Digitale Demokratietheorie: Nachhaltige Updates statt disruptiver Innovation – Kommentar zum ZPTH-Artikel von Robert Brumme und Dennis Bastian Rudolf

Das neue Heft der Zeitschrift für Politische Theorie, diesmal ein Doppelheft, ist erschienen. Entsprechend folgen auch bei uns pünktlich zum Semesterschluss zwei ZPTh-Debatten. Bevor in der nächsten Woche die Grenzen von Bürgerschaft und Demos in Europa Gegenstand der Debatte werden, steht heute der Themenschwerpunkt des Doppelhefts im Fokus. Andreas Busen und Alexander Weiß haben hier unter der Überschrift „Realität und Realismus in der Demokratietheorie“ eine Vielfalt an Beiträgen versammelt. Christof Royer diskutiert das Verhältnis von politischem Realismus und agonistischer Demokratie, Manon Westphal skizziert mit Blick auf agonalen Pluralismus und Populismus die ‚Konturen einer realistischen Demokratietheorie‘ und Amadeus Ulrich widmet sich mit einem Aufsatz zu ‚Furcht und Elend in der Demokratie‘ dem Denken Judith N. Shklars. Im zweiten Teil des Schwerpunkts konfrontiert uns Marlon Barbehön mit ‚der Realität der Zeit‘ und Gedanken zur Temporalisierung der Demokratietheorie, während Dominik Austrup und Palle Bech-Pedersen nach den Folgen des Unwillens zu Partizipieren in und für die Demokratie fragen. Bevor der Schwerpunkt mit einem Interview zum Verhältnis von Demokratietheorie und Realismus endet, das Busen und Weiß mit Lisa Herzog und Enzo Rossi geführt haben, diskutieren Robert Brumme und Dennis Bastian Rudolf den Umgang mit digitalen Technologien in der Demokratietheorie. Letzterer Aufsatz steht open access zur Verfügung und in der folgenden ersten der beiden ZPTh-Debatten zur Diskussion. Den Aufschlag machen Ann-Kathrin Koster und Sebastian Berg mit ihrem Kommentar, auf den die Autoren antworten werden. Wie immer sind alle herzlich zum Mitdiskutieren in den Kommentarspalten eingeladen. … to be continued …

Digitale Demokratietheorie: Nachhaltige Updates statt disruptiver Innovation

Der Beitrag “Zwischen Realität und Realismus. Zum kritischen Umgang mit digitalen Technologien in der Demokratietheorie” von Robert Brumme und Dennis Bastian Rudolf behandelt nicht nur einen aktuellen Gegenstand – die Digitalisierung –, er fragt auch danach, wie eine realistische politische Theoriebildung als kritische Befragung bestehender Machtverhältnisse operieren soll. Brumme und Rudolf  adressieren damit politiktheoretische Fragen, die uns ebenfalls umtreiben, weshalb wir uns sehr über die Möglichkeit zur Debatte freuen.

Der Beitrag widmet sich der Frage, was realistische politische Theorie ausmacht und verhandelt dies an der Diskussion digitaler Technologien in der Demokratietheorie. Als realistisch gilt den Autoren eine politische Theorie dann, “wenn sie nicht mit der Explikation moralischer Ideale und Konzepte beginnt”, sondern mit der Reflexion der Bedingungen, unter denen sich Politik vollzieht. (138) Daher schlagen sie vor, „Fragen der Autonomie verstärkt in die Theoriebildung einer digitalen Transformation einzubringen.” (140) Schließlich sei Technik sozial konstruiert und einerseits abhängig von Deutungskämpfen, greife andererseits in die Vermittlung der Wirklichkeit hinein – insbesondere durch algorithmische Systeme. Die Frage nach Autonomie sei daher zentral, insofern “mittels Technik Ansprüche durchgesetzt und vorteilhafte Positionen in der Gesellschaft erzeugt und stabilisiert werden.” (144) Brumme und Rudolf kritisieren, dass es in der demokratietheoretischen Auseinandersetzung mit digitaler Technologie an einem solchen, normativ reflektierten Abstraktionsniveau fehle. Ein “pragmatischer Fokus” auf den ko-evolutionären Prozess von Demokratie und Digitalisierung instrumentalisiere digitale Technologien zur Lösung der Krise der Demokratie (134) und begründe Demokratie daher aus bestehenden, vermachteten Verhältnissen heraus. So würde die Geschichte eines “Siegeszugs der Demokratie” fortgeschrieben und das kritische Potential einer realistischen politischen Theorie verpasst. (134)

