Lesenotiz: „Zeit der Prävention. Eine Genealogie“

Es ist zu einem gängigen Klischee geworden, die Probleme der Prävention durch Rekurs auf Science-Fiction Filme wie „Minority Report“ oder „Gattaca“ zu illustrieren. In einer fernen und irgendwie düster-ungemütlichen Zukunft sehen wir hier männliche Helden mit den Zumutungen konfrontiert, die von Regimen der gesundheitlichen bzw. kriminologischen Prävention ausgehen. Die präzisen Vorhersagen künftiger Ereignisse dienen mächtigen Institutionen dazu eine Tyrannei der Zukunft zu organisieren, in der das antizipierte Ereignis zur Ursache gegenwärtigen Handelns wird. Die Filme operieren – wie die Prognosetechniken, die sie zeigen – mit Zukunftsszenarien, um eben diese inszenierte Zukunft noch abzuwenden. Die Filme sollen einen kritischen Effekt bewirken, der die Hoffnungen auf die Tugenden der Prävention, mit ihren möglichen Nebenfolgen konfrontiert. Zugleich wiegen die Filme ihre Zuschauer_innen aber auch in der trügerischen Hoffnung, dass es sich eben um Science Fiction handelt; also eine Zukunft, die wenn sie überhaupt eintreten sollte, noch in weiter Ferne liegt. Damit verschleiern sie, dass Prävention bereits im Hier und Jetzt eine ungemein wirkmächtige Sicherheitstechnik geworden ist, die trotz ihrer kaum zu bestreitenden positiven Wirkungen, auch eine Reihe von negativen Folgen mit sich bringt. Mathias Leanzas 2017 im Velbrück Verlag erschienene Dissertationsschrift über die Geschichte insbesondere medizinischer Vorbeugungstechniken wechselt demgegenüber das Genre. Leanza veranschaulicht die Probleme der Prävention nicht durch Rückgriff auf Science Fiction, sondern auf deren historische Ursprünge und Verlaufsformen.

Der Titel der Arbeit ist klug gewählt: „Zeit der Prävention. Eine Genealogie“. Darin fasst sich zusammen, worum es dem Autor geht. Einerseits entwickelt er eine systematische Theorie über Vorbeugung als „kulturelle Zeitform“ (11), d.h. als eine spezifische Art und Weise die Zukunft zu vergegenwärtigen und in Bezug auf sie zu handeln. Andererseits beinhaltet die Arbeit eine historische These über die Herkunft der uns mittlerweile so selbstverständlich gewordenen Machttechnik der Prävention. In systematischer Hinsicht, so legt Leanza überaus luzide dar, ist Prävention ein Handeln in Bezug auf etwas Zukünftiges und damit Abwesendes, das dennoch zugleich die Gegenwart, also das je unmittelbar Anwesende, bestimmt. Die Prävention ist damit – und das ist bereits die Grundüberlegung von Leanzas historischer These – eine genuin moderne Zeitform, weil sie sich am „Erwartungshorizont“ und nicht mehr am „Erfahrungsraum“ (Koselleck) orientiert. Die Modernen erhoffen sich aber eben nicht bloß eine bessere Zukunft – als Fortschritt, planvolle Gestaltung oder revolutionäre Umgestaltung –, sondern befürchten auch allerlei Bedrohungen, die eben durch Prävention aufgehalten werden sollen.

Welche Formen diese Befürchtung und damit auch die präventiven Gegenmittel im Verlauf der (westlichen) Moderne angenommen haben, zeigt Leanza eindrucksvoll, detailliert, aber niemals langatmig im Hauptteil des Buches. In der Aufklärung entwickelt sich eine neue medizinische Selbstsorge, die Elemente der antiken Diätetik aufnimmt. Parallel dazu entsteht in der frühen Neuzeit eine „polizeyliche“ Vorsorge, die versucht, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens strengstens zu überwachen und in präventiver Absicht zu reglementieren. Allerdings wurde der Wille zur Prävention während der Aufklärung keineswegs unwidersprochen akzeptiert. Leanza zeigt die Probleme der aufklärerischen Prävention durch Bezug auf historische Quellen, die zum einen die Hypochondrie als Nebenfolge der medizinischen Selbstsorge aufs Korn genommen haben und zum anderen die polizeiliche Vorsorge als „Vielregiererei“ kritisiert haben. Leanza macht es sich also nicht leicht, indem er bloß aus einer externen Warte die Paradoxien und Pathologien der Vorsorge kritisiert, sondern geht die sprichwörtliche Zusatzmeile und zeigt, wie Prävention bereits in ihren Anfängen in Frage gestellt wurde.

