschnitt ist, umso geringer ist auch das Institutionenvertrauen und umgekehrt.“ (Schobin 2022: 33). Wie oben skizziert erfahren die Menschen unter neoliberalen Zuständen, dass sie kollektiv anzugehende Probleme individuell lösen müssen und sich dabei nicht auf den Staat verlassen können, was demokratische Legitimität erodieren lässt, insbesondere wenn man sich angesichts sozialer Polarisierung vor Augen führt, dass Einsamkeit ungleich verteilt ist und mit Armut und Diskriminierung zusammenhängt. Zwar ist „die Schwäche und die Krise demokratischer Strukturen und Institutionen […] nicht die Schuld der Einsamen, aber die institutionelle Erosion, die wir zurzeit erleben ist auch nicht ohne weit verbreitete Gefühle und Erfahrungen der Einsamkeit zu erklären“ (Neu & Vogel 2024).
Das geht auf die angebliche Unveränderbarkeit von Politik zurück, die im spätmodernen Neoliberalismus naturalisiert zur „Anpassung an tendenziell unverfügbare Rahmenbedingungen“ wird (Schauer 2023a: 23). Einsame Menschen nehmen besonders stark wahr, auf Politik keinen Einfluss nehmen zu können: „Sie fühlen sich […] weniger selbstwirksam, haben also eher den Eindruck, politisch machtlos zu sein und nicht gehört zu werden“ (Neu & Küpper 2023: 349). Demokratie kann nur funktionieren, wenn genug Menschen das Gefühl haben, dass ihre Stimme zählt. Weil Politik in vereinzelten Gesellschaften aber oftmals als alternativlos aufgefasst wird und Beteiligungsmöglichkeiten und Gestaltungsräume fehlen, in denen Menschen ihre Interessen vertreten, sich solidarisieren und Selbstwirksamkeit erfahren können, ruft das kollektive Einsamkeit hervor, die als politische Ohnmacht zur Abkehr von der Demokratie führen kann.
Die vermisste Zugehörigkeit in der Intimsphäre, ausgelöst durch fehlende Resonanz und mangelnde Anerkennung in sozialen Beziehungen, wird im schlimmsten Fall mit regressiver Vergemeinschaftung und Ressentiments kompensiert. Auf diese Weise hängt Einsamkeit mit demokratiegefährdenden Haltungen zusammen: Sie führt zu geringerer Wahl- und allgemein politischer Beteiligung, kann Empfänglichkeit für Populismus und Verschwörungsmythen sowie Billigung politischer Gewalt begünstigen. Einsame haben eher einen Hang zu „neurechten völkisch-autoritär-rebellischen Einstellungen“ und können affin für „Vergemeinschaftungsangebote“ von Rechtsextremen und Verschwörungsgläubigen werden (Neu & Küpper 2023: 349ff).
Einsamkeit und Verlassenheit
Schon Hannah Arendt wies auf die Gefahr der Vereinzelung hin, die dem Totalitarismus den Weg ebne: „Was moderne Menschen […] so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen ist und auf nichts mehr Verlass ist“ (752). Ihr zufolge entstanden die „Massen“ als Grundlage totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert „aus der Zersetzung einer bereits atomisierten Gesellschaft“, die sich durch „Konkurrenz zwischen den Individuen und die aus ihr entstehenden Probleme der Verlassenheit“ sowie „Kontaktlosigkeit und Entwurzeltheit“ auszeichne (ebd.: 508). Arendt betont zwar den Unterschied zwischen Einsamkeit und ‚wirklicher‘ Verlassenheit: „In der Einsamkeit bin ich eigentlich niemals allein; ich bin mit mir selbst zusammen […]. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann“ (ebd.: 751). Jedoch könne Einsamkeit zu Verlassenheit werden, die schließlich politische Konsequenzen habe, wenn „diese gemeinsame bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft“ (ebd.).
Diese Analyse ist vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse, die Individuen strukturell vereinzeln und systematisch Einsamkeit produzieren, hochaktuell. Damit aus der grassierenden Einsamkeit keine massenhafte Verlassenheit im Sinne Arendts wird, gilt es deshalb ausgehend von den hier dargelegten Überlegungen, politische und pädagogische Gegenstrategien zu entwerfen, die Solidarität und Demokratisierung präventiv gegen Vereinzelung und autoritäre Sehnsüchte einsetzen.
Tobias Brück ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München. In seinem Promotionsprojekt befasst er sich mit Einsamkeitserfahrungen von Schüler*innen und Strategien der kritischen politischen Bildung gegen die Vereinzelung von Jugendlichen.
Danke für die Vorstellung und gute Wünsche zur Dissertation!