Die grundsätzliche Erwägung, wie man digitale Technologie politik- oder demokratietheoretisch denken sollte, teilen wir und eine kritische Reflexion der Bedingungen, unter denen sich Politik vollzieht, ist auch der Anspruch unseres Forschens (vgl. etwa hier oder hier). In der Auseinandersetzung mit der Argumentation des Beitrags stellen sich jedoch einige grundlegende Fragen. Diese betreffen die Konzeptualisierung des Digitalen, die Interpretation des Diskurses digitaler Demokratie und des Begriffs der Affordanz, sowie das Kriterium der Autonomie.

Ein Plädoyer für klare Begriffe: das Digitale

Der erste Punkt adressiert den Begriff des Digitalen. Die Autoren machen klare Begrifflichkeiten zur Bedingung analytischer Schärfe und beklagen deren Fehlen in der digitalen Demokratietheorie. Sie werden jedoch selbst dem Anspruch nur begrenzt gerecht:  So schreiben sie, dass das Digitale nicht einzelne Technologien seien (ein berechtigter Punkt), sondern im Sinne Latours als Assoziation zu verstehen wäre, d.h. eine “komplexe Zusammenhangsstruktur aus allem was einen Unterschied macht: Ideen, Artefakte, Menschen, Programme, Bewertungspraktiken, Technologien”; das Digitale sei “die Ausbreitung einer spezifischen digitalen Logik, Bewertung und Weltsicht” , die sich auszeichnet durch “eine weite Vorstellung als etwas Interdependentes und Netzartiges, welches Strukturen, technische Artefakte, menschliche Praktiken und Bewertungslogiken verbindet” (141). Mit Verweis auf Dirk Baecker und Armin Nassehi wird noch ergänzt,  das Gemeinsame sei die binäre Codierung bzw. “das Versprechen der Bereitstellung einer Lösung für viele gesellschaftliche Probleme” (141). Die Unschärfe dieser Definition lässt uns zugegebenermaßen recht ratlos zurück. Selbst wenn man den Widerspruch zur Forderung nach begrifflicher Schärfe außer Acht lässt, stellt sich die Folgefrage, warum aus einer solchen Umschreibung eine gelungene Perspektive auf “entstehende Ambivalenzen digitaler Gesellschaften ermöglicht” wird (142), nicht aber durch zuvor die kritisierte Perspektive einer digitalen Demokratietheorie “mit pragmatischem Fokus”?

Der Strohmann der digitalen Demokratietheorie

Die unter der Chiffre digitaler Demokratietheorie mit “pragmatischem Fokus” (134) subsumierte Position argumentiert laut Brumme und Rudolf, Demokratien würden sich durch eine prinzipielle Veränderbarkeit auszeichnen und demokratische Institutionen und Praktiken sich daher mithilfe digitaler Technologien “positiv beeinflussen lassen” (137). Brumme und Rudolf beziehen sich hier auf eine Reihe von Autor*innen, die über eine Heuristik des Wechselverhältnisses von Digitaltechnologie und Gesellschaft zu reflektieren versuchen, wie sich die Bedingungen von Politik und politischer Theorie ändern – also die Zielsetzung und Argumentation von Brumme und Rudolf teilen. Es drängt sich daher die Frage auf, wo genau hier die Differenzen verortet werden?

