In der politischen Theorie wird der Sorgebegriff eher stiefmütterlich behandelt. Dies entspricht jedoch keineswegs seiner Rolle in der Philosophie. Dort kommt ihm schon seit der Antike eine zentrale Bedeutung zu (z. B. bei Sokrates oder in der Stoa), die im 20. Jahrhundert etwa von Martin Heidegger und Michel Foucault mit je eigener Stoßrichtung aufgegriffen und den Bedingungen der Moderne angepasst wurde. Die Sorgebegriffe der beiden und ihre produktive Aneignung sind seitdem wichtig für die moral- und sozialphilosophische Debatte. Der Grund, warum die politische Theorie nur zögerlich auf die hier angelegte Ressource zurückgreift, liegt wohl darin begründet, dass das Verständnis von Sorge bei beiden auf das einzelne Subjekt fokussiert ist und die relationale Dimension eine eher untergeordnete Rolle spielt. Erst die feministische Ethik rückt das spezifisch interpersonale und subjektkonstitutive Moment von Sorgebeziehungen in den Vordergrund und zeigt auf, dass menschliche Freiheit und Individualität durch sorgende Andere überhaupt erst ermöglicht wird. Diese Einsicht gilt es auch stärker für die Relevanz von Sorge und Interdependenz im politischen Denken fruchtbar zu machen.
Der philosophische (Selbst-)sorgebegriff bei Heidegger und Foucault
In Heideggers existenzial-ontologischer Analyse, die er in Sein und Zeit unternimmt, wird die Sorge als grundlegender Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins gedeutet. Heidegger versteht Sorge dabei in einem umfassenden Sinn und umreißt drei zentrale Manifestationsweisen, nämlich als „Besorgen“ (womit allgemein die menschliche Praxis charakterisiert ist), als Fürsorge gegenüber Anderen sowie als Selbstsorge (S. 191ff.). Allerdings hebt er dabei die Abhängigkeit der Selbstsorge von den anderen beiden Modi hervor, weil diese bereits voraussetzt, mit anderen Menschen eine geteilte Welt zu bewohnen (S. 193). Obwohl Foucault hinsichtlich seiner theoretischen Grundannahmen stark von Heideggers Ansatz differiert, bestehen doch gewisse Ähnlichkeiten, die der Tatsache geschuldet sind, dass Foucault von Heidegger und seiner Kritik des herkömmlichen philosophischen und metaphysischen Denkens beeinflusst war. Auch bei Foucault wird Sorge zunächst nicht primär als intersubjektive Beziehung gedeutet, sondern vielmehr steht der Modus der Selbstsorge im Vordergrund, den er im Rückgriff auf stoische Denker als eine Ästhetik der Existenz entwirft.
Heidegger und Foucault haben außerdem gemeinsam, dass sie Sorge beide nicht als ausschließlich positive Haltung deuten, sondern ihre ambivalente Struktur aufzeigen. Damit ist ein wichtiger systematischer Punkt benannt, den ich für meine Skizze einer Politik der Sorge am Ende dieses Beitrags noch einmal aufgreifen werde. Bei Heidegger wird diese Doppelwertigkeit insbesondere in Gestalt der Fürsorge, als Sorgen für Andere, deutlich: Fürsorge kann in einer einspringend-beherrschenden Form auftreten, in welcher der andere Mensch zum Abhängigen und Unterworfenen wird; sie kann sich aber auch als vorspringend-befreiende äußern, die dem anderen Menschen erst ermöglicht „in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“ (S. 122) Ähnlich unterscheidet Foucault zwischen einer normierenden und unterwerfenden (Für-)Sorge und einem widerständigen und befreienden Modus der (Selbst-)Sorge, in welchem festschreibende Subjektivierungen aufgebrochen werden. Obwohl beide Denker also recht umfängliche Sorge-Begriffe haben und keinen rein solipsistischen Begriff der Sorge vertreten, fehlt aber doch eine wichtige sozial-relationale Dimension. So stehen das Selbst-sein-Können (Heidegger) bzw. die Ästhetik der Existenz (Foucault) im Zentrum des jeweiligen Interesses der beiden Autoren. Verbunden damit ist eine un-politische Deutung der Sorge, die bei Heidegger freilich stärker ausgeprägt ist als bei Foucault. Letzterer macht zumindest eine machtkritische und widerständige Dimension stark und betont die Unabdingbarkeit des anderen Menschen für die eigene Selbstpraxis. Dennoch bleibt die Relationalität der Sorge bei beiden Denkern unterbelichtet. Beide unterschätzen ein Verständnis der Sorge, wonach diese ein affektiv und somatisch geleitetes Handeln bezeichnet, das Anderen in einer befürwortenden und anteilnehmenden Weise gilt.
