In unserer Debatte um den Begriff der Sorge rückt – nach Beiträgen zu einer Politik der Sorge, zu Sorgeverhältnissen im Sozialstaat sowie zur Sorge um die Seele – heute die Idee der Selbstsorge aus neuphänomenologischer Perspektive in den Blick.
Insbesondere die Anfangszeit der Corona-Pandemie lässt sich mit Hilfe der Neuen Phänomenologie gerechtigkeitstheoretisch fruchtbar aufschlüsseln. Mittels dieser Perspektivierung zeigen sich die Solidaritätsbekundungen mit Supermarktangestellten und Pflegekräften, wie sie im Frühjahr 2020 allenthalben zu beobachten waren, als das Ergebnis eines Realexperimentes im Sinne John Rawls. Denn während die beklagten Verhältnisse bereits lange bekannt waren, legte die mögliche Ansteckung mit SARS-Cov-2 einen pandemischen Schleier des Nichtwissens über die Gesellschaft. Nun konnte sich letztlich niemand mehr sicher sein, ob er oder sie es nicht am Ende selbst sei, der oder die die gesellschaftspolitischen Missstände am eigenen Leib zu spüren bekommt (vgl. hierzu auch Schulz 2020).
Triebkraft dieser gleichsam im Affekt gewonnenen Einsicht war die für „aufgeklärte“ Subjekte unangenehme, ja beinahe beschämende Erkenntnis, dass wir existenziell auf das Versorgtwerden durch andere angewiesen sind. Zwar bestimmt diese Tatsache vom Säuglingsalter durch Phasen der Krankheit und des Alterns unser gesamtes Leben, jedoch neigen wir in westlichen Gesellschaften offenkundig dazu, diesen Aspekt zugunsten individualistischer Autonomieversprechen beiseite zu drängen. Im Angesicht der Pandemie machte sich schließlich jedoch dasjenige breit, was ich im Folgenden als universelle Sorge des Nichtversorgtwerdens bezeichnen möchte. Da diese Sorge eng mit den institutionellen Missständen gesellschaftlicher Eingerichtetheit verbunden war, offenbarte sie ihren gerechtigkeitstheoretisch relevanten Kern.
Indem ich diese Konstellation mit Hilfe der Neuen Phänomenologie analytisch ausdifferenziere, kann insbesondere dem prominent von Jürgen Habermas (1997: 169 ff.) gegen das rawlssche Modell geäußerten Einwand einer Gerechtigkeitsexpertokratie begegnet werden. Denn wie zu zeigen sein wird, kann eine solche Perspektivierung dazu beitragen, die Überlegungen Rawls‘ aus den intellektuellen Höhenflügen abstrakter Gedankenexperimente herauszuholen und auf den Boden eigenleiblicher Empirie zu stellen.
Das subjektive Sichsorgen als gerechtigkeitstheoretische Voraussetzung
John Rawls (1979) entwirft bekanntermaßen mit seinem Konzept des Urzustandes eine idealtypische Situation, aus welcher sich entlang vertragstheoretischer Erwägungen Prinzipien für eine gerechte Gesellschaft ableiten lassen. Die grundlegende Frage lautet, welchen Regeln und Institutionen man zustimmen würde, wenn den Individuen die je eigene soziale Position in der realen Welt unbekannt wäre. Legt man diesen sogenannten „Schleier des Nichtwissens“ (ebd.: 159 ff.) als Gedankenexperiment über die Bevölkerung, so würde man, Rawls‘ Modellierung zufolge, entlang vernünftiger Erwägungen zu einer gerechten Grundverfasstheit der Gesellschaft kommen.
Otfried Höffe (1987: 48) weist in diesem Zusammenhang nun jedoch auf die problematische Konstellation hin, dass wir es im Urzustand mit einem Eigeninteresse zu tun haben, dem „alle Kenntnisse vom Eigenen, nämlich jegliches Wissen über die persönliche und die gesellschaftlich-geschichtliche Situation“ fehlt. Daher hebt Höffe treffend hervor, dass es sich bei der Unparteilichkeit um einem zweidimensionalen Begriff handelt. Denn er besteht paradoxerweise „aus (1) der Parteilichkeit, der (2) all die Informationen mangeln, die eine Parteilichkeit ermöglichen“. Anders formuliert: wenn von allen individuellen Interessen, die sich ja erst aus der konkret gesellschaftlichen Stellung ergeben, abstrahiert wird, dann bleibt die Frage, was die Menschen im Urzustand bewegt, überhaupt einen Vertrag zu schließen?
