ZPTh-Debatte: Replik auf Verena Frick

Ich freue mich sehr über die Auswahl meines Textes für das ZPTh-Debatten-Format und danke insbesondere Verena Frick für ihre Bereitschaft zur kritischen Lektüre und Kommentierung des Beitrags. Ihre Überlegungen und die gebotene Chance zur Replik eröffnen die Möglichkeit, einige Unklarheiten aufzuhellen und an manchen Stellen nachzujustieren, an denen der ursprüngliche Beitrag womöglich Missverständnisse provozierte.

In dieser Hinsicht erscheinen mir vor allem zwei Dinge klärungsbedürftig. Zum einen ist dies die von Frick angenommene Verkennung des „relationalen Charakters der Stadt“, die zu einer Ausblendung des Ausmaßes der „Verbindung zwischen Stadt und Staat“ führe. Hierbei liegt definitiv ein Missverständnis vor, das vermutlich meiner nur sehr knapp gehaltenen Abhandlung dieses Sachverhalts geschuldet ist. Aber dennoch: Mein Hinweis auf die Erforderlichkeit eines anspruchsvollen, auch skalar differenzierten Staatsverständnisses, wie es etwa Neil Brenner in Anschluss an Nicos Poulantzas entwickelt, versucht eben diese Eingebundenheit in umfassendere Zusammenhänge und die daraus resultierenden Restriktionen städtischer Handlungsspielräume in den Blick zu bekommen. Auch meine Verweise auf entsprechende Warnungen Manuel Castells’, David Harveys und Marc Purcells können als Distanzierungen von einem stadtpolitischen Voluntarismus interpretiert werden. Zugegebenermaßen aber könnte man diesen Sachverhalt noch stärker in den Fokus rücken, wie das unlängst etwa Norma Tiedemann in einem sehr umsichtigen Beitrag getan hat. Erste Bilanzen der spanischen ‚Rathauserstürmungen‘ können zudem als Bestätigung ihrer dort geäußerten Warnung vor übermäßig euphorischen Erwartungen gewertet werden, der ich mich nur anschließen kann. Davon unbenommen nehme ich den Lektürehinweis auf die Studie Ran Hirschls gerne an und harre ihrer Veröffentlichung, die vom Verlag derzeit für Juni 2020 terminiert ist.

Etwas diffiziler verhält es sich zum anderen mit dem von Frick attestierten „antistaatliche[n] Affekt“, den sie nicht nur den munizipalistischen Projekten selbst vorwirft, sondern auch in meinem Beitrag zu erkennen glaubt, weil die von mir eingeschlagene „widerstandstheoretische Route“ den Staat „traditionell“ und „ausschließlich als Gegner betrachte[t]“. Beides erscheint mir unzutreffend bzw. als zu undifferenziert. Während ich es in theoretischer wie empirischer Hinsicht ohnehin für unplausibel halte, Widerstand (und dessen Theoretisierungen) per se als anti-staatlich zu begreifen, wäre bei einer spezifischen Betrachtung der Munizipalismen zudem wohl eher die Rede von einem antinationalstaatlichen Affekt passend, ist doch die Stadt in ihrer hier interessierenden Gestalt als politische und Verwaltungseinheit selbst strukturell eine Manifestation der Staatsform – bzw. soll ihr diese Staatsförmigkeit in den Augen munizipalistischer Akteure explizit zukommen, etwa dort, wo autonom über die Zuerkennung (und dann wohl zwangsläufig auch: Verweigerung) von Stadtbürger*innenschaft entschieden wird oder haushalts- und steuerpolitische Ansprüche erhoben werden. Angesichts dessen müsste zumindest also die vermeintliche Antistaatlichkeit der munizipalistischen Projekte differenzierter betrachtet werden, da ansonsten in analytischer Hinsicht mehr verdeckt als erhellt zu werden droht.