Relationalität der Sorge in der feministischen Ethik
Der (zu) enge Fokus auf den/die Einzelne*n und dessen/deren Möglichkeiten der emanzipatorischen Selbstsorge bzw. der Einlösung des eigenen ‚eigentlichen‘ Seins klammert ein zentrales Moment des Sorge-Begriffs aus, auf das insbesondere feministische Theoretikerinnen hingewiesen haben: Sie machen darauf aufmerksam, dass autonome Handlungsfähigkeit Menschen nicht einfach per se gegeben ist, sondern individuelle Selbstbestimmung stets von Beziehungen der Fürsorge, der Interdependenz und des Einstehens sorgender Anderer abhängig ist. So betont etwa Judith Butler in Anschluss an die Ethik von Emmanuel Lévinas die Vorgängigkeit der Sorge, welche die Konstitution von Subjekten, die dann auch um sich selbst besorgt sind, allererst ermöglicht. Diese auch unter dem Begriff der „relationalen Autonomie“ verhandelte Einbettung von subjektiver Freiheit in Beziehungen der Sorge und Abhängigkeit zielt aber keineswegs darauf ab, menschliche Interdependenz und rationale Autonomie zu dichotomisieren oder gar gegeneinander auszuspielen, etwa indem Fürsorge als weiblich konnotiert und einer männlich gedeuteten Vernunft entgegengesetzt würde. Vielmehr ist eine feministisch inspirierte Sorgeethik bestrebt, mit Hilfe des Begriffs der relationalen Autonomie die Verflochtenheit von Autonomie und Abhängigkeit aufzuzeigen, und zwar nicht nur was Kindererziehung oder Pflegesituationen von kranken, alten oder behinderten Menschen anbelangt, sondern hinsichtlich menschlicher Existenz insgesamt.
Die politische Dimension des Sorgens
Diese feministische Korrektur am Sorgebegriff ist wichtig und richtig. Allerdings konzentrierten sich die Überlegungen der Sorgeethiker*innen lange Zeit vornehmlich auf Fragen der Moral oder der Ethik. Sie zielen daher nicht direkt auf die Sphäre des Politischen ab. Wenn überhaupt tritt diese nur vermittelt auf, etwa wenn der Kontraktualismus (insbesondere in seiner Rawls‘schen Ausprägung) einer Kritik unterzogen wird, weil er von Vornherein von unabhängigen und vertragsfähigen Subjekten ausgeht und Beziehungen der Sorge, Pflege und Abhängigkeit, durch welche die Vertragssubjekte überhaupt erst konstituiert werden, systematisch ausblendet (entsprechende Kritiken wurden etwa von Seyla Benhabib und Iris Marion Young formuliert). Demgegenüber gilt es, die Beziehungen der Sorge und Fürsorge systematisch in Hinblick auf ihre politische Dimension zu befragen. Erste Ansätze dazu finden sich etwa in einem Sammelband von Daniel Engster und Maurice Hamington, an die weiter anzuknüpfen wäre. Einem reduzierten Verständnis, in dem Sorgeverhältnisse dem Bereich des Privaten zugeordnet und damit a-politisiert werden, gilt es nämlich gerade zu begegnen.
Die Corona-Pandemie hat uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, welche fundamentale Bedeutung Sorge(arbeit) für das (solidarische) Zusammenleben in einem Gemeinwesen hat und wie ihre Prekarisierung und Kapitalisierung dieses gefährdet. Die politische Bedeutung von Sorge erschöpft sich dabei nicht in der Frage nach einer angemessenen Wertschätzung und Entlohnung von Sorgearbeit, sondern reicht darüber hinaus, insofern sie eine konstitutive Ermöglichungsbedingung für politisches Handeln darstellt. Sorge ist nicht einfach eine Grundlage der Politik, die selbst außerhalb dieser Sphäre verbleibt, sondern hat selbst einen politischen Charakter. Der politische Charakter der Sorge soll abschließend noch anhand von drei Thesen verdeutlicht werden. Erstens das zur Politik befähigende Moment der Sorge: Als Gleiche und Freie politisch handeln können wir nur, insofern wir durch Beziehungen der Sorge dazu befähigt werden – dies gilt nicht nur in den Grenzsituationen des Lebens, für Kinder, kranke und alte Menschen, sondern – wie etwa Butler herausgestellt hat – prinzipiell für alle. Als Konstitutionsmoment des Politischen können Sorgebeziehungen deshalb zweitens nicht aus politischen Gestaltungsprozessen ausgeklammert werden, sondern müssen selbst in der Neuaushandlung von Gleichheit und Freiheit thematisch werden und diese mit anleiten. Heideggers und Foucaults Verweis auf die problematische und unterwerfende bzw. machtförmige Seite von Sorgebeziehungen sollte dabei auch für einen politischen Sorgebegriff ernst genommen werden. Denn dieser muss der Tatsache Rechnung tragen, dass Sorgebeziehungen immer auch missbräuchlich sein können und in ihnen Vulnerabilitäten stabilisiert und Abhängigkeiten festgeschrieben werden. Ein Verständnis von Sorge als eminent politisches Phänomen kann so drittens als Chance begriffen werden, beschränkte und machtförmige ethische Sorgebeziehungen aufzubrechen und einer Revision zu unterwerfen. Eine wohlverstandene Politik der Sorge muss also dadurch gekennzeichnet sein, die konstitutive Rolle von relationaler Autonomie im stetigen Neuaushandeln von Gleichheit und Freiheit angemessen zu berücksichtigen, ohne deswegen in politischen Subjektivierungsprozessen Hierarchien zu etablieren zwischen denjenigen, die (gerade) mehr der Sorge bedürfen und denjenigen, die sorgend tätig sein können.
Regina Schidel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt ConTrust „Vertrauen im Konflikt“ an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und arbeitet dort zu einer kritischen Theorie epistemischen Vertrauens. In ihrer Dissertation hat sie sich mit ableistischen Ausschlüssen in der praktischen Philosophie beschäftigt.
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