Im nächsten Schritt behandelt Leanza die Wirksamkeit von Präventionsdispositiven im Zuge der Entstehung der modernen Biopolitik im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei behandelt er drei Brennpunkte präventiver Sorge: ansteckende Krankheiten, denen mit hygienischen und immunologischen Mitteln auf den mikrobiellen Leib gerückt werden sollte; Armut, die durch wohlfahrtsstaatliche Mittel bekämpft wurde und schließlich Vererbung, die allerlei eugenische Techniken auf den Plan gerufen hat. Leanza zeigt überzeugend, dass in all diesen Bereichen präventive Techniken immer sowohl auf den Individualkörper als auch auf die Bevölkerung bezogen waren (die zwei Pole der Biopolitik laut Foucault). Damit kann er die häufig in der Forschungsliteratur aufgestellte Behauptung korrigieren (etwa Nikolas Rose in „Politics of Life Itself“, Princeton 2006), dass es erst seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem Übergang von kollektiver zu individueller Prävention gekommen ist.

Im letzten Teil des Buches behandelt Leanza dann Formen und Funktionen der Prävention seit dem Zweiten Weltkrieg. Als allgemeine epistemische Verschiebung diagnostiziert er hier das Aufkommen des Systemdenkens, das es erlaubte, eine gemeinsame Sprache für Pathologien in allerlei Sachbereichen zu entwickeln. Allerdings geht es Leanza auch hier vornehmlich um die Entwicklungen im Bereich der humanmedizinischen Prävention. Auf dieser Ebene zeigen sich dann eine Reihe von Kontinuitäten zur vorhergehenden Präventionsepoche. Immer noch sind ansteckende Krankheiten – nunmehr AIDS und die neuen „emerging infectious diseases“ – ein zentrales Feld von Präventionskampagnen der „new public health“. Durch Fortschritte in der Humangenetik sind neue Formen der Prävention auf der Ebene des „Lebens selbst“ (Nikolas Rose, s. o.) möglich geworden, die auf die ein oder andere Weise die Eugenik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fortsetzen. Aber auch neue stressassoziierte Zivilisationskrankheiten beschäftigen Mediziner_innen und Patient_innen in ihren Präventionsbemühungen zunehmend.

Diese historisch-genealogische Darstellung der Prävention ist die große Stärke des Buches. Wie der Zeitform der Prävention gelingt es auch der Genealogie, die „Metaphysik der Präsenz“ in Frage zu stellen. Hier allerdings gleichsam aus der umgekehrten Richtung: nicht die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit als Geschichte dieser Zukünftigkeit prägt unsere Gegenwart. Das etabliert eine reflexive Distanz, die es nicht nur erlaubt – wie Leanza bemerkt –, in kritischer Perspektive die Selbstverständlichkeit von Präventionspraktiken in Frage zu stellen. Zudem hat das genealogische Vorgehen einen wichtigen heuristischen Wert, weil es so möglich wird, sich nicht seinerseits in den Zukunftsphantasien und Hypes gegenwärtiger Präventionstechniken und -hoffnungen zu verfangen. Es ist eben nicht das x-ste Buch zu präventivem self-tracking und wird, gerade weil es sich von der Unmittelbarkeit der Gegenwart ein Stück weit distanziert, gewiss eine weitaus längere Halbwertszeit haben. Selbst die von mir im folgenden monierten Punkte beinträchtigen diese Stärken nicht, sondern weisen eher auf andere theoretische und interpretative Akzente hin.