Auf die von Frick insinuierte generelle Antistaatlichkeit widerstandstheoretischer Ansätze – in diesem Fall: meines Aufsatzes – komme ich gleich noch zurück, möchte zuvor aber noch einen anderen Aspekt ihrer Kritik in diesem Zusammenhang aufrufen, der ein gewisses Unbehagen bei mir auslöst. Problematisch an Fricks begrifflicher Rahmung finde ich nämlich auch die Titulierung der munizipalistischen Aktivismen als affektives Handeln. Nicht nur, weil damit einer höchst problematischen Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität das Wort geredet wird, sondern auch, weil – wie in meinem Artikel hervorgehoben – der ‚Entscheidung‘ für die Stadt als politischen Aktionsraum in der Regel durch und durch polit-strategische Abwägungen seitens der Akteure zugrunde liegen. Diese Abwägungen mögen verkehrt, verkürzt oder verblendet sein, aber in den Bereich des Affektiven sind sie damit nicht umstandslos und ohne weitere Begründung zu verbannen. Die in den munizipalistischen Projekten sicherlich nicht zu leugnende ‚Nationalstaatsvermeidungstendenz‘ als affektgeleitete Staatsphobie zu interpretieren, verkennt nicht nur die mitunter durchaus elaborierten Machtanalysen der betreffenden Akteure, sondern entmündigt sie im selben Zuge in einer durch und durch paternalistischen Weise.

Die Affektivitätsdiagnose scheint mir einem an realen politischen Vorgängen und Akteuren sowieso nur sekundär interessierten Stil politischen Denkens geschuldet zu sein, der seine vorrangige – und vielleicht ausschließliche – Aufgabe in der Konstruktion und Rechtfertigung normativer „Leitbilder“ identifiziert, die dann an die politischen Praktiker*innen zur Implementierung weitergegeben werden. Mit diesem Punkt verlässt die Replik freilich den Bereich derjenigen Aspekte, die mit Klarstellungen oder Präzisierungen meinerseits anzugehen sind, verweist doch die Hauptlinie der von Frick vorgebrachten Kritiken eher auf einen grundlegenden Dissens die Art und Weise betreffend, wie und mit welchem Anliegen politische Theorie zu betreiben ist. Nur so kann ich mir das nahezu durchgängige misreading meines Beitrags hinsichtlich des Status der Normativität erklären, das fraglos nicht in einem sachlichen Unverständnis, sondern vielmehr vermutlich in einem fundamental anderen Verständnis von politischer Theorie gründet.

Wenn Verena Frick bezweifelt, dass mein Vorgehen dazu geeignet ist, „normative Leitbilder für die propagierte gesellschaftliche Transformation zu entwickeln“, dann liegt das zwar zu allererst einmal daran, dass das in diesem Aufsatz erklärtermaßen auch gar nicht meine Absicht war. Keine normative Evaluation oder Präskription sollte erbracht werden, sondern zunächst einmal ‚nur‘ die munizipalistischen Bewegungen „widerstandstheoretisch als transnationale Widerstandspraxis zu deuten versucht werden“ (mein Beitrag, S. 30). Im Fokus stand also die sozialwissenschaftliche, theoriegeleitete und theoretisierende, sinnverstehende Analyse politischer Vorgänge, nicht eine normative Konstruktionsarbeit.

Hinzu kommt aber auch, dass dies nicht nur eine Frage dessen ist, worauf sich der Fokus in einem Aufsatz richtet oder – zum Beispiel aus Gründen des begrenzten Umfangs – richten kann, sondern ob eine politische Theorie, um meinerseits eine vielleicht schon etwas abgedroschene Dichotomie zu bedienen, eher als ideale oder nicht-ideale Theorie zu betreiben ist. Der von mir gewählte Zugang tendiert zu Letzterem und richtet sein Augenmerk insbesondere auf die realen Akteure und deren politisches Handeln, das es zu analysieren und zu beschreiben gilt. Die Normativität kommt dabei keinesfalls zu kurz und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist Normativität ja nicht nur in den universitären Büros beheimatet, sondern wird auch und insbesondere von politischen Akteuren im alltäglichen Geschehen ständig verhandelt. Wenn in den spanischen Städten über die Chancen, Risiken, Grenzen und Möglichkeiten von (Stadt)Bürger*innenschaft debattiert wird, steht dies den akademischen Debatten keineswegs grundsätzlich nach und manchmal sind die aktivistischen Debatten den akademischen sogar voraus, etwa wenn die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen in einem Positionspapier hochkomplexe eigentums- und demokratietheoretische Reflexionen mit Blick auf die Wohnraumfrage anstellt. Die dabei entstehende Normativität zu erschließen und zu analysieren scheint mir allemal das Interesse politischer Theoretiker*innen wert, auch ohne dabei mit fertig ausformulierten „Leitbildern“ und in Absehung von dieser konkreten Praxis auf den Plan zu treten. Zum anderen verpflichtet sich ein solcher Zugang ja auch keineswegs zu einer umfassenden normativen Enthaltsamkeit und Selbstbeschränkung auf dichte Beschreibungen, fühlt sich jedoch einem bescheideneren Auftreten des professionellen politischen Theoretikers verpflichtet, wie es etwa James Tully im Rahmen der von ihm propagierten Public Philosophy in a New Key vorgeschlagen hat.