Die von Brumme und Rudolf rekonstruierte Position digitaler Demokratietheorie ist für ihren Beitrag konstitutiv – denn von diesem Ansatz grenzen sich beide Autoren dezidiert ab. Die Position zeichne sich den Autoren zufolge dadurch aus, dass sie bestehende Demokratien durch digitale Technologie auf der Basis “vordigitaler” Modelle zu verbessern suchten (139). Dabei zögen sie ihr normatives Fundament zur Begründung von demokratischen Ordnungen (137) aus der Empirie hegemonial vermachteter Ordnungen und würden so das Narrativ eines Siegeszugs der Demokratie fortschreiben. Gleichzeitig gehe damit einher, dass sie sich auf vermeintliche Möglichkeiten des Digitalen stützen, anstatt sich an den tatsächlichen (!) Funktionalitäten des Digitalen zu orientieren. (139) Angesichts einer durch Brumme und Rudolf  sozialkonstruktivistisch begründeten Techniktheorie scheint es hier erstens signifikante konzeptionelle Spannungen zu geben, insofern Funktionen nicht als objektive Tatsache gegeben sein dürften, sondern kontextuell und abhängig von Deutungen in Erscheinung treten. Vor allem aber operiert ihre Interpretation zweitens auf einer sehr eigenwilligen Rekonstruktion dieser digitalen Demokratietheorie.

Die in weiten Teilen als Hauptreferenzen herangezogenen Texte (insbesondere Berg/Hofmann 2020; Berg et al 2020, Berg et al 2021, Borucki et al 2020; Hofmann 2019) zielen nämlich keinesfalls darauf ab, die Demokratie präskriptiv durch digitale Tools zu reformieren. Vielmehr stellen sie gerade solchen instrumentellen und latent technikdeterministischen Lesarten eine analytische Perspektive entgegen, nach der Technik und Gesellschaft ein kontingentes Wechselverhältnis bilden, dass es als Grundlage politiktheoretischer Deutung anzuerkennen gilt. Ebenso wenig geht es den hier herangezogenen Abhandlungen darum, digitale Demokratie im Sinne einer normativen Theorie zu begründen und zu legitimieren. Wenn vor dem Hintergrund der Digitalisierung  etwa von experimentellen Praktiken gesprochen wird, dann nicht in präskriptiver oder normativer Hinsicht, sondern als analytischer Befund einer kontingenten (aber nicht beliebigen) Relation. Auch in der digitalen Konstellation etwa geht es nicht um die Begründung oder Vorbereitung “emanzipatorischer Transformationsversuche” (136), sondern darum, “die Bedingungen zu reflektieren, unter denen sich Politik in einer Gesellschaft vollzieht, die durch den Umgang mit digitaler Technik geprägt ist.” (Berg et al. 2020: 182) So gelesen sind die herangezogenen Arbeiten in ihrer Zielsetzung quasi deckungsgleich mit dem Vorhaben von Brumme und Rudolf – nämlich: “die relevanten Ebenen der Digitalisierung demnach ausgehend von der Reflexion der Bedingungen und Eigenschaften identifizieren, unter denen sich Politik in einer digitalen Gesellschaft vollzieht.” (142) Der Widerspruch der Ansätze erweist sich bei genauerem Lesen als Schimäre und es liegt mindestens eine unglückliche Misinterpretation vor.