Indem Rawls (z. B. 1979: 28; 83) in diesem Zusammenhang annimmt, dass jeder Mensch stets durch die Verfolgung eigener Absichten bzw. die Sorge um deren (Un-)Möglichkeit charakterisiert ist, geht er davon aus, dass wir jenseits aller sozialen Positioniertheit vernünftigerweise eine Art universelles Grundbedürfnis unterstellen können. Es besteht in der Gewährleistung eines Mindestmaßes an institutioneller Abgesichertheit. Nun ergibt sich jedoch aus dem rein theoretischen Charakter des rawlsschen Ansatzes, dass die angenommenen Grundbedürfnisse, Rawls spricht von „Grundgütern“ (ebd.: 112) recht abstrakt bleiben. So hebt er insbesondere „Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“ (ebd.) hervor und übersieht dabei, dass jeder Mensch innerhalb des subjektiven Lebenszyklus auf soziale Fürsorge angewiesen ist. Um überhaupt (innerhalb einer begrenzten Zeitspanne des eigenen Daseins) individuellen Absichten nachgehen zu können, bedarf es in allererster Linie des Versorgtwerdens durch Andere.
Es lassen sich entlang dieser Perspektivierung also zwei Sphären des Sichsorgens unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es das individuelle, weil an die jeweilige soziale Position gekoppelte Sichsorgen um die Verfolgung eigener Ziele. Dem vorgelagert ist eine universelle Sorge, namentlich diejenige um die (Un-)Möglichkeit, den individuell höchst verschiedenen Absichten überhaupt nachgehen zu können. Derart ausdifferenziert zeigt sich deutlich, dass es enorm hilfreich ist, analytisch zwischen „subjektiv“ und „individuell“ zu unterscheiden. Besonders deutlich zeigt sich dies an der einleitend erwähnten Sorge um das Nichtversorgtwerden, wie sie sich durch den pandemischen Schleier unwillkürlich aufdrängte. Denn die Angewiesenheit auf Andere wird in den jeweiligen Situationen stets subjektiv erfahren, ist jedoch aufgrund der Unabhängigkeit von der gesellschaftlichen Stellung des betroffenen Menschen keineswegs individuell. Sie ist subjektiv und universell zugleich.
Selbstsein zwischen Subjektivität und Individualität
Aus dieser Perspektivierung der rawlsschen Denkfigur ergibt sich schließlich ein subjekttheoretischer Spalt, namentlich derjenige zwischen dem individuellen und dem subjektiven Sichsorgen, der mit Hilfe der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz analytisch ausgeleuchtet werden kann. So differenziert Schmitz (z. B. 2011) das subjektive Selbstsein entlang phänomenologischer Untersuchungen nach zwei Sphären – er spricht von strikter und von positionaler Subjektivität. Die strikte Subjektivität bezeichnet dasjenige, was mir im eigenleiblichen Spüren unwillkürlich widerfährt und das höchstens eine Person im eigenen Namen aussagen kann (Hunger, Müdigkeit, Angst, Freude etc.). Mit diesem leiblich affektiven Betroffensein geht ein spürbares und unverwechselbares Selbstsein einher, dass sich, wie nicht zuletzt auch entwicklungspsychologische Studien (Fuchs 2000: 19f.) zeigen, vom Säuglingsalter an durch unser gesamtes waches Erleben zieht.
Ausgehend von dieser in jedem Augenblick widerfahrenden Sphäre des spürbaren Selbstseins bilden wir neophänomenologisch betrachtet schließlich eine positionale Subjektivität aus. Das bedeutet, dass wir lernen, uns durch unser Denken von der eigenleiblichen Befangenheit zu emanzipieren. Kern dieser Emanzipationsbewegung ist die Entfaltung eines Geflechtes von Selbst- und Fremdzuschreibungen, die im Laufe des Erwachsenwerdens dazu beitragen, sich im sozialen Kosmos zu positionieren. Indem wir lernen, uns Attribute wie Name, Alter, Nationalität, Geschlecht usw. zuzuschreiben, uns mit ihnen und diese mit uns zu identifizieren, bilden wir durch soziale Interaktionen eine (nicht selten repressiv wirkende) Identität im Sinne George Herbert Meads (2017) aus. Diese positionale Subjektivität ist dabei gleichermaßen individuell, wie sie aufgrund der zur Verfügung stehenden Kategorien natürlich in hohem Maße gesellschaftlich vermittelt ist.