Politische Theorie würde dann weniger darin bestehen, die politischen Akteure mit elaborierten „Leitbildern“ zu versorgen (die Nachfrage erscheint mir aber ohnehin eher begrenzt und die von Frick den Widerstandstheorien attestierte Selbstreferenzialität würde ich zumindest für die letzten Jahrzehnte vornehmlich im Feld der normativen Gerechtigkeitstheorien verorten). Sehr wohl aber könnte sie – sofern sie an einem dialogischen Austausch interessiert ist – auf Fallstricke und mögliche Blindstellen in den vor Ort (ganz gleich ob in der Stadt oder auf dem Land!) verhandelten Normativitätskonzepten und stets normativ imprägnierten Praktiken der ‚echten‘ Welt verweisen und dadurch am bürgerschaftlichen Diskurs mitwirken, ohne paternalistischen Verlockungen zu erliegen. Damit das gelingt, müsste sich die Profession aber erst einmal der lebensweltlichen Praktiken, Anliegen und Normativitäten annehmen und sich einen Reim auf sie zu machen versuchen. Nur dazu wollte mein Beitrag ein Angebot unterbreiten, weshalb mir auch die Behauptung seiner zumindest impliziten antistaatlichen Normativität ins Leere zu laufen scheint. Dass Frick diese in meinem Beitrag dennoch erkennt, dürfte folglich eher daran liegen, dass eine nicht-normativistische politische Theorie in ihrem Verständnis nicht vorgesehen ist, sie also eine Normativität auch dort erkennen muss, wo gar keine anzutreffen ist.

Vor dem Hintergrund meines Erkenntnisinteresses ist daher auch die von Frick aufgeworfene Frage nach der Mandatierung zweitrangig, ist man doch aus einer ‚nur‘ verstehen wollenden  Perspektive zunächst einmal schlicht damit konfrontiert, dass sich – demokratietheoretische Normativität hin oder her – eine stadtpolitische Bewegung selbst ermächtigt hat (d. h. für meine Beispiele wohlgemerkt: gewählt worden ist) und Politik zu gestalten versucht bzw. beansprucht. Fricks diesbezügliche Anmerkung erlaubt mir aber, mit einer weiteren Klarstellung aus dem Bereich der ‚einfachen‘ Interpretationsdifferenzen zu enden, die ja auch den Auftakt der Replik bildeten. Wenn Frick die Frage aufwirft, „wodurch die partikularen rebellischen Städte eigentlich das Mandat für die gesamtgesellschaftliche Transformation erhalten“, so wäre aus der von mir gewählten widerstandstheoretischen Perspektive (und womöglich nur aus dieser!) zu antworten: von niemanden. Sie brauchen es m. E. aber auch nicht, denn der (munizipalistisch-)präfigurative Ansatz setzt gerade nicht auf ein zwangsbewährtes, von oben programmierendes Transformationsverständnis, sondern auf den Vorbildcharakter der jeweiligen Praktiken, die aufgrund ihrer Vorbildhaftigkeit von anderen Akteuren an anderen Orten für nachahmenswert erachtet werden. Genau darin besteht der zwanglose Zwang der vorgelebten Praxis, den ich als Kern des präfigurativen Politikverständnisses hervorzuheben versucht habe. Er mag naiv sein, aber gewiss nicht mandatierungspflichtig.

Paul Sörensen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Augsburg. Derzeit forscht er zu ‚präfigurativer Politik‘ und zu demokratietheoretischen Fragen im Kontext von Gemeineigentum.