Wenn der Unterschied nicht so sehr im Vorhaben selbst liegt, dann vielleicht in den grundlegenden Bezugspunkten der Analyse? Hier kritisieren die Autoren, dass die Fokussierung auf Kontingenz eine Reflexion der normativen Begründung unterlaufe bzw. von der “Präferenz eines spezifischen Demokratiekonzepts und dessen Affordanzen determiniert” bleibt. (138)  Dies liegt jedoch quer zu der Weise, wie “technische Affordanzen” in den herangezogenen Texten entwickelt werden. Das Konzept der Affordanzen, wie es etwa in der Heuristik der digitalen Konstellation angelegt ist, konzeptualisiert die Entwicklung und Aneignung digitaler Technologie durch die beobachteten Akteur*innen, und soll einseitigen Lesarten vorbeugen, digitale Technologie mache objektiv gesehen dies oder jenes (daher auch die Differenzierung von Affordanzen als subjektiver, kontextgebundener Wahrnehmung der Akteur*innen einerseits und praktisch realisierten Affordanzen als Versuch, etablierte Routinen und Sichtweisen im Umgang mit Technologie kontingenzsensibel theoretisch zu generalisieren). Es geht jedoch gerade nicht um die demokratietheoretischen Affordanzen, also Möglichkeitsräume, welche die Demokratietheoretiker*innen aufgrund der Selektion- und Orientierungsfunktion spezifischer Demokratietheorien wahrnehmen. Die Betonung von Affordanzen unterläuft also keineswegs die normative Reflexion, sondern bildet die Grundlage einer differenzierten Betrachtung. Und sie schränkt ebensowenig die Begründung neuer Ansätze digitaler Demokratie ein, sondern bietet eine Heuristik an, die in unterschiedlichen Ansätzen herangezogen werden kann. Von einer “Imbalance im Spannungsverhältnis von kritischer Reflexion und technologischer Aktualität” (139) kann keine Rede sein.

Realismus & Reflexion revisited

Vielmehr werden hier in unseren Augen grundsätzliche politiktheoretische Schwächen der Argumentation deutlich: So bleibt die demokratietheoretische Begründung des Kriteriums ‘Autonomie’ unklar, während die prinzipielle Gegenüberstellung von Technik und Autonomie in dieser Einseitigkeit dem Postulat der sozialen Gemachtheit von Technologie zuwiderläuft. Und wenn zudem nicht nur die Affordanzen demokratietheoretischer Konzepte, sondern die generelle Verwendung “vordigitaler” Modelle der Demokratietheorie schon als falsche Vorgehensweise einer normativen Reflexion diagnostiziert wird, dann stellt sich generell die Frage, was für die Autoren eigentlich Ziel und Operationsmodus der Demokratietheorie sein soll?

So müsste man erstens doch genauer begründen, wie sich eine (technologische) Veränderung empirischer Bedingungen tatsächlich direkt in eine fehlende Plausibilität oder Falsifikation normativer Geltungsgründe übersetzt. Dies könnte beispielsweise per rationaler Rekonstruktion oder genealogischer Untersuchung geschehen, doch solche grundlegenden methodischen Überlegungen werden hier nicht weiter bedacht. Zweitens muss Demokratietheorie, weil Demokratie ein überdeterminierter und umkämpfter Begriff ist – wie die Autoren selbst anführen –, stets selektive Schwerpunkte setzen. Geht es um Freiheit, um Gleichheit, um Solidarität, ist sie direkt oder repräsentativ zu denken? Demokratietheorie kommt gerade in ihrer Vielfalt dieser Selektions- und Orientierungsfunktion nach, sowohl hinsichtlich ihrer normativen Prinzipien wie ihrer analytischen Annahmen. Daher bedarf es für das Digitale keine neuen, nachdigitalen Theorien, sondern eine Aktualisierung bestehender Prämissen, um die gesellschaftlich-politische Aneignung digitaler Technologie in ihren Ambivalenzen zu erfassen. Der bezeichnete “pragmatische Fokus” digitaler Demokratietheorie macht genau das: er plädiert für eine Perspektive, die einerseits die unterschiedlichen normativen Referenzpunkte der Demokratie, andererseits die Ambivalenzen der technologischen Aneignungspotentiale zur Basis empirischer Analyse wie normativer Reflexion macht und so anerkennt, dass Technik eben Form der Freiheit wie der Unfreiheit sein kann.