Kurz heruntergebrochen können diese beiden Sphären des Selbstseins neophänomenologisch schließlich nach Wer (strikte Subjektivität) und Was (positionale Subjektivität) unterschieden werden: Wer im eigenleiblichen Spüren betroffen ist, ist jenseits aller sozialen Relationierung völlig klar. Was dieses Wer im gesellschaftlich stratifikatorischen Sinne ist, wohlsituierte Managerin oder niedrig bezahlte Pflegekraft, ist dahingegen unabdingbar mit der gesellschaftlichen Position verflochten und bestimmt letztlich die individuellen Interessen. So zeigt sich, dass wir es bei der strikten Subjektivität des eigenleiblichen Spürens mit einer Sphäre zu tun haben, die den gerechtigkeitstheoretischen Anforderungen der rawlsschen Modellierung entspricht.
Eigenleibliches Spüren als unparteiische Parteinahme
Während wir so betrachtet im rawlsschen Experiment das Was des Selbstseins zugunsten einer unparteiischen Stellungnahme abschütteln müssen, spielt das Wer im Sinne der strikten Subjektivität dabei eine zentrale Rolle. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist es natürlich entscheidend, dass die entsprechenden Personen, die als Maß für eine gerechte Gesellschaft adressiert werden, von sich als existierende Entitäten wissen und eben deshalb von der Grundproblematik konkret betroffen sind. Anderenfalls gäbe es niemanden, der oder die sich Sorgen machen würde, dass die zu gestaltenden Strukturen zu Benachteiligungen führen könnten. Nur durch das eigenleibliche Betroffensein ist überhaupt erklärbar, wie eine sonst paradox erscheinende Konstellation der unparteiischen Parteinahme vorstellbar sein sollte (s. o. den Einwand von Otfried Höffe).
Das zweite Argument, wieso es für die Gerechtigkeitstheorie von Rawls unbedingt ein Verständnis von strikter Subjektivität braucht, hängt mit der Unausweichlichkeit des eigenleiblichen Spürens zusammen. Denn natürlich funktioniert das Experiment überhaupt nicht, wenn man nach dem Lüften des Schleiers frei wählen könnte, wer von all den Selbsten man gerne sein möchte. Im Gegenteil – dies würde das Experiment ad absurdum führen. Im Spannungsfeld des Wer und des Was des subjektiven Selbstseins kann das Nichtwissen, um gerechtigkeitstheoretisch von Relevanz zu sein, nur eine von beiden Seiten verhüllen.
Indem sich im Frühjahr 2020 der pandemische Schleier des Nichtwissens über die Bevölkerung legte, wurden wir so betrachtet auf die gleichermaßen strikt subjektive wie universelle Sorge um das Nichtversorgtwerden reduziert. Für einen kurzen Augenblick wurden wir aus dem sozial ausdifferenzierten Positioniertheiten herausgerissen und auf den Boden eigenleiblicher Tatsachen verwiesen. Eben jene Sphäre affektiven Betroffenseins war es, die uns die unparteiische Parteinahme für die möglichst bedingungslose Existenzsicherung ergreifen ließ.
Fazit
Wie gezeigt stellt die strikte Subjektivität im Sinne des leiblich affektiven Betroffenseins eine notwendige Voraussetzung für die normative Fundierung gerechter Verhältnisse nach Rawls dar. Ohne das eigenleibliche Spüren bleibt die unparteiische Parteinahme für oder gegen eine bestimmte institutionelle Eingerichtetheit sozialer Verhältnisse nicht nur paradox, sondern auch bloß graue Theorie. Reformuliert man stattdessen die Überlegungen John Rawls‘ mit Hilfe der Neuen Phänomenologie, so wird die Frage nach gesellschaftspolitischen (Um-)Gestaltungen nicht nur auf ein empirisches Fundament gestellt, sondern auch vor expertokratischer Borniertheit bewahrt. Nicht zuletzt das Frühjahr 2020 hat gezeigt, dass wir im eigenleiblichen Betroffensein alle miteinander normativ Richtende über die institutionelle Verfasstheit unserer Gesellschaft sind. Wie das Realexperiment der Pandemie uns spürbar deutlich gemacht hat, kann die universelle, weil existenzielle Sorge des Nichtversorgtwerdens, eine wirksame Triebkraft für die Implementierung einer Daseinsvorsorge sein, die ihren Namen verdient.
Manuel Schulz hat im Oktober 2021 seine Dissertationsschrift am Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht. Seine Forschungsschwerpunkte sind zeitsoziologische Gesellschaftstheorie, Leib- und Existenzphilosophie sowie die sich aus diesen Perspektiven ergebende Kritik an wirtschaftswissenschaftlichen Grundannahmen.
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