Leanzas historisches Vorgehen ist zum einen ganz offensichtlich an Michel Foucaults Genealogie orientiert. Immer wieder blitzt aber auch Leanzas exzellentes Verständnis der Luhmannschen Systemtheorie durch, so dass seine Darstellung durchaus Elemente einer historischen Semantikanalyse hat. In den meisten Fällen ist diese Verbindung von Genealogie und Semantikanalyse sehr gelungen und liefert für beide Ansätze einen deutlichen Mehrwert. Allerdings kommt die Integration der systemtheoretischen Perspektive in die Genealogie auch zu einem Preis. Das wird besonders deutlich, wenn Leanza mit Luhmann die aufklärerische Regierungskritik als Reflex der zur gleichen Zeit sich vollziehenden sozialen Differenzierung beschreibt (92). Aus Foucault’scher Perspektive müsste man wohl eher umgekehrt argumentieren, dass die Kritik ein Operator des Differenzierungsgeschehens war. Man würde also die Performativität von Praktiken der Kritik betonen und sie nicht bloß, wie Luhmann, als Hintergrundrauschen eines sich ohnehin vollziehenden Wandels der Sozialstruktur beschreiben. Die liberalen Aufklärer_innen haben etwa – wie schon Polanyi bemerkt hat – die Integrität einer wirtschaftlichen Marktsphäre gegenüber Interventionen der Regierung bereits zu einem Zeitpunkt eingefordert, als es diesen Markt noch gar nicht gab. Erst in der Folge dieser wirtschaftsliberalen Kritik an staatlichen Interventionen in das ökonomische Geschehen ist der „freie Markt“ dann durch massiven staatlich-institutionellen Aufwand erzeugt worden.

Dadurch, dass Leanza selbst einen starken Begriff von Prävention etabliert (s.o.), kann er eine ganze Reihe unterschiedlicher Sicherheits- und Gesundheitspraktiken unter diesem Begriff versammeln und so ein sehr umfassendes Bild der Tiefe und Reichweite des Präventiven in der Moderne vermitteln. Allerdings werden dadurch bisweilen die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Spielarten des Vorbeugens und des sichernden Zukunftshandelns etwas undeutlich. So geht Leanza durchaus auf das Leitbild der Resilienz in der Stressforschung (230ff.) und die Rationalität der Vorbereitung (preparedness) in der Pandemieplanung (261ff.) ein, verbucht aber beides als Prävention, weil in Bezug auf eine mögliche Zukunft in der Gegenwart gehandelt wird – es werden Vorbereitungsmaßnahmen getroffen und es wird versucht, die Resilienz zu steigern. Das ist zwar durchaus ein legitimes Argument. Aber es sei angemerkt, dass es doch einen beträchtlichen Unterschied macht, ob man auf einer klaren Wissensgrundlage aufbauend glaubt, Maßnahmen zur Vermeidung des zukünftigen Übels treffen zu können, oder ob man lediglich hofft das Schlimmste – von dem man noch nicht einmal weiß, was es genau sein könnte – zu überstehen. In dieser Hinsicht lässt sich zumindest die Frage stellen, ob Prävention nicht eine allzu moderne Zeitform ist, die immer noch der Hoffnung weitgehender Gefahrenlosigkeit nachhängt. Demgegenüber zeichnet sich in der Gegenwart ein Übergang zu einer post-modernen bzw. reflexiv-modernen Haltung ab. Ein Indikator dafür sind die sich häufenden Eingeständnisse, dass es „keine  hundertprozentige Sicherheit“ gebe. Aber diese Frage wird die zukünftige Zukunft klären und die ist – trotz aller präventiven Bemühungen – immer noch offen. Wer mehr über die Vergangenheit und Geschichte der Zukunft erfahren möchte, der ist mit Leanzas „Zeit der Prävention“ bestens versorgt.

 

Andreas Folkers ist Post-Doc am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen (Lehrstuhl für Allgemeinen Gesellschaftsvergleich) und (gemeinsam mit Sven Opitz) PI des Forschungsprojekts „Symbiotische Kollektive“. Seine Arbeit erschien in Zeitschriften wie Theory, Culture & Society, Economy and Society und EPD: Society and Space. 2018 ist sein Buch „Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme“ im Campus-Verlag erschienen.