Dagegen wird nicht plausibel, warum Technik der Autonomie prinzipiell gegenübergestellt ist oder warum Autonomie nun das zentrale Kriterium demokratietheoretischer Bewertung sein sollte. Der gebetsmühlenartig vorgetragene Ruf nach Autonomie von und durch Technik gehört zum Standardrepertoire der politik- und sozialwissenschaftlichen Digitalisierungsforschung. Vor allem aber wird die Relevanz für eine dezidiert demokratietheoretische Perspektive nicht ersichtlich. Wenn das Versprechen auf Teilhabe das zentrale Element ist (140), warum dann nach Autonomie und nicht etwa nach Partizipation oder Gleichheit fragen? Stattdessen wird eine “autonome […] und authentische […] Lebensweise” der Subjekte zum Kriterium stilisiert (148) und so selbst die naheliegende Dimension der kollektiven Gestaltung des Digitalen als Aspekt ausgespart, mit dem man etwa das Politische als autonome Rationalität der Demokratie gegen instrumentelle Technizität hätte in Anschlag bringen können. Digitale Demokratie dagegen als neutralistisch und machtvergessen zu kritisieren, verpasst den eigentlichen Clou dieses Ansatzes wie auch den der eigenen sozialkonstruktivistischen Argumentation: dass Technik, eben weil sie gesellschaftlich konstruiert ist, auch umkämpft und der Aneignung gegenüber offen ist und daher nicht zum reinen Herrschaftsinstrument gemacht werden kann. Sie ist nicht einfach das Andere der Freiheit. Die Frage nach den Machtverhältnissen kann ernsthaft erst gestellt werden, wenn Technik in ihrer Form als gestaltungsoffen und als abhängig von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zugleich gedacht wird, sie folglich einer kritischen, politischen Perspektive zugänglich gemacht wird.

Fazit

Auch wenn uns der Artikel in seiner Zielsetzung sehr nahe ist, so sind unsere Einsprüche doch substantieller Natur. Unser Eindruck ist, dass die demokratietheoretische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung mittlerweile reflektierter ist, als der Beitrag argumentiert. Das Motto “altes Denken für neue Gegebenheiten” hat hier Potential, auch wenn es anders intendiert ist. Denn weder werden die Geltungsgründe der Demokratie nun einfach ungültig, noch ist anzunehmen, dass Bürger*innen oder Demokratietheoretiker*innen digitale Demokratie nun “from scratch” neu erfinden. Auch wenn sich die Digitalisierung und ihre Entrepreneur*innen gerne besonders innovativ und disruptiv geben, so muss in der Digitalisierungsforschung nicht alles “vordigitale” gleich abgewertet oder aufgegeben werden. Schließlich hat die Demokratietheorie ein offenes Betriebssystem – dessen Update erlaubt nicht nur kritische, sondern auch nachhaltige Lösungen.

 

Sebastian Berg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er forscht zur politischen Theorie der Digitalisierung und digitaler Demokratie.

Ann-Kathrin Koster ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weizenbaum-Institut/WZB. Dort beschäftigt sie sich im Rahmen ihrer Promotion mit digitaler Technik aus einer demokratietheoretischen Perspektive. 

 

2 Kommentare zu “Digitale Demokratietheorie: Nachhaltige Updates statt disruptiver Innovation – Kommentar zum ZPTH-Artikel von Robert Brumme und Dennis Bastian Rudolf

  1. als gescheiterter nach-wie-vor-protagonist „digitaler demokratie“ muss ich sagen, dass auf dieser allgemeinen ebene von demokratie, u. erst recht nicht von ihr im hinblick auf’s digitale, kaum sinnvoll gesprochen werden kann: d. ist einerseits im polit. alltag ein sammelbegriff für das, was in weiten kreisen als legitime herrschaft gilt, der andererseits je sporadisch und nur strangweise (rhizomale gestalt) mit theoremen – teils höchst universell-allgemeiner höchstansprüche – unterfüttert wurde. weshalb es nie lange dauert, bis man im weiten feld demokratischen denkens u. handelns auf gebiete trifft, wo die ganz allg. theoreme überhaupt nicht mehr passen, sich von nicht hilfreich, z. b. weil nicht einschlägig, bis hinderlich erweisen.

    einerseits ist mit der anti-these zur feudalstruktur inkl. der zunft-herrschaften der d.-begriff als sammelbüchse in den unteren bis mittleren teil des klassisch-politischen feldes gestellt worden,
    pol(e)is, sowie deren verbünde zu territorialen „staaten“, sowie zur übernahme der feudal-hüllen wie herzogtümer u.ä., in „länder“, andererseits ist sowohl von „unten“, – selbstregierung, demarginalisierungen (z. b. frauenrechte), partizipationen, „minderheiten“/intersektionale identitäts-politiken usw. -, dieser sammeltopf weiter gestoft worden, als auch oben, im diplomatischen, imperialen, militärischen u. geheimdienstlichen, in der transnationalen ressourcen- u. techno-politik usw., sind demokratische ansprüche ebenso angekommen wie die verschiedenen digitalitäten.

    bevor also, wie im fazit des artikels nominalisiert, an „digitale demokratie“ gedacht wird, sind die unterschiedlichen demokratie-stränge zwischen bsplw. „demokratischer familie“ vs. individ. verantwortlichkeit als „haushaltsvorstand“ bzw. sorgerechtsträger/in (darin große differenz zu bsplw. delegierten u. beamten, die kaum persönlich für ihr polit. tun und lassen gerade stehen müssen, was z. b. den feudal-herrschern noch tlw. anhing), einerseits und andererseits der „datierung“ der welt durch eine überfülle an beobachtungs-, überwachungs- u. transaktionsdaten sowie der expliziten, medialen äußerungen in die hand zu nehmen, und je die rolle von digitalität nach fakten u. normen, ist/soll, sowie nach faktisch-technischen wie auch normativen POTENTIALEN je nach interessen zu evaluieren, – was u. a. auch zur frage führt, wie „demokratisch“ denn das je digitale selbst schon aufgestellt ist u. sein müsste, um dieses o. jenes demokratie-„ziel“ erreichen zu können.

  2. in der digitalisierten alltagswelt nimmt der raum (scheinbar?) bedeutungslosen handelns individuell mehr und mehr ab, insoweit alles tun und lassen irgendwann irgendwo auch „gelesen“ wird. damit kommt man dem alten traum von goldenen büchern u. ä. viel näher als je zuvor, – was offenbar auch einem bedürfnis nachzukommen sucht, darüberhinaus aber zumindest als vorstufe der anerkennung, der rekognition, auch in gesellschaftlicher hinsicht schon wirkungen zeitigt, vorbedingung mancher akt. phänomene sein dürfte und streckenweise schon leitend, dispositiv, sein kann.

    eigneten sich die menschen mit/nach gutenberg und luther transzendenz an, so setzt hier der umgekehrte prozeß ein, in dem eine geradezu jenseitige metasphäre sich das lesbare der menschen aneignet.

    für demokratietheoretische diskurse bedeutet das, sich klarzumachen, dass die demokratisierung des himmels anstünde, aber ein mapping der gewollt riesigen, metapersonalen sphären aus institutionen, recht, solidarkassen, wirtschaft, gesundheitswesen, regierungen usw., die das leben zunehmend digital regeln, auf die kapazität von individuen gnadenlos scheitern muss. individuell verbleiben bloß so geringe ausschnitte der erkennbarkeit, dass auch deren millionenfaches zusammenfügen, deren „kollektivierung“, ohne gewicht bliebe, ganz abgesehen von den fehlenden strukturellen voraussetzungen für soetwas wie datengewerkschaften o.ä.
    bliebe noch die schaffung von counterspheres in diesen meta-räumen, die ähnlich abgehoben und undurchdringlich arbeiten wie die funktionellen